Читать книгу Erdenkinder - Günter Neuwirth - Страница 8
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ОглавлениеChristinas Blick glitt immer wieder über die Oberfläche des schnell strömenden Wassers der Enns. Sie atmete tief, regelmäßig, die letzten paar Meter mobilisierte sie noch einmal ihre Kräfte, erhöhte das Tempo, holte zu weiten Laufschritten aus. Die Regenfälle der letzten Woche hatten die Enns anschwellen lassen, weitere ergiebige Güsse und der Fluss würde über die Ufer treten. Sie trat zu einem Schlusssprint an, erreichte das Ziel und stoppte den Lauf. Christina schüttelte ihre Glieder und machte ein paar Dehnungsübungen, ihr Atemrhythmus beruhigte sich, das verlässliche Glücksgefühl nach einem Lauf breitete sich in ihr aus. Das bräunliche, trübe Wasser der Enns vermischte sich mit dem grünlichen Wasser der Steyr, eine Weile schaute sie dem Tosen der ineinander fließenden Flüsse zu. Sie hatte schon als Kind, als sie mit ihren Eltern manchmal eine alte Tante in der Stadt Steyr besucht hatte, diese bestimmendste aller Charakteristiken der Stadt geliebt. Fließendes Wasser hatte immer eine Faszination auf sie ausgeübt, Quellen, Bäche, kleine Flüsse, immerzu hatte sie in ihrer Kindheit bei den Ausflügen mit den Eltern danach gesucht und war kaum vom Spielen an den Ufern wieder wegzubringen gewesen. Und nun wohnte sie in dieser Stadt an der wasserreichen Enns und der kristallklaren Steyr, diesen Flüssen, die in erdgeschichtlicher Verlässlichkeit die Wassermassen aus den Bergen in das Flachland trugen, und die hier, in Sichtweite vom Fenster ihrer Küche, ineinander flossen.
Christina drehte sich um und trabte gemächlich die Gassen empor, zog den Schlüssel aus der Tasche ihrer Jogginghose und verschwand in dem Neubau, in dessen drittem Stock ihre Wohnung lag. Seit sechs Jahren wohnte sie nahe der Enns, in dieser Zeit war das Haus noch nicht von den wiederkehrenden Hochwassern betroffen gewesen. Drüben in der Altstadt, am anderen Ufer der Enns, liefen immer wieder Keller voll, ihr Keller war bislang trocken geblieben.
Christina schlüpfte aus den Laufschuhen und der Sportbluse. Die Wohnung war groß, breite Fenster in der Dachschräge öffneten sich dem Licht, die luftigen Zimmer offerierten Wünschen nach Komfort breiten Raum, ihr Mann hatte ihr bei der Einrichtung alle Freiheiten gewährt, hätte keine Kosten und Mühen gescheut, doch sie hatte sich für weiße Wände und schlichte Möbel aus hellem Ahorn- und Fichtenholz entschieden.
Christina hob den kleinen Zettel vom Wohnzimmertisch und las die zwei Zeilen, die Wilhelm in seiner krakeligen, immer etwas hastig gesetzten Schrift hinterlassen hatte. Sie lächelte und legte den Zettel wieder auf den Tisch. Christina entledigte sich nun auch der Hose und stieg in die Dusche. Wie zuvor besprochen war Wilhelm aufgebrochen, als sie beim Laufen gewesen war. Er würde wieder einmal eine Woche unterwegs sein, zuerst geschäftliche Termine in Deutschland und danach in Dänemark wahrnehmen, würde versuchen, für sein Unternehmen neue Aufträge an Land zu ziehen und er würde gewiss wieder erfolgreich sein. Wilhelms Firma war in den letzten Jahren zwar langsam, aber beständig gewachsen. Sie hatte einen ebenso kultivierten, wie wohlhabenden Mann geheiratet. Und er hatte sie nie vereinnahmen wollen, hatte ihr ganz selbstverständlich Freiheiten gewährt, hatte sie nie bedrängt, ihren Beruf aufzugeben und in seine Firma einzusteigen. Verlässlichkeit und Freiheit, das waren bislang die tragenden Säulen ihrer nunmehr seit sechs Jahren bestehenden Ehe gewesen. Es gab keinen Grund zur Annahme, dass sich dies in Zukunft ändern würde. Wilhelm hatte einen jugendlichen Sohn aus seiner ersten Ehe, mit dem er sich ausgezeichnet verstand. Christinas Mann war nicht unbedingt ein graumelierter Beau, aber er war schlank und für seine einundfünfzig Jahre sehr sportlich. Beim Sport hatten sie sich auch kennengelernt. Sich an einen um vierzehn Jahre älteren Mann zu binden, der seine Sturm-und-Drang-Jahre hinter sich hatte, brachte in Christinas Augen gewisse Vorteile.
Nach der Dusche wählte Christina die Kleidung für den Arbeitstag, der für sie heute erst am frühen Nachmittag beginnen würde. Bedächtig tippte sie die Geheimnummer in den Wandtresor, die Riegel öffneten sich klackend, sie zog die Tür auf und entnahm die Pistole. Mit geübten Griffen kontrollierte sie die Ladung und Sicherung der Waffe und steckte sie schließlich in das Hüfthalfter. Eine bequeme Sommerjacke verdeckte Waffe und Halfter.
Christina blickte auf die Anzeige ihres Handys. Ein wenig Zeit bis zum Dienstantritt blieb noch, sie würde also in der Orangerie im Schlosspark noch eine Tasse Kaffee nehmen können. Das Wetter sprach unbedingt dafür.