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Robert Wieser stand vor dem Waschbecken und starrte auf sein Spiegelbild. Sein Haar an der Schläfe zeigte mittlerweile einen erkennbar grauen Ton. Vor ein paar Jahren war der Scheitel etwas schütter geworden, Robert konnte sich noch genau an die aufsteigende Panik erinnern. Aber der Haarausfall war nicht vorangeschritten, der Scheitel war etwas dünner geworden, die befürchtete Glatze hatte sich zum Glück nicht gebildet. Und die graumelierten Schläfen machten sich gar nicht schlecht, es hieß doch, dass viele Frauen Männer mit grauen Schläfen bevorzugten, sie anziehender als junge Spunde und unerfahrene Grünschnäbel fanden, insbesondere wenn diese Männer schlank waren und eine herbwürzige männliche Agilität vermuten ließen. Robert Wieser war graumeliert, schlank durch die regelmäßigen Besuche im Fitnesscenter und seine besonnene Ernährungsweise, doch was war mit seiner Agilität? Er stand in der Mitte seines Lebens, war dreiundvierzig Jahre alt. Das Spiegelbild im künstlichen Licht einer x-beliebigen Toilette im x-beliebigen Bürotrakt einer x-beliebigen Industrieanlage ließ nicht vermuten, dass der Mann hinter diesem Spiegelbild trocken war wie altägyptisches Pergament, dass jeden Tag ein kleines Stück von ihm zu Staub zerfiel.

Wie lange würde er das Versteckspiel noch durchstehen, wie lange die Maskerade noch aufrechterhalten können? Wann hatte er zuletzt mit einer Frau geschlafen? Also wirklich gebumst, nicht nur schnell den Notstand herausgetropft, sondern wirklich leidenschaftlichen, mitreißenden, erfüllenden Sex gehabt? Robert dachte an Herta. Er öffnete den Wasserhahn und seifte seine Hände kräftig ein. Nach Parfüm duftender Schaum sickerte in den Abfluss.

Seine Frau Herta hatte mit seinen Wünschen, seinen Sehnsüchten, seiner Einsamkeit schon lange nichts mehr zu tun, seine Frau Herta interessierte sich nicht mehr für ihn, ließ ihn gelegentlich, immer seltener, gewähren, kümmerte sich aber in der Regel um ihre Belange. Der Robert ist in Wahrheit mit seiner Arbeit verheiratet, hatte Herta an seinem fünfunddreißigsten Geburtstag den zum Fest geladenen Bekannten erstmals gesagt. Robert konnte sich an die Szene bis in die kleinsten Details erinnern. Er war gegen das Geburtstagsfest im Garten seines Häuschens gewesen, gegen die Idee, mit Grillkoteletts und Würstchen, mit Obstsäften und für die Herren mit ein paar Bierchen dieses Jubiläum zu begehen, aber Herta hatte alles im Handumdrehen organisiert gehabt. Und zugegebenermaßen, den Gästen hatte der Nachmittag beim Grillen und der laue Abend bei der einen oder anderen Flasche gut gekühlten Weißweins gefallen. Und seine Frau hatte gesagt, er wäre in Wahrheit mit seiner Arbeit verheiratet. Niemals hätte Robert so etwas von sich behauptet, niemals wäre er auch nur auf diesen Gedanken gekommen, die Arbeit war die Arbeit, die Ehe war die Ehe. Viel später hatte Robert verstanden, warum Herta das gesagt hatte, hatte ihre hintergründige Strategie durchschaut, ihre Pläne entlarvt. Dieser Satz war nämlich zu dieser Zeit kein Befund einer gegenwärtigen Lebenssituation gewesen, sondern der Grundriss eines in der Zukunft zu realisierenden Lebensplanes. Sie hatte ihn dazu verdonnert, mit seiner Arbeit verheiratet zu sein, sie hatte sich seiner lästig gewordenen Anwesenheit durch das lebenslange Büro und endlose Dienstreisen entledigen wollen. Und er hatte getan, was sie gesagt hatte, hatte immer getan, was sie gesagt hatte. Immerhin verdiente er als Ingenieur seriös, und seit zwei Jahren war der Kredit für das in frühen Jahren gebaute Einfamilienhaus im Süden Wiens zurückgezahlt, die zwei Kinder waren zu durchschnittlichen Jugendlichen mit hinreichenden schulischen Erfolgen herangewachsen. Alles lief nach Plan, noch zwanzig Jahre fleißige Erwerbsarbeit des Familienvorstandes, und eine Rente in finanzieller Sicherheit und mit solidem sozialem Prestige würde möglich sein.

Und wo war er selbst in dieser Geschichte? Was war seine Rolle?

Robert Wieser fand, dass das Hautgewebe seiner Wangen schlaff zu werden begann. Und hatte er nicht zwei Kilogramm zugenommen? Wie war es mit dem Mundgeruch? Hatte er beim Pinkeln auf seine Schuhe getropft? Was genau hatte der Mann mit der Glatze und dem leger gelockerten Krawattenknoten von ihm gewollt? Ach ja, Prozesse, technische Lösungen, Optimierungen in der Supply Chain und Konkretisierung der Dienstleistungen des Field Services. Irgendetwas in dieser Art. Diese Hyänen, diese Aasgeier, sie witterten, dass der Leithirsch waidwund war, sie umlagerten ihn, jederzeit bereit, ihm die geifernden Fangzähne in die Flanken zu hauen.

Sollte er sich für den Rest des Tages in der Toilette einsperren?

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