Читать книгу Eiszeit! Warum Eishockey der geilste Sport der Welt ist - Günther Klein - Страница 4

WARM-UP: Pyeongchang, 25. Februar 2018

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„Olympiasieger! Wir werden Olympiasieger!“ Wir hockten im Morgengrauen in meinem Wohnzimmer vor dem Fernseher und fieberten dem Ende entgegen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in diesem Moment noch saß oder bereits aufgesprungen war, ob ich kniete oder lag. So sehr waren wir alle mitgerissen von diesem Spiel.

Es war das Finale im Eishockeyturnier der Olympischen Spiele am 25. Februar 2018. Mit Deutschland. Und unsere Mannschaft war mit 3:2 in Führung gegangen. Gegen die Russen! Ein Team aus einer anderen Welt. Und es waren nur noch gut drei Minuten zu spielen. Marc Hindelang rief aus, was wir alle nicht zu denken wagten: „Wir werden Olympiasieger!“

Ein paar Kollegen von Sport1 hatten sich bei mir versammelt, um dieses Spiel, das größte für uns, das Spiel um die Goldmedaille, gemeinsam zu verfolgen. Eine komplett surreale Situation. Zum einen wegen der Zeitverschiebung: In Südkorea beginnender Nachmittag, bei uns noch stockdunkle Nacht. Eigentlich Tiefschlafphase. Aber wir fieberten dem Eishockeyfinale der Olympischen Spiele entgegen. Mit Deutschland.

Aber auch, weil mein Kollege Sascha Bandermann, einer der Anwesenden, und ich seit 2010 immer bei allen Turnieren live vor Ort dabei gewesen waren (er als Moderator und Drittelpausen-Interviewer der Eishockeysendungen, ich als Experte), fühlte es sich komisch an, gerade bei diesem Spiel zu Hause auf dem Sofa zu sitzen. Und wenn ich meine Zeit als Aktiver mit einbeziehe, war ich sogar seit der WM 1996 immer in irgendeiner Form dabei gewesen. Und wenn mal doch nicht, war ich wenigstens ein gefühlter Bestandteil der Nationalmannschaft. Pyeongchang war das erste Mal seit über 20 Jahren, dass ich mit der Sache nicht direkt zu tun hatte. Weit weg zu sein von der Mannschaft, die mir so viel bedeutete, das war wirklich ein komisches Gefühl. Ich saß daheim auf der Couch, und die standen im Olympiafinale weit weg in Asien. Wenigstens wollte ich diesen Moment mit Freunden teilen.

Also hatte ich zum Weißwurstfrühstück eingeladen, um 4.30 Uhr morgens. Als es soweit war, veranstalteten wir ein bisschen eine Privatübertragung. Aus unseren Rollen kamen wir so leicht nicht heraus. In den Drittelpausen machten wir eine Liveschalte bei Facebook. Da konnte man sehen, wie mir, dem Gastgeber, die Weißwürste aufplatzten, wie Sascha, den ich noch nie in seinem Leben ein Weißbier habe trinken sehen, eine ganze Kiste davon mitbrachte, wie einige direkt aus der Stadt kamen, sie hatten durchgemacht und sich in Rage gefeiert, in dieser Nacht von Samstag auf Sonntag.

Wir tranken also um 4.30 Uhr am Morgen Weißbier und waren euphorisch. Welche Fahrt dieses Turnier aufgenommen hatte! Dass wir gegen die Russen, von denen wir sonst immer eins auf die Nuss bekamen, im Endspiel standen! Es war ja unfassbar, was die „Olympischen Athleten aus Russland“, wie sie offiziell genannt wurden, weil Russland wegen diverser Dopingvergehen gesperrt gewesen war, für Namen in ihren Reihen hatten. Es war unfassbar, wie wir das Halbfinale gegen Kanada mit 4:3 gewonnen hatten. Ein Höhepunkt deutscher Eishockeygeschichte, dem jetzt ein noch glorreicheres Kapitel folgen sollte, so hofften wir.

