Читать книгу Briefgeschichte(n) Band 1 - Gottfried Senf - Страница 14
Georgetown, 18. Juni 1991
ОглавлениеLieber Dr. Senf,
vor zwei Tagen sind wir aus Dover zurückgekommen, wo wir (meine Frau und ich sowie ein befreundetes Ehepaar) außerordentlich interessante Tage verbracht haben. Wir besuchten dort drei alte Herren, die sich sehr gut an Paul Guenther erinnerten und mir Sachen erzählten, die Ihnen möglicherweise unbekannt sind. Außerdem unterhielt ich mich ausführlich mit zwei Stadthistorikern und mit einer alten Dame, die mit Frau Margaret Reiner befreundet war. Ich lege Ihnen einige Seiten mit Daten über Dover bei sowie Karten, aus denen Sie ersehen können, dass Dover etwa so viele Einwohner wie Geithain hat. Oder irre ich mich? Dover und Rockaway fließen ineinander. Man merkt nicht, wo die eine Stadt aufhört und die andere anfängt. Dadurch macht Dover den Eindruck, mehr als 14.600 Einwohner zu haben. Vor hundert Jahren war es nicht größer, als Geithain damals war. Es hatte etwa 6000 Einwohner. Als Paul Guenther nach Dover kam, mietete er sich ein Zimmer im obersten Stock eines Hauses, in dem der Hausmakler Schwarz sein Büro hatte. Der Sohn dieses Maklers betreibt sein Geschäft noch im gleichen Haus. Ich hatte eine sehr nette Sitzung mit ihm und er gab mir die beiliegende Karte der Guentherschen Fabrik mit den Arbeiter- und Beamtenhäusern. In seinem Büro hing das Foto seines Geschäfts-Hauses, wie es vor hundert Jahren aussah. Ich habe das abfotografiert und dann noch eine Aufnahme vom selben Gebäude gemacht, so wie es jetzt aussieht. Unterdessen ist nun wieder der Sohn des Herrn Sidney Schwarz der Leiter des Maklergeschäfts und Sidney Schwarz, der wohl bald 90 Jahre alt sein wird, kommt nur selten ins Büro. Während des Winters war er in Florida. Herr Schwarz gab mir schließlich noch zwei Fotos der Turnhalle, die