Читать книгу ESCAPER Stories / Band 1 - Günther Frühmorgen - Страница 13
Oder
ОглавлениеHans Hummel starrte auf den großen Hebel an der Wand. Heute war die Nacht der Nächte. Er saß allein in der Schaltzentrale des Uppenbornwerks II. Über ihm ruckte der Sekundenzeiger einer großen runden Uhr. Es ging auf viertel vor 11. Ein feiner Rauchfaden stieg von seinem hängenden Arm empor. Hans liebte sie, Villinger Stumpen. Aber Hans Hummel war ein Mann der Mäßigung. Selten, dass er mehr als neun Züge sog aus einem Villinger Stumpen. Die meiste Zeit hing sein Arm steif damit herunter. Asche und Glut fiel dann in flockigen Brocken auf den Betonboden, zerstäubte.
NotAus stand groß auf dem Messingschild neben dem Schalter. Hans würde ihn mit beiden Händen herunterziehen müssen. Als dienstältester Elektromeister hatte heute er den Schlüssel für das Steckschloß, das den Hebel sperrte. Kurz vor 11 Uhr in dieser Nacht würde er ganz Deutschland in die Finsternis versenken, das gesamte Stromnetz von den Alpen bis zur Nordsee abschalten. Dann, ja und dann ...
Ein durchdringendes Summen vibrierte in dem riesigen roten Backsteinbau des Uppenbornwerks. Begleitet von einem ewigen, unterirdischen Wummern. Titanisch drehten sich die Turbinen, die Wasser des Stausees tosten durch sie hindurch. Hans konnte die riesige Turbinenhalle übersehen, von hoch oben durch die Glasscheiben des Schaltraums. Gittertreppen, Gänge auf verzinkten Stahlstreben hingen an den Wänden, bis hinauf, auf 30 Meter Höhe. Hans Hummel saß da oben, in 30 Meter Höhe. Allein. Einen Arm hingestreckt an den Tisch. In gespannter Erwartung. Neben sich auf der grauen Holzplatte lag sein kleiner Papierblock. Darauf waren in Bleistift ein Punkt und ein Strich.
Genau vor einer Woche hatte er seiner Lieblingssendung im Radio gelauscht. Er hatte dienstfrei gehabt an dem Abend und saß im Wohnzimmer seines Einfamilienhauses, nahe der B11, in Thonstetten. Draußen stand regennaß sein Lloyd Alexander 600, grau mit weißem Dach. Hans trug noch die Metallspangen an seinen hochgeschobenen Hosenbeinen. Er legte sie an bei Regenfahrten, wenn Dreckwasser durch die offenen Pedalschlitze des Lloyds spritzte. Sowie der Regen versiegte und der Lloyd abgetrocknet war, würde er ihn in die Garage schieben. Um ihn am nächsten Morgen um 5 zur Dienstfahrt wieder hinauszuschieben. Hans ließ den Lloyd niemals in der Garage an, aus Furcht, Rost könnte sich losrütteln und auf den Garagenboden flittern, Rostflecken verursachen, die nie mehr aus dem Betonboden zu entfernen sein würden. Insgeheim quälte ihn sogar Angst, die lauten Schußsalven aus dem nachbarlichen Schießstand der Polizei könnten gleicherart verheerende Rosterschütterungen bewirken. Mit Unmut hatte er den Bau des neuen Schießstands im Acker neben seinem Haus verfolgt. Und mit Kopfschütteln, als er hörte, der Schießstand könne nur da angelegt werden, denn er müsse strikt nach Westen ausgerichtet sein.
Was Hans vor einer Woche im Radio hörte, ließ fast sein Herz stillstehen. Die Sendung hieß Universum, und man sprach erregt von der Gefahr außerirdischer Invasionen. Neben sich hatte Hans den kleinen Zettelblock und einen gespitzten kurzen Bleistift. Was er nun notierte, würde sein ganzes Leben verändern. Ein Militärsprecher verkündete knapp und hart:
Wir haben eine außerirdische Botschaft entschlüsselt.
Das Signal heißt: Über kurz oder lang -
sie werden kommen!
Vom Villinger Stumpen fiel flockig die Asche mitsamt einem Glutstück. Es sengte ein kleines Loch in den Teppich und verglomm. Hans war vom Donner gerührt. Mit angehaltenem Atem hatte er mitgehört, wie Fachleute über Außerirdische berichteten, die eine Invasion der Erde planten. Mit ihren Raumschiffen würden sie kommen, Tausende. Ihr Ziel war unbekannt. Aber Hans hatte sich das Signal notiert, über das der Angriff ausgelöst würde: Über kurz oder lang.