Im zweiten Drittel klingelte es und Marc Hindelang stand vor der Tür, in der offiziellen Mannschaftsjacke. Er war TV-Kommentator und hatte mich vor gut zehn Jahren zum Fernsehen geholt. Sein Engagement fürs Eishockey erstreckt sich über seinen Job hinaus. 2014 wurde er Vizepräsident des Deutschen Eishockey-Bunds. Marc kam direkt von den Olympischen Spielen zu uns, den Sieg über Kanada hatte er in Pyeongchang noch live erlebt. Er setzte sich zu uns aufs Sofa und sagte: „Das hältst du allein nicht aus.“

Ich rief: „Was meinst du, kann unsere Mannschaft das Spiel gewinnen?“ Er entgegnete trocken: „Na klar.“ Ich dachte noch: Meint er wirklich, wir können die Russen schlagen?

Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Die Geschichte lief anders als in all den Jahren zuvor. Die Mannschaft hatte sich reingekämpft und etwas ins Rollen gebracht. Sie strahlte Sicherheit aus, alle Aktionen saßen, sie fand spielerische Wege. Und all das, was die Mannschaft im Turnier ausgezeichnet hatte, zeigte sie auch jetzt wieder in diesem letzten Spiel. Unglaublich, wie Jonas Müller, der junge Verteidiger aus Berlin, durchrannte und mit einer Selbstverständlichkeit das 3:2 machte. Genau das war der Moment, in dem Marc Hindelang rief: „Olympiasieger. Wir werden Olympiasieger!“ Als dann in der Schlussphase die Strafe gegen die Russen gegeben wurde, gab es endgültig kein Halten mehr. Bei mir im Wohnzimmer ging es zu wie im Stadion. Nein, schlimmer. Wir knieten, standen, sprangen, liefen hin und her, riefen, schrien durcheinander. Eine deutsche Mannschaft in einem Finale und dann auch noch so gut spielen zu sehen, das war einfach surreal.

Die Mannschaft hatte es verdient, hatte nicht versucht, über die Zeit zu kommen, sondern spielte mit. In der 30. Minute – bei 29:32 – schoss Felix Schütz den Ausgleich zum 1:1. Nur zehn Sekunden, nachdem Nikita Gusev in der 53. Minute das 2:1 für die Russen gemacht hatte, glich Dominik Kahun aus: 2:2. Dann – bei 56:44 Minuten – ging Jonas Müller durch und erzielte das 3:2.

Die deutsche Mannschaft hatte die Oberhand gewonnen. Ein Spiegel des Turnierverlaufs, der mit einer Niederlage gegen Finnland seinen Anfang genommen hatte, 2:5. Die Nachberichte waren kritisch ausgefallen. Der Tenor: Es wird trostlos werden wie so viele Male zuvor. Auch das zweite Spiel gegen Schweden ging verloren, 0:1. Uns fehlten einfach die Tore. Dann aber fing es mit dem Gewinnen an. Jeweils knapp, aber gegen zunehmend anspruchsvoller werdende Gegner: 2:1 gegen Norwegen nach Penaltyschießen, 2:1 gegen die Schweiz in der Viertelfinalqualifikation. Wieder Verlängerung, Yannic Seidenberg machte es aber kurz, traf nach 26 Sekunden. Die Brust wurde breiter, die Mannschaft fühlte sich stärker als ein Neunter der Setzliste, der es nach den Vorrundenergebnissen war.

Im Viertelfinale ging es erneut gegen Schweden. Der Favorit lag gegen die Deutschen 0:2 und 1:3 zurück, konnte aber im letzten Drittel ausgleichen. Das Schicksal schien seinen Lauf zu nehmen. Laut Drehbuch musste Schweden, die große Eishockeynation, die Sache in der Verlängerung klären. Doch stattdessen fiel ein deutsches Tor, durch Patrick Reimer, einen der ältesten Spieler, der in der Liga in seiner langen Karriere vergeblich einem Titel hinterhergejagt war. Es war unklar, ob man würde jubeln dürfen, der Treffer musste durch den Videobeweis. Alle blickten auf den Schiedsrichter, wie er zurück aufs Eis skatete, ein paar kurze Schritte, und in sein Mikrofon diesen einen Satz sagte, der die Erlösung brachte: „It was a good goal.“ Die deutsche Mannschaft stand im Halbfinale. Wie bei der Weltmeisterschaft 2010 im eigenen Land. Aber konnte die wundersame Reise noch weiter gehen?

