Читать книгу Weder Hütten noch Paläste - Günther Moewes - Страница 6

Das Jahrhundert der Vermischung

Оглавление

Die Theorie, welche die Architektur unseres Jahrhunderts am stärksten beeinflusst hat, ist der Funktionalismus. Er war ein Purismus, betrieb Entmischung. Sein Ziel war Reinheit: Reinheit der Materialien durch Materialgerechtigkeit, Reinheit der Konstruktionsprinzipien durch Werkgerechtigkeit, Reinheit der Funktionen durch Funktionstrennung.

In der Praxis von Architektur und Städtebau in diesem Jahrhundert vollzog sich jedoch das genaue Gegenteil dieser theoretischen Forderungen. Es entstand eine historisch einzigartige Vermischung: Bei den sogenannten Verbundbaustoffen und in den Baumärkten entstanden extreme Materialvermischung und extremes Produktchaos. In der Architektur entstand eine nie dagewesene Vermischung der unterschiedlichsten Gebäude- und Dachformen. Im Städtebau entstand ein nie dagewesenes Chaos von Gebäudehöhen, -fluchten, -abständen und -formen. In der Raumordnung wurden Stadt und Land, Stadt und Dorf, Siedlung und Landschaft, Architektur und Natur miteinander vermischt. Und global entstand die Vermischung aller nur denkbaren Regionalcharakteristika zu einem international gleichen Einheitsgemisch. Schwarzwaldhäuser in Hollywood, Schmetterlingsgauben in Bayern und Schwedenhäuser im Sauerland. Und die Schlafstädte in Boston, Warschau und Hamburg sehen auch überall gleich aus.

Als im Nachfunktionalismus die Dämme des Funktionalismus brachen, wurde die Vermischung geradezu zum ästhetischen Prinzip erhoben: Die »Postmoderne« vermischte die verschiedensten Geschichts- und Stilelemente und -formen. »Dekonstruktivismus« und »Free Style« vermischten absichtsvoll die verschiedensten Konstruktions- und Strukturprinzipien. Das sogenannte »ökologische Bauen« vermischte absichtsvoll die Natur mit Gebäuden und die Gebäude mit Grün.

Das Phänomen der Vermischung ist aber nicht auf Architektur und Städtebau beschränkt. Auch in der Natur selbst breitet sich der »Vermischungsbazillus« rasant aus, zum Teil mit verheerenden Konsequenzen: Monokulturen von soziologiefremden, eingeschleppten »Neophyten« verdrängen einheimische Öko-Systeme (indisches Springkraut und Sachalin-Knöterich an den Flussufern deutscher Mittelgebirge, Eukalyptus in Indien, Rhododendron in Wales usw.). Tanker lassen Ballastwasser an entgegengesetztesten Teilen der Meere ab und erzeugen eine Vermischung der maritimen Ökosysteme mit unübersehbaren Folgen. Und aus Laboren entweichen Killeralgen, Mörderbienen und Viren und breiten sich über den Globus aus.

Diese Beobachtungen ließen sich beliebig fortsetzen mit der Betrachtung von Konsumdesign, Kleidung, Medien und Informationen, Sprachen, Bevölkerungen, Nationen usf. In allen Fällen weisen auch die Folgen solcher Vermischung gemeinsame Züge auf: es entsteht stets eine Nivellierung, ein Gegensatzverlust, ein Verlust von Unverwechselbarkeit, von »Diversität«. Und: die Ergebnisse dieser Vermischung lassen sich nur sehr schwer wieder rückgängig machen.

Das vermehrte Auftreten solcher Vermischung in unserem Jahrhundert legt den Verdacht nahe, dass auch die Ursachen jeweils die gleichen sein könnten, dass sie etwas zu tun haben könnten mit der Industrialisierung, mit unserer Wirtschaftsweise, mit unserem Arbeitsverständnis.

Tatsächlich wurden die Gesetzmäßigkeiten solcher Vermischung in der Physik bereits vor 130 Jahren entdeckt, von Carnot, Clausius und anderen. Man erkannte damals auch bereits die prinzipielle Unumkehrbarkeit solcher Vorgänge. Rudolf Clausius prägte den Begriff für diese Vermischung, der lange Zeit ein unbeachteter Fachausdruck der Physik blieb, heute aber immer mehr zu einem Schlüsselbegriff zur Erklärung gegenwärtiger Natur- und Zivilisationsprozesse wird: Entropie.

Schließlich erkannte in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts auch bereits der Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen, dass dieses physikalische Prinzip auch die Gesetzmäßigkeit unserer Wirtschaftsvorgänge bestimmt.

Ausgehend von diesen Erkenntnissen, möchte ich zu Beginn die Leitthese dieser Arbeit formulieren:

Die nachfunktionalistischen Architekturstile und -moden sind der visuelle Nachvollzug der Permissivität unserer Wirtschaftsweise. Sie haben jeden evolutionären Anspruch aufgegeben und versuchen nur noch, die allgemeine Vermischungstendenz unseres Wirtschaftens zur Tugend zu erheben, sie möglichst heiter abzubilden. Sie korrumpieren den Widerstand gegen diese für unseren Globus tödliche Bedrohung.

Weder Hütten noch Paläste

Подняться наверх