Читать книгу Erdenkinder - Günter Neuwirth - Страница 12
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ОглавлениеWenn die Müdigkeit das Einzige ist, was einen wach hält, wird jedes Gespräch zu einer Tortur, wird jede gesellschaftskonforme Höflichkeit zu einer Höllenqual, wird jedes zwischenmenschliche Wort zu einem Peitschenschlag auf den nackten Rücken.
„ … muss ich wirklich sagen, dass wir durch die klare Abgrenzung von Verantwortungsbereichen im Projektmanagement eine sehr solide Basis für die Meilensteine der Abwicklung gefunden haben. Also, ich bin zuversichtlich, dass der Verlauf eine positive Richtung nimmt. Und was unsere Software leistet, habe ich Ihnen demonstriert, Ihre Workflows werden damit effizient unterstützt, so dass …“
Worthülsen, die aus irgendeinem Repertoire gezogen und in beliebiger Form repliziert wurden. In einer Verfassung wie seiner war es gleichsam die einzige Überlebensmöglichkeit auf solche Repertoires zurückgreifen zu können. Robert Wieser hatte keine Ahnung, wie lange sich die Abschiedsprozedur nun schon hinzog. Am Nachmittag war die Gesprächsrunde geschrumpft, der Direktor und sein Stellvertreter hatten sich nach einer Stunde, wie sie formuliert hatten, aus dem Meeting ausgeklinkt, und Robert war mit dem Supplymanager und dessen Mitarbeiter im Konferenzraum verblieben, um die letzten offenen Punkte zu besprechen.
Die drei Männer in Anzügen standen beieinander, sie hatten ihre Unterlagen schon eingepackt, hielten ihre Taschen reisebereit in den Händen, wollten alle schon den kurzen Feierabend antreten und kauten doch noch immer Themen durch, die an diesem langen Arbeitstag schon mehrfach abgehandelt worden waren. Erst als der Supplymanager des Kohlekraftwerks Dürnfeld unmissverständlich auf seine Uhr blickte, war das Signal zum Aufbruch gegeben. Robert räusperte sich, seine Stimmbänder waren von der endlosen Diskussion angegriffen, und er reichte dem Mann die Hand.
„Also, auf Wiedersehen, Herr …“
Panik flammte auf. Da war er von neun Uhr morgens bis halb sechs Uhr abends mit dem Mann beisammen gesessen und hatte geredet und geredet, und jetzt war ihm der Name plötzlich entfallen. Robert versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
„ … Herr Magister.“
„Auf Wiedersehen, Herr Ingenieur.“
Robert reichte auch dem erschöpft wirkenden Mitarbeiter des Supplymanagers die Hand. Die drei Männer verließen den Konferenzraum, die beiden Mitarbeiter des Kraftwerkes begleiteten Robert bis vor die Tür auf den Parkplatz. Robert schnappte nach Luft. Es war angenehm warm, aber die Luftfeuchtigkeit war außerordentlich hoch. Wasserpfützen standen auf dem Parkplatz.
„Na, Gott sei Dank hat der Regen wieder aufgehört“, sagte Magister Reicher.
Robert war irritiert. Hatte es geregnet? Er wusste es nicht, er hatte es gar nicht bemerkt, er war viel zu sehr beschäftigt gewesen, seine Vitalfunktionen mit Routine und Verbissenheit aufrecht zu erhalten.
„Bei dem Regenguss werden unsere Ökofuzzis ganz schön geduscht worden sein“, witzelte Reicher, woraufhin sein Mitarbeiter ein bemühtes und doch irgendwie schadenfreudiges Lächeln aufsetzte.
Robert verstand gar nichts. Hatte er irgendetwas im Gespräch verpasst? Was meinte der Mann mit Ökofuzzis? Reicher interpretierte Roberts Miene offenbar richtig, denn er zeigte hinüber zu den Wiesen und Feldern.
„Dort stehen sie, unerschütterlich auch im Regen. Tja, Kohle dürfen wir nicht verheizen, aber der Strom soll schon aus der Steckdose kommen.“ Jetzt lachte auch Robert, denn er konnte sich dunkel erinnern, dass heute früh, als er mit dem Auto auf das Kraftwerk zugefahren war, ein paar verirrte Leute mit Stopp-dem-Klimawandel-Transparenten neben der Straße gestanden hatten.
„Na, dann wünsche ich noch eine gute Fahrt“, sagte Magister Reicher und reichte Robert erneut die Hand. Hörte das denn niemals auf?
Nach weiteren unendlichen Mühen gelang es Robert die Sicherheitskontrollen hinter sich zu lassen und mit dem Auto langsam über die Landstraße zu fahren. Er öffnete die Fenster und schnappte nach der hereinströmenden Luft. Ein Blick in den Rückspiegel versicherte ihm, dass er das Kraftwerksareal wirklich hinter sich gelassen hatte. Robert lenkte den Wagen, ohne tatsächlich auf den Straßenverlauf zu achten, aber mit untrüglicher Routine auf den Wald zu. Sein Tempo war höchstens gemächlich, auf der Autobahn würde er den Wagen schon noch laufen lassen. Robert hatte Kopfschmerzen, sein Hals kratzte, ihm war übel und doch war er erleichtert. Das Geschäft war unter Dach und Fach, er hatte sich wieder einmal über die Ziellinie gerettet. Wie oft noch? Wie lange noch?