Der nächste Gegner war Kanada. In den Fernsehnachrichten wird Kanada immer vorgestellt als „Der Eishockey-Rekordweltmeister“ oder „Der Eishockey-Olympiasieger von 2014“, und jeder weiß, dass Kanada das „Mutterland des Eishockeys“ ist. Als Deutschland ist man gegen Kanada immer Außenseiter. Das Ahornblatt auf dem Trikot ist eine Marke.

Rein fachlich gesehen hatte das Kanada in Pyeongchang nichts zu tun mit dem Kanada von Sotschi vier Jahre zuvor. Vor allem Kanada litt darunter, dass die National Hockey League, die NHL, in der sich die Stars versammelten, an diesem Olympiaturnier in Südkorea nicht teilnahm, sondern ihren Betrieb einfach fortsetzte, weil die Besitzer der Klubs auf ihre Einnahmen nicht verzichten wollten. Die Nationalmannschaft musste aus Spielern gebildet werden, die bei europäischen Klubs unter Vertrag standen. Unter normalen Umständen hätte keiner von ihnen eine Olympiachance gehabt, wenn die Superstars hätten kommen dürfen.

Ich habe mit einigen aus unserem Silber-Team nach den Olympischen Spielen gesprochen. Ich wollte wissen: Wie fandet ihr, dass die NHL und ihre Stars nicht dabei waren?

Ausnahmslos alle sagten: „Das war echt Mist, dass die nicht mitspielen konnten.“ Kurz dachte ich: „Seid ihr verrückt? Dann wäre es doch viel schwieriger gewesen.“ Doch die Spieler bestanden darauf: „Wenn du einmal die Möglichkeit hast, bei Olympia zu spielen, willst du die Besten haben, dich mit ihnen messen, egal wie. Und wenn du untergehst, weil die drüben viel besser sind und mancher von ihnen zehn Millionen verdient.“ Wenn du diese Herausforderung nicht liebst, wirst du auch kein Eishockeyspieler.

Sie hätten gerne gegen die Stars gespielt, konnten aber nichts dafür, dass die nicht da waren. Deshalb ist eine Medaille aber nicht weniger wert. Und die Spieler sind sich darüber schon im Klaren, dass sie einen Vorteil hatten, weil die NHL-Spieler nicht kamen. In der deutschen Mannschaft hätten wir ein paar gehabt, doch bei Kanada, den USA und Schweden wäre der ganze Kader voll mit ihnen gewesen.

Das Turnier hat nicht die Wertigkeit gehabt wie mit NHL-Spielern, doch andererseits hatte so keiner einen Vorteil, es herrschten gleiche Bedingungen für alle. Unter diesen Vorzeichen war das Halbfinale gegen Kanada zu sehen. Und die Geschichte war nun eben die: Eine Mannschaft kommt ins Rollen wie eine Lawine, und irgendwann ist sie nicht mehr aufzuhalten – so etwas passiert in den Play-offs oder in einem Turnier.

Man führte gegen Kanada 3:0, man führte den Gegner eine halbe Stunde richtiggehend vor. Es klappte alles. Im letzten Drittel wurde es noch mal eng, der 4:1-Vorsprung schmolz auf 4:3. Die deutschen Spieler gaben alles, warfen sich in die Schüsse der Kanadier, es war eine epische Verteidigungsschlacht. Und als sie gewonnen war, wussten die Spieler gar nicht, wohin mit ihrem Glück. Sie liefen und liefen, bis das Spielfeld zu Ende war und die Bande kam, sie klatschten gegen die Plexiglasumrandung, die unter dem Aufprall ins Schwingen geriet. Ein Fotograf, der direkt dahinter stand, hielt mit der Kamera drauf. Ihm gelang ein grandioses Bild, so nah, so scharf, dass man den Zahnschutz der Spieler sehen konnte. Am nächsten Tag war es auf Seite eins aller Zeitungen zu sehen, und zwangsläufig wurde es zum „Sportfoto des Jahres“ gekürt.

Eine Medaille, wir haben eine Medaille – und es ist mindestens Silber. Und dann – am 25. Februar morgens – führen wir 3:2 gegen die Russen, und Marc Hindelang ruft: „Olympiasieger! Wir werden Olympiasieger!“ Es stand 3:2.