Hans Hummel war Funker gewesen während seiner Bundeswehrzeit. Er hatte drei Jahre Dienst getan auf dem Zerstörer Hamburg. Im Golf von Aden war er Offizieren aufgefallen, als er barfuß über das sonnenglühende Deck schreckte, da er die Gummisohlen seiner Schuhe nicht dem heissen Metall aussetzen wollte. Man hatte ihn dafür 20 Stunden in Arrest gesteckt. Dort lernte er seine große Leidenschaft kennen. Ein Kamerad langte ihm verstohlen eine kleine Zigarre in die Hose, und Hans zündete sich diese in seiner Einzelhaft an. Neun Züge sog er daraus in 20 Stunden. Immer wieder ließ er sie erkalten und entzündete sie von neuem. Er hielt sie in seinen Fingern, bis diese selbst wie Tabak rochen, nachdem der Stumpen zuende war.
Hans war ein guter Morser gewesen. Er hatte Morse-Codes gelernt. Er musste ein guter Morser sein, da seine hanseatischen Kameraden seine bayerische Mundart oft einfach nicht verstanden. Dann morste er Wichtiges mit den Fingern, an Wandblechen, Fenstern oder auf Tischplatten. Also kannte er sie, die Kombinationen aus kurz und lang. Aber: kurz oder lang? Dies war ihm völlig neu und unverständlich. Stundenlang brütete er darüber, auch an den folgenden Abenden, hielt einen Arm mit dem Villinger Stumpen bodenwärts, und eine Hand mit dem Stummelbleistift über dem kleinen Zettelblock. Kurz und lang, lang gefolgt von kurz. Schön und gut. Aber kurz oder lang? Schon in der Volksschule hatten sie ihn gequält mit oder-Fragen. Fließt die Isar in den Inn oder in die Donau? Die ewige Plage des oder, wie im biblischen Vogel friß oder stirb. Hans war nun 46 und wusste, dass alle Geheimnisse der Welt mit oder daherkamen. Henne oder Ei? Ist das Universum unendlich oder endlich? Was für ein Dilemma. Hans blies die Backen auf, sein sowieso rundes Gesicht glänzte unter dem äußerst links gescheitelten glatten schwarzen Haar, er puffte Laute heraus: "Pffmmm! Ppffmmm!"
8 vor 11. Hans Hummel ging langsam zum Hebel, schob den Schlüssel in die Steckbüchse, drehte, zog das Schloß behutsam heraus. Der Hebel stand frei. Sorgsam löschte er den Villinger Stumpen im Aschenbecher. Hinter seinem Rücken ruckte der Minutenzeiger. Sechs vor 11. Hans umschloß mit festen Händen den langen Hebel, suchte den besten Griff. Verharrte. Er spürte Schweiß aus seinen Achseln tropfen, verrinnen. Er zauderte, zog am Hebel träge, spürte dessen Widerstand. Er zog mehr, der Hebel blieb fest. Dann hängte er sich mit seinem ganzen Körper in den Zug, schrrummmm, der Hebel fuhr nach unten. Hans war auf den Knien, hielt sich mit hohen Händen am Hebel. "Pffmmm!"
Als er dann draußen vor seinem Lloyd Alexander stand, hörte er im ganzen Uppenbornwerk Telefone schrillen. Es war stockdunkle Neumondnacht. Er hatte Deutschland und somit einen großen Flecken der Erdoberfläche minutenlang in Finsternis gehalten, bis er punkt 11 Uhr mit einem Hebelruck nach oben ein kurzes Lichtsignal ins All schoß. Dann versenkte er Deutschland wieder in Finsternis, und schob gleich nochmals den Hebel nach oben für ein langes Licht. Schließlich wuchtete er den Hebel endgültig nach unten für Dauerdunkel. Im Notlicht des Schaltraums hatte er noch das Steckschloß in den Hebel gefingert und ihn versperrt. Nun warf er den Schlüssel in hohem Bogen über eine Betonmauer ins rauschende Leerschusswasser des Kanals unterhalb des Uppenbornwerks. Hinter ihm summte und wummerte der riesige Backsteinbau, seine hohen Fenster standen in mattem Licht. Daneben flirrte und zirpte das dunkle Umspannwerk.
Die Scheinwerfer des Lloyd wischten schwach durch eine rabenfinstere Landschaft. Häuser hockten dunkel. Büsche davor flackten schwarz wie Kohlebrocken. Wenige Autos kamen ihm entgegen, schroff scheinwerfend. Der Lloyd zog dahin mit einem singenden hellen Wimmern. Hans hatte das Rätsel der Außerirdischen gelöst. Ein oder kann in kosmischen Dimensionen ebenso ein und sein. Das Universum ist unendlich und endlich. Ich liebe meine Mutter und Marianne. Über kurz und lang werden sie kommen! Wie einfach und genial.
Sein Einfamilienhaus stand da zapenduster. Er schaltete den Motor vor der Garage ab, schob den Lloyd in die Garage. Vor dem Haus stehend wunderte er sich über die im Finstern stockende Welt. Er blickte in den Himmel, in dem keine Sterne steckten. Dunkelheit überall. Als er durch die Haustür trat, schepperte er gegen die blecherne Milchkanne, die seine Frau dort abgestellt hatte.
