Читать книгу Mords-Schuss - Günther Dümler - Страница 12
Blattschuss
ОглавлениеZu der Lichtung sollte er kommen, hatte die anonyme Stimme an Telefon gesagt. Ungefähr fünfzig Meter weiter würde er auf einen großen Felsbrocken stoßen. Bei dem Bänkchen davor sollte das Treffen stattfinden. Das Auffinden der Stelle stellte für Walter kein Problem dar, denn er kannte sich in diesem Teil des Waldes ziemlich gut aus. Hier hatte er schon als Kind mit seinen Kameraden Indianer gespielt. Daher kannte er selbstverständlich auch den bewussten Felsen, der ihnen damals oft als Versteck gedient hatte.
Walter Grillenberger war natürlich aufgeregt, mehr als je zuvor. Sein Herz schlug eindeutig schneller als normal, zu schnell. Was er auch versuchte, er fand kein wirksames Mittel es zu beruhigen. Was konnte der Anrufer nur von ihm wollen? Geld wahrscheinlich. Erpresser wollten doch immer Geld. Aber warum meldete der Fremde sich dann erst nach über zwanzig Jahren und woher wusste er von den damaligen Ereignissen? Ihm fiel keine einzige plausible Erklärung ein, so sehr er sich auch sein Gehirn zermarterte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als geduldig abzuwarten, was passieren würde, so schwer es auch fiel.
Walter war noch nie der Typ von Mensch, den es permanent in den Wald hinauszieht. Wenn er recht überlegte, dann war er tatsächlich seit seiner Jugendzeit nicht mehr hier gewesen. Vor dem Felsen hatte mittlerweile jemand eine provisorische, aus dünnen Fichtenstämmchen zusammengezimmerte Sitzbank errichtet, genau wie es der Anrufer geschildert hatte. Ringsum wucherte ein schier undurchdringliches Gebüsch. Die Luft war dämpfig und doch weit angenehmer als draußen in der schwülwarmen Luft, wo die Sonne die Feuchtigkeit der letzten Tage eiligst weg zu trocknen versuchte.
Der unheimliche Anrufer war noch nicht gekommen. Walter blickte nun schon zum x-ten Mal nervös auf seine Armbanduhr, schon zehn Minuten über die vereinbarte Zeit. Und noch immer keine Spur von dem Kerl. Er setzte sich auf die wackelige Bank. Erst im Sitzen spürte er, wie nervös er wirklich war. Seine Arme und Beine waren völlig verspannt und ab und zu glitt ein Schauder über seinen Rücken. Er war sich zwar seiner Angst nicht bewusst, aber was sonst sollte diese Symptome ausgelöst haben. Irgendwie musste er sich ablenken. Das untätige Herumsitzen machte ihn schier verrückt. Er sah sich um, versuchte sich krampfhaft auf seine unmittelbare Umgebung zu konzentrieren, um damit seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Direkt vor ihm auf dem Boden lag ein vertrockneter, eigenartig gegabelter Ast, von dem bereits die komplette Rinde abgefallen war. Komisch, dachte er, nachdem er ihn aufgehoben hatte, wenn man ihn richtig herum hält, sieht er fast wie das Geweih eines Hirsches aus. Fast automatisch hob er den Ast hoch, als wollte er ihn sich als Geweih aufsetzen. Weiter kam er nicht mit seinen Gedanken.
Ein Schuss beendete abrupt seine Überlegungen. Noch bevor Walter Grillenberger realisieren konnte, was geschehen war, lag er mausetot auf dem Waldboden. Die Kugel hatte ihn etwa zwei Handbreit unterhalb der linken Schulter getroffen und die Wucht des Aufpralles ließ ihn nach vorne auf den aufgeweichten Waldboden kippen.
Peter zuckte heftig zusammen. Der Schuss konnte nur aus allernächster Nähe, wahrscheinlich vom höchstens vierzig bis fünfzig Meter entfernten Hochsitz aus abgegeben worden sein. Um sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben, rief er laut in die entsprechende Richtung:
„Halt, nicht schießen! Ich bins, der Gleinleins Beder!“
Er wusste, wem der Jägerstand gehörte und deshalb auch in wessen Jagdrevier er sich aufhielt. Der Wolf-Bauer war zwar nicht gerade ein guter Bekannter von ihm, man wusste aber schon, wer der jeweils andere war. Die Antwort kam postwendend.