Bei 57:49 nimmt der Russe Kalinin eine Strafzeit. Zwei Minuten. Bis 59:49 würde Deutschland Überzahl spielen, man muss nur die Scheibe halten. Klar, dass Russland bei erster Gelegenheit den Torhüter vom Eis nimmt – und 56 Sekunden vor Schluss trifft wieder dieser Gusev. Uns fiel die Kinnlade runter. Wir registrierten, wie die Russen feierten, wie sie durchdrehten vor Glück. Eine Situation, die wir nicht mehr für möglich gehalten, aber insgeheim befürchtet hatten.

Dass es in der Verlängerung – weil auf deutscher Seite nach zehn Minuten Patrick Reimer eine Strafe bekam – schnell klick machen würde bei den Russen, war dann leider fast zu erwarten gewesen. Gusev legte auf, Kaprizov traf. Das Finale war entschieden: 4:3 für die Olympischen Athleten aus Russland.

Unsere Mannschaft war am Boden zerstört, wir daheim waren es auch. Ich hätte dem deutschen Eishockey diese Goldmedaille mehr als alles andere gegönnt. So ein Erfolg wäre genau das gewesen, was es gebraucht hätte, Eishockey hierzulande weiter nach vorne zu bringen. Zu sehen, dass die Mannschaft das Finale spielte, um es zu gewinnen, war zutiefst beeindruckend. Darum musste man niedergeschlagen sein, denn die Russen hatten das Herz unserer Jungs in der Verlängerung zerschlagen. Bis auf 56 Sekunden war man dem Olympiasieg nahegekommen.

Eine ähnliche Situation hatte es bei der Weltmeisterschaft 2013 gegeben. Damals stand die Schweiz, unser ewiger Rivale, ein Team, dem unseren nicht unähnlich, im Endspiel und verlor gegen Schweden. Ich ging in die Katakomben, als es vorbei war, und sagte zu einem der Schweizer Spieler: „Geil, was ihr erreicht habt.“ Er schaute mich an und sagte kraftlos: „Danke, Goldi.“ Er sagte: „Fuck, wir haben gerade Gold verloren. Wer weiß, wann ich in meinem Leben einmal noch in die Lage komme, es gewinnen zu können.“

2018 habe ich diesen Schmerz selbst spüren können. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich kapiert habe, was die Mannschaft geleistet hat. Dann ist meine Kolumne für die Website von Sport1 aus mir rausgesprudelt. Unser Eishockey war über 1976 hinausgekommen. Endlich. In Innsbruck hatten die Deutschen unter glücklichen Umständen die olympische Bronzemedaille gewonnen, die Spieler aus dieser Mannschaft waren immer noch die prägenden Charaktere des deutschen Eishockeys, und sie haben auch große Verdienste. Aber es war an der Zeit, dass neue Leute kommen, neue Idole heranwachsen. Nun waren sie da. Das Eishockey hatte eine neue Geschichte. Eine, die aktuell ist, die man greifen kann.

Die Spieler streiften ihre Trauer noch auf dem Eis von Pyeongchang ab, nachdem sie ihre Gedanken geordnet hatten: Sie hatten gerade den größten Erfolg des deutschen Eishockeys erzielt. Silber! Auch wenn das deutsche Eishockey vielleicht nicht dahin gehörte, wo es am 25. Februar 2018 schließlich stand, hatte es doch einen Weg gefunden, dort zu sein.

Bei allem Schmerz, in Pyeongchang nicht live dabei gewesen zu sein: Es war auch schön, das Olympiaturnier mit Abstand zu verfolgen. So konnte ich erkennen, was es bewegte. Nicht nur in Eishockeykreisen, sondern in ganz Deutschland. Ab dem Viertelfinale konnte man erahnen, dass Außergewöhnliches geschieht. Obwohl die Zeiten, zu denen gespielt wurde, ungünstig waren. Mal tief in der Nacht, mal zur Mittagsstunde – ich hatte da auch noch anderes zu tun in meiner Physiotherapiepraxis und konnte nicht jedes Spiel verfolgen, wie ich gewollt hätte.

Spätestens mit diesem Finale wurde mir wieder bewusst, wie viel Liebe ich für diese Sportart empfinde. Aus meiner Leidenschaft war etwas noch Tiefergehendes in all den Jahren geworden. Mit der großen Liebe will man die schönste Hochzeit haben – das wäre die Goldmedaille gewesen.

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