Читать книгу Eiszeit! Warum Eishockey der geilste Sport der Welt ist - Günther Klein - Страница 10
DER EISHOCKEY-KÖRPER – WAS SIND DAS FÜR WADEN?
ОглавлениеWoran erkennen Sie einen Eishockeyspieler, wenn er keine Eishockeymontur trägt? Das ist nicht schwer. Sie würden ihn sogar in der Badehose erkennen.
Die Klischeevorstellung von einem Eishockeyspieler ist: Er hat ein etwas deformiertes Gesicht und ein paar Zähne weniger. Dieses Klischee ist gar nicht so falsch. Es trifft auf uns Eishockeyspieler nicht mehr in dem Maße zu wie noch in den 70er- oder 80er-Jahren, weil sich das Spiel seitdem verändert hat und der Schutz durch die Ausrüstung besser geworden ist. Aber es stimmt, dass in unserem Sport die Zähne am schnellsten in Mitleidenschaft gezogen werden. Und es ist Fakt, dass man ohne Platzwunden, zumindest kleine, nicht durch die Karriere kommt.
Da braucht im Training nur mal ein Stock hochzugehen, und schon reißt es dir die Haut auf. Dann hast du mal deine drei, vier Stiche hier und da. Oder es geht ein Zahn drauf. Am Ende der Karriere versucht man dann, das irgendwie hinzubiegen.
Früher hatte nahezu jeder Spieler auch eine gebrochene Nase. Durch Checks, durch Treffer mit einem Schläger, durch einen Faustkampf. Oder – das ist dann meist ein Unfall, der sich in Sekundenbruchteilen und unvorhersehbar ereignet – durch einen Puck, der einem an den Riecher springt.
Eishockey sieht deswegen von außen hart und wild aus, dafür gibt es bei uns nicht so häufig wie im Fußball große Verletzungen. Da können sie das Ende der Karriere bedeuten, wenn es einen am Sprunggelenk oder am Knie erwischt. Wenn ein Eishockeyspieler im Gesicht blutet, ist das kein bleibender Schaden. Die Statistiken, die die Berufsgenossenschaft in Deutschland erhebt – zuständig ist interessanterweise die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft – sind eindeutig: Eishockey hat die wenigsten schweren Verletzungen unter den Profi-Teamsportarten.
Blut im Gesicht, die klaffende Wunde – sie tragen zum Mythos des Eishockeyspielers bei. Der harte Kerl geht in die Kabine, lässt sich nähen und kommt zurück. Der Spieler – wenn er nicht eine Gehirnerschütterung davongetragen hat – will auch schnell wieder aufs Eis. Man mag es als kindisch empfinden, aber es gehört dazu. Und unterscheidet in der öffentlichen Wahrnehmung den Eishockeyspieler vom Fußballer, der das Spiel natürlich nicht mehr aufnehmen kann, wenn er einmal ausgewechselt wurde, um in der Kabine behandelt zu werden. Die Ausnahme war Bastian Schweinsteiger in der Verlängerung des Weltmeisterschaftsfinales 2014 in Rio de Janeiro. Er hatte einen Cut im Gesicht, der am Spielfeldrand getackert wurde. Es war eines der einprägsamsten Bilder des gesamten Turniers, und viele Eishockeyfans lieben ihn seitdem dafür.
Eishockey hat es gelernt, die Gesichtsverletzungen in Trophäen umzuwandeln.
Ich hatte mit den Zähnen Glück. Ich trug einen Zahnschutz. Dazu entschloss ich mich, nachdem ich einmal einen harten Check abbekommen hatte. Der Zahnschutz dient nämlich nicht nur dazu, die Zähne zu schützen, er verringert auch die Wahrscheinlichkeit, dass man bei einer Attacke gegen den Kopf eine Gehirnerschütterung erleidet. Der Kopf geht nämlich zurück, schnellt dann wieder nach vorne, und wenn das Kinn mit den Zähnen zuklappt, verstärkt sich der Impact. Der Mannschaftsarzt hat mich darüber aufgeklärt, das hat mich überzeugt. Der Nachteil des Zahnschutzes: Man bekommt schlechter Luft.
Als ich in Nordamerika spielte, bekam ich von hinten einen Crosscheck und fiel mit dem Gesicht in die Bande, trotz Zahnschutz brachen eineinhalb Zähne ab. Der Zahnhals liegt dann offen, der Nerv ist exponiert. Sehr unangenehm, immer wenn Speichel draufkommt, tut das wahnsinnig weg. Aber jeder erwartet, dass du schnell weiterspielst, was du dann auch machst. Nachdem Spiel versucht man halt, möglichst schnell in eine Zahnklinik zu kommen. Und am nächsten Tag steht man wieder auf dem Eis.
Gefahren für die Zähne sind der Schläger und der Puck, wenn er kurz vor einem abgefälscht wird. Normal sieht man den Puck immer, kann seine Schussbahn millimetergenau berechnen, das wird zum Automatismus, zum normalen Flow. Doch wenn zwei Meter vor dir die Scheibe abgefälscht wird, hast du keine Chance mehr zu reagieren, dann trifft sie dich voll. Dabei können die schweren Gesichtsverletzungen entstehen.
Tatsächlich hatte ich Mannschaftskameraden, die das Eishockey die komplette Reihe Schneidezähne gekostet hatte und die dann – wie ein Vampir in unserer von Dracula-Filmen geprägten Vorstellung – gerade noch links und rechts im Mund je einen Eckzahn hatten. Kurioserweise sind das auch genau die Typen, die einen besonderen Humor haben. Ihr Lieblingsscherz: Dass sie einem Mitspieler, wenn die Mannschaft mal ausgeht, ihr Gebiss ins Bierglas werfen. Da wird das „Opfer“ abgelenkt, alle anderen am Tisch sehen es und hoffen, dass der arme Tropf es beim ersten Schluck noch nicht bemerkt, dass ein Fremdkörper in seinem Bier schwimmt. Erst wenn er das Glas halb leer getrunken hat, soll er auf das Gebiss stoßen. Eine recht ekelhafte Geschichte. Man muss nicht auf alles stolz sein in unserem Sport.
Es wäre zu gefährlich, sich, solange man noch Eishockey spielt, Implantate einsetzen zu lassen. Wenn es die Zähne noch einmal erwischt, würde der Kieferknochen, mit dem die neuen Zähne verbunden sind, mit herausbrechen. Deshalb wartet man bis nach der Karriere ab, ehe man den Kieferchirurgen ranlässt. Viele haben eine Art Spange, die sie zum Training und Spiel herausnehmen.
Was auch blutig sein kann: Wenn man einen Check von hinten einfängt und es einem den Helm runterdrückt auf die Augenbraue, schneidet sich die Kante vom Plexiglasvisier rein. Aber die Ärzte haben mittlerweile ein Supergespür, wie man das näht. Und wenn man weiß, dass es nur zwei, drei Stiche sind, dann verzichtet man auf die Betäubung.
Gehen wir bei der Besichtigung des Eishockeyspielerkörpers ein Stück weiter nach unten. Ein Merkmal ist die ausgeprägte Nackenmuskulatur und dadurch der breite Hals. Wichtig, denn bei Checks wirkt für Sekundenbruchteile das Mehrfache der Erdanziehungskraft auf den Betroffenen. Der Check geht auf den Körper, doch der Kopf erlebt den weiter oben beschriebenen whiplash, er schnellt erst in die eine, dann die andere Richtung. Daher muss der Nacken eine starke Muskulatur haben, um den Kopf gerade zu halten, damit der Überblick übers Spiel nicht verloren geht.
Einen gut ausgebildeten Oberkörper benötigt man für einen guten Schuss. Über den Torso – Bauch und Rücken – steuert man das Zusammenspiel zwischen Ober- und Unterkörper. Nur aus der Stabilität der Mitte kann man die Power in die Beine bringen. Der Bauch ist flach.
Und jetzt zum Eishockeyspieler im Schwimmbad. Das ist der Typ, der keine passende Badehose gefunden hat. Es gibt keine, die über die mächtigen Klötze von Oberschenkeln drüber geht. Oberschenkel von diesem Umfang und mit dieser offensichtlichen Power haben sonst nur die Sprintspezialisten im Radsport.
Der Eishockeyspieler hat also einen riesigen Po, Geräte von Oberschenkeln, aber, wenn man weiter nach unten schaut, so gut wie keine Waden. Das sind dünne Stelzchen, die diesen Apparat tragen müssen. Ich kenne keinen Eishockeyspieler, der kräftige Waden hätte – auch da sind wir anders als die Fußballer. Und man bekommt sie auch nach der Eishockeykarriere nicht.
Das Gesäß ist wichtig, weil daraus die Explosivität entsteht. Eishockey wird nicht aus dem Stand, sondern aus der tiefen Hocke heraus gespielt. Der Push kommt aus dem Hintern, Squats, tiefe Kniebeugen, sind mit die wichtigste Übung im Athletiktraining.
Es gibt einen Übergang vom Jungen- zum Männerkörper. Wann der stattfindet, ist bei jedem unterschiedlich und hormonell bedingt. Eine Faustregel: Mit etwa 16 erlebt man so einen Einschnitt, wenn man spürt, dass das Profi-Eishockey bevorsteht. Manche bekommen noch einen zweiten Schub zwischen 18 und 20 Jahren, wenn sie im Kopf begreifen, was sie noch machen müssen, um bei den Männern die Rolle zu spielen, die sie aus den Jugendmannschaften gewöhnt sind.
Es geht nicht nur darum, „Gewicht draufzulegen“, also Masse. Das schafft man auch mit Eiweißshakes, mit sogenannten Weight Gainern. Doch diese Masse weiß noch nicht, wie sie im Eishockey zu arbeiten hat. Diese Phase zwischen etwa 16 und 20 Jahren entscheidet bei vielen Talenten über den weiteren Werdegang und darüber, ob es zum Profi reicht. Da sind viele schon stehen geblieben, die im Nachwuchs von klein auf körperlich überlegen und daher auffällige Spieler waren. Mit 18, 19, 20 rücken sie in die erste Mannschaft, sind dort nicht mehr auf diese Art überlegen, sondern nur noch Durchschnitt, denn sie haben das verloren, was sie früher über die anderen erhoben hat. Es gibt auch welche, die mit normalem Körper besser waren als ihre Altersgenossen, aber dann nicht mehr weiterkommen, weil ihnen biomechanische Grenzen gesetzt sind. Du wirst nie so schnell skaten können wie der Kollege, der 20 Zentimeter längere Beine hat.
Doch das Eishockey verändert sich auch und begünstigt mit der Zeit andere Typen. Vor 20 Jahren hatte, wer klein oder schlaksig war, keine Chance gehabt, Profi zu werden. Aufgrund diverser Regeländerungen muss das jetzt kein Faktor mehr sein. Wer technisch gut ist, seine Schnelligkeit und Wendigkeit ausspielt, hat trotz fehlender Größe gute Chancen. Seit etwa 2010 hat eine eindeutige Entwicklung zum schnellen Eishockey stattgefunden. Man achtet nicht mehr primär auf Größe und Gewicht.
Ein gewisses Durchschnittskörpergewicht wird der Eishockeyspieler allerdings immer brauchen, um Substanz zu haben und vorbereitet zu sein auf das, was ihn in einer langen Saison alles an Bodychecks trifft. Wayne Gretzky etwa, der beste Spieler, den das Eishockey hervorgebracht hat, spielte in den 80er- und 90er-Jahren, als der Sport knüppelhart war. Er wirkte im Vergleich eher zerbrechlich zwischen all den Schränken in der NHL. Laut seinen offiziellen Daten – 1,83 Meter, 84 Kilo – war er allerdings kein Hänfling.
Bei den jährlichen Weltmeisterschaften kann man sich immer gut orientieren, was der angesagte Maßstab ist. Derzeit liegen die Spieler im Schnitt der Mannschaften bei 1,83 bis 1,88 Meter, vom Gewicht zwischen 86 und 94 Kilogramm.
Kann man zu groß sein fürs Eishockey? Klar besteht die Gefahr, dass einem Zwei-Meter-Mann die Wendigkeit fehlt und ihm die Gegner unterm Arm durchwuseln, doch es gibt auch da Ausnahmen. Einer der herausragenden Spieler in der NHL ist der Slowake Zdeno Chára mit 2,05 Metern. Der ist schon über 40 Jahre alt, aber ein Leistungsträger mit seinem gewaltigen Schuss und seiner imposanten Reichweite.
Ein kleiner Spieler ist man unter 1,80 Meter. Doch auch kleine Leute können physisch spielen und checken, dass es richtig wehtut. Nehmen wir Patrick Hager, den deutschen Nationalspieler und Silbermedaillengewinner. Er misst 1,78 Meter. Er hat einen tiefen Körperschwerpunkt, bringt die Kanten seiner Schlittschuhe perfekt ins Eis und explodiert nach oben, wodurch sich die Energie maximal entfaltet und er knallharte Checks setzt. Bei anderen kleinen Spielern nimmst du es, wenn sie dir in die Seite fahren, so wenig wahr wie bei einem Moskitostich.
Patrick Hager übrigens ist begeisterter Zugfahrer. Wenn er von seinem Wohnort nahe Rosenheim nach München zum Training muss, nimmt er lieber die Bayerische Oberland-Bahn als das Auto. Auch nach dem Gewinn der Silbermedaille 2018 ist er auf seiner Strecke von den Mitreisenden noch nie erkannt und angesprochen oder um ein Selfie gebeten worden. Er führt es darauf zurück, dass Eishockeyspieler wegen des Helms und des Visiers keine öffentlichen Gesichter haben.
Doch Eishockeykörper sind schon ein wenig verräterisch. Man muss nur wissen, an welchen Stellen.