"Wir ham koa Licht!" Marianne, seine Ehefrau, war bereits im Schlafzimmer im 1. Stock und rief erregt herunter. Er beschwichtigte sie. Als er sich beugte, um die Schnürsenkel aufzuziehen, fand er sich plötzlich in taggrellem Schein. Er bolzte hoch. Draußen war ein gelbes Gleissen. Dann urplötzlich wieder Finsternis. Hans äugte durch das Haustürfenster. Wartete. Dann leuchtete, aber weiter weg, wieder dieses gelbgrüne Aufscheinen im Himmel. Hans Hummel röchelte leise. Sie kommen! Schon!
"Wetterleuchten!" rief seine Frau von oben.
Hans musste lächeln ob solcher Naivität seiner Ehefrau. Selten, dass er gelächelt hatte in seinem Leben. Sein grimmigstes Lächeln steckte hinter Glas im Wohnzimmerbuffet. Eine ganze Stunde lang hatte der Photograph mit ihm geübt und Hunderte von Photos verschossen, bis etwas zustande kam, wovon nun alle Verwandtschaft sagen konnte, es wäre ein sauberes Hochzeitsbild. Er konnte sich auch nicht erinnern, jemals gelacht zu haben, nicht einmal, als sie als Lehrlinge eine Schwachstromleitung im Toilettensitz der Firma installiert hatten. Sein Berufsmotto war von Anfang an gewesen: Als Elektriker steht man immer schon mit einem Fuß im Zuchthaus. Bislang war Hans der Polizei nie in die Quere geraten. Einmal nur, als er mit einem Lloyd Alexander in wütende Schüsse aus einem Polizeischießstand geraten war, den man ohne Ankündigung in Richtung auf die Feldstraße verlegt hatte, die er manchmal als Abkürzung zur Arbeit befuhr.
Plötzlich warf ihn ein neues grelles Leuchten schier um, taumelnd sah er sich sekundenlang im Flurspiegel, entsetzte sich über sein Aussehen: sein Bartschatten leuchtete grün. Der Lichtschein verschwand im Dunkeln, Hans hielt sich steif an der Wand. Sein Nacken brannte, sein Atem kam stockend. Er wagte es nicht zu denken, was ihm nun in den Kopf kam: Was, wenn er bereits in ihrem Griff war? Wenn nicht er durch seinen freien Willen den Angriff ausgelöst hatte, sondern sie ihn wie eine Marionette benutzten? Wie lange schon? Oder er war von ihnen gezüchtet worden, sein ganzes Leben lang? Hans röchelte. Als Zweitgeborener war er ihr perfektes Opfer geworden, denn der erstgeborene Bruder bekam den Hof vom Vater. Wieso wurde er Elektriker, wo doch Triebwagenführer sein innigster Berufswunsch war? Wieso spielte man ihm diese Radiosendungen über Außerirdische vor? Marianne wollte nie auch nur einen Ton davon hören.
War er nun einer von ihnen? Dieses Grün, in dem sich sein Gesicht nun offenbarte? Blaubart hatten sie ihn genannt, wegen seines blauen Bartschattens, und dass er wohl aus Transilvanien käme? Wobei er aber in Grünseiboldsdorf auf die Welt gekommen war. Großer Gott – Grünseiboldsdorf! Hans tappte wie benommen herum, schepperte wieder an die Milchkanne, fand die Varta-Taschenlampe, an der Wand hängend. Er leuchtete sich den Weg ins Badezimmer. Er hielt sich benommen am Türrahmen fest, der Spiegelreflex blendete ihn. Er schloß die Augen. Nun konnte er in Ruhe warten, bis sie ihn holen kämen. Natürlich würden die anderen, die Menschen, gaffen, morgen bei Tag, wenn die Raumschiffe über ihnen schwebten, groß wie Gewitterambosse. Er legte die Vartalampe auf den Hocker vor der Badewanne, zog sich die Hosen aus, wusch sich gründlich. Dann cremte er sich sorgsam ein. So, nur im Hemd und in Socken stieg er die Treppe zum 1. Stock hinauf, lurte durch in die halboffene Schlafzimmertür. Er leuchtete seine Frau an, die aufrecht und schimpfend im Federbett saß, dick und rund wie die Boje, mit der man die Einfahrt zum Hamburger Hafen markiert.
Hans zog eine wilde Grimasse. War er also nur Marionette! Dann könne man ihm auch keinerlei Verantwortung aufhalsen für sein Tun, was auch immer. Dann konnte er nun auch die haarsträubendsten Dinge machen. Schaudernd trat er an den Bettrand heran. Seine Frau belferte in hohen Tönen. Hans knipste die Varta aus. Nun würde er etwas tun, was er nach der Hochzeitsnacht beschlossen hatte, nie mehr zu vollziehen, aus Angst vor dem Gerede der Leute, wenn sie Vierlinge oder Fünflinge bekämen.