„Ka Sorg nedd, ihner bassierd nix. Ich komm runder zu ihner!“
Als Peter zum Hochsitz kam, war der Jäger bereits herab gestiegen, allerdings in die entgegen gesetzte Richtung voraus gegangen. Er sah ihn gerade hinter dem Felsen verschwinden. In dessen Umgebung musste er wohl die Beute gesehen haben, auf die er gefeuert hatte. Peter hatte noch nie an einer Jagd teilgenommen und war neugierig, was als nächstes geschehen würde. Vorsichtig folgte er dem Mann durch das niedrige Gestrüpp und die dichten Schwarzbeersträucher.
Als er schließlich um die Felskante bog, bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Der Jäger war auf die Knie gesunken und beugte sich schluchzend über einen etwa gleichaltrigen bewegungslos daliegenden Mann. Es schien sich um einen Pilzsammler zu handeln, der offenbar ebenso wie Peter suchend durch den Wald gestreift war, vielleicht der Konkurrent, dessen Fahrrad er am Waldrand gesehen hatte. Auf dem kleinen Bänkchen hatte er wohl ausgeruht, als ihn der verhängnisvolle Schuss traf. Wie zum Beweis für seine Vermutung stand ein fast voller Korb mit Pilzen immer noch dort, wo der Ärmste vor wenigen Minuten noch gesessen haben musste.
Peter wollte sich zu dem Jäger hinunter beugen, um ihn zu beruhigen. Nun, da er sein Gesicht sah, erkannte er den unglücklichen Toten. Walter Grillenberger war zwar nicht gerade mit den Kleinleins bekannt, aber auch für ihn traf zu, was für Leonhard Wolf galt, man kannte und grüßte sich, wenn man sich begegnete, mehr nicht. Peter wusste, dass die beiden Männer sich jedoch viel näher standen und verstand nun umso mehr die Erschütterung des Todesschützen.
„Beruhing ser si doch, Herr Wolf“, redete er behutsam auf den Mann ein. „Dess habns doch nedd mit Absichd gmachd. Sie könner doch nix derfür.“
Und um den sichtlich mitgenommenen Schützen etwas abzulenken, forderte er ihn auf:
„Erzählns mer doch ganz einfach, woss bassierd is. Sie wern seeng, des duud ihner guud, wenns drüber redn könner.“
Tatsächlich stand der zutiefst verunsicherte Unglücksschütze auf und begann zögernd und mit Unterbrechungen den Unfallhergang zu schildern.
„Wissns, ich ward scho seid Wochn auf an beschdimmdn Hirsch. Zig Stundn binni die letzdn Wochn auf mein Hochsitz ghoggd und hobb auf ihn gward. Immer widder isser mir durch die Labbn ganger.“
Er musste eine Pause einlegen, um sich mit einem Stofftaschentuch die Tränen weg zu wischen. Man merkte, wie schwer es ihm fiel, zu sprechen. Dieser Brocken von einem Mann zitterte am ganzen Körper.
„Heid war er widder dou, vor ungefähr anner halben Stund und …. und ich hobb nern widder nedd derwischd. Der war so scheu, verschdenners, kaum hobbi mei Gewehr angleechd, war er aa scho widder verschwundn. Als ob er blouß aweng mid mir Verschdeck schbilln wollerd. Und dann … vor a boar Minuddn, dou hobb is raschln ghörd, die Büsch dou drübn homm gwaggld und …. und a Stückla vom Gweih hodd rausgschaud. Dessmal länger wäi sunsd. Ich hobb angleechd und sofford abdrückd. Und dann dess! Ausgrechned der Walder, mei besder Freind …. Mir kenner uns doch scho seid mer Kinder woarn.“
Wieder durchzuckte ihn ein wildes Schluchzen. Er konnte offensichtlich nicht mehr. Peter drang auch nicht weiter in ihn, es half sowieso nichts mehr. Hier kam jede Hilfe zu spät. Man konnte nur noch die Polizei verständigen, die sich auf kompetente Weise der Angelegenheit annehmen würde. Peter wollte sein Handy aus der Hosentasche ziehen, um den erforderlichen Anruf zu tätigen, griff aber ins Leere. Verdammt noch Mal, jetzt, wo er es tatsächlich einmal gebraucht hätte, war das Ding nicht zu finden. Der Jäger, der den vergeblichen Versuch bemerkt hatte, aber immer noch nicht fähig schien, einen vernünftigen Satz zu sprechen, griff wie in Trance in seine Jackentasche und reichte sein Telefon wortlos an Peter weiter. Er selbst war jetzt nicht in der Lage anzurufen. Peter nahm das kleine silberne Gerät an sich und wählte entschlossen die Notrufnummer eins-eins-null.