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Robert beugte sich nach vorn und öffnete das Handschuhfach. Darin befanden sich eine Menge CDs und er suchte nach der passenden Geräuschkulisse für die nächsten zwei Stunden Autofahrt. Er hielt seinen Musikgeschmack für nicht besonders erlesen, er hörte so ziemlich alles, was gerade irgendwie modern war, am liebsten waren ihm aber die alten Schlager aus seiner Jugendzeit, die flotten Popsongs der Achtzigerjahre, als die Welt noch spannend, die Musik tanzbar und das Leben noch voller Überraschungen war. Robert ächzte. Wo war die CD von ABBA, er konnte sie nicht finden, hatte er sie am Ende beim letzten Autoputz in der Garage liegen lassen? ABBA war seine Lieblingsgruppe. Obwohl er die Songs dieser Band schon tausende Male gehört hatte, schob er bei längeren Autofahrten die CD immer wieder gerne ein. Robert fluchte vor sich hin und kramte im Handschuhfach, das Auto mit mäßigem Tempo durch das Waldstückchen lenkend.

Ein dumpfer Schlag.

Robert sah, wie ein Körper in den Straßengraben geschleudert wurde. Mit einem Mal rumorte Adrenalin in seinen Adern, er trat voll auf die Bremse, wurde in den Sicherheitsgurt geworfen. Das Auto kam nach wenigen Metern zum Stillstand, schwer atmend klammerte er sich mit beiden Händen an das Lenkrad. Er versuchte sich die Sinneseindrücke der letzten Augenblicke zu vergegenwärtigen, versuchte herauszubekommen, ob er einer Täuschung, einem Tagtraum, einem Wahnbild zu Opfer gefallen war. Nein, alles war so real, restlos von Wirklichkeit durchdrungen. Er hatte sich zum Handschuhfach hinübergebeugt, hatte nicht auf die Fahrbahn geachtet, war nicht vom Gaspedal gestiegen, das Auto war zu weit an den Straßenrand geraten, so hatte er einen Fußgänger touchiert und in den Straßengraben gestoßen. Robert fingerte hektisch am Sicherheitsgurt, zog den Autoschlüssel ab und warf die Autotüre auf.

„Ist Ihnen etwas passiert? Sind Sie verletzt?“, rief er der im Straßengraben sitzenden Person zu.

Er erhielt keine Antwort, aber immerhin saß der Mann. Robert konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, dieser hielt ihm den Rücken zugewandt und massierte seine Schulter. Robert war völlig konfus. Seit fast fünfundzwanzig Jahren fuhr er Auto, und er fuhr berufsbedingt viel, aber bis auf ein paar kleine Dellen und Schrammen, an denen er meist selbst keine Schuld hatte, war ihm noch nie ein Unfall passiert. Schon gar nicht mit Personenschaden. Er schnappte nach Luft, seine Hände schwitzten, Robert stieg den kleinen Abhang hinunter, um dem Mann wieder auf die Beine zu helfen.

„Sind Sie verletzt?“, erneuerte er seine Frage und trat an den Mann heran. Eine zum Glück nicht tiefe Schramme zog sich über das junge, bleiche Gesicht. Es war ein Jugendlicher. Robert beugte sich besorgt nach vorn.

„Natürlich bin ich verletzt!“, keifte Meinrad den verrückten Autofahrer an. „Da! Schaut das verletzt aus oder nicht?“

Der junge Mann zog den linken Ärmel seines zerrissenen Hemdes hoch und präsentierte eine leicht blutende Schürfwunde am Ellbogen.

„Kannst du aufstehen? Ich helfe dir. Gib mir die Hand.“

Robert versuchte dem Jugendlichen beim Aufstehen behilflich zu sein, dieser aber wollte sich nicht helfen lassen und erhob sich von alleine.

„Na super, die Hose ist auch im Arsch.“

Das linke Hosenbein war zerschlissen und das Knie blutig geschürft.

„Ich rufe einen Krankenwagen. Du musst ins Spital“, sagte Robert und eilte zurück zum Auto, um sein Handy zu holen.

Meinrad spürte von der Benebelung nichts mehr, seine Sinne waren durch den Stoß kristallklar und geschärft, auch fühlte er keinen Schmerz. Das konnte nur der Schock sein. Wie hatte er es von Gebhardt, dem Arzt in der Kommune, gelernt? Die Atmung stabilisieren. Das war es. Meinrad lockerte seine Glieder, schüttelte den Schock von sich und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Währenddessen wählte Robert die Notrufnummer der Rettung.

„Kein Krankenwagen“, brummte Meinrad und blickte Robert an.

„Was? Du bist verletzt, du blutest, du brauchst ärztliche Hilfe.“

„Kein Krankenwagen. Bis der da ist, ist die Blutung gestillt und Gebhardt wird die Kratzer mit Schnaps auswaschen.“

Robert hatte die Notrufnummer schon eingetippt, er brauchte nur noch die Ruftaste betätigten, um die Verbindung herzustellen.

„Wie bitte?“, fragte Robert entgeistert.

„Hören Sie, ich bin nicht versichert, ich kann mir keinen Krankenwagen leisten. Aber Gebhardt ist Doktor der Medizin, er wird sich die Kratzer ansehen.“

Robert starrte den jungen Mann, dessen Gesichtsfarbe sich wieder normalisiert hatte und der plötzlich gar nicht wie ein Unfallopfer redete, mit offenem Mund an.

„Du bist nicht versichert …“, murmelte Robert ungläubig.

„Angeblich versorgen Krankenhäuser im Notfall auch Unversicherte, aber eigentlich habe ich keine Lust jemals in so einen Bunker reinzugehen. Nein, Gebhardt wird das schon machen, der kennt sich aus mit solchen Sachen.“

Meinrad machte ein paar Schritte, ließ die Arme und den Kopf kreisen.

„Nix gebrochen, nur ein paar Schrammen. Da haben wir verdammtes Glück gehabt. Das nächste Mal sollten Sie aber beim Autofahren schon nach vorne schauen und keine Schlingen fahren“, sagte Meinrad mit anklagendem Blick.

„Du stehst noch unter Schock, du musst jetzt dringend zu einem Arzt“, stellte Robert kategorisch fest und drückte endlich die Ruftaste seines Mobiltelefons.

Meinrad nickte grüßend und marschierte mit raumgreifenden Schritten los.

„Halt! Warte! So bleib doch stehen!“, rief Robert, doch der junge Mann blieb nicht stehen, also trennte er die eben aufgebaute Telefonverbindung und eilte hinterher. „Wohin gehst du? Du bist verletzt!“

Meinrad blieb abrupt stehen und drehte sich um.

„Sie wiederholen sich aber schon öfter, nicht wahr?“

Robert war verstört. So hatte er sich seinen ersten Verkehrsunfall mit Personenschaden nicht vorgestellt. Erst jetzt bemerkte er die seltsame Kleidung des Jugendlichen. War der Kerl ein Verrückter? Ein aus einer Irrenanstalt oder einem Jugendgefängnis entlaufener Insasse? Hatte er durch den Sturz einen Gehirnschaden erlitten?

„Ich habe eine Idee“, sprudelte Meinrad hervor, „weil beim Gehen spüre ich doch das angeschlagene Knie. Was halten Sie davon, wenn Sie mich mit Ihrem Auto nach Hause fahren? Gebhardt ist dort, er wird mich verarzten. Ich bin schon seit mindestens einem Jahr nicht mehr in einem Auto gefahren. Und Ihres schaut ja auch total toll aus. Was ist das für eine Marke?“

Roberts Gaumen fühlte sich trocken an, seine Lippen schienen aus Löschpapier zu sein. Konnte es Jugendliche geben, die einen Audi nicht erkannten, wenn er vor ihnen stand? Robert wischte alle Bedenken fort, er musste jetzt richtig handeln, er musste für seinen Fahrfehler und für den Unfall die Verantwortung übernehmen.

„Gut, ich bringe dich zu deinem Bekannten, zu diesem Arzt. Steig ein.“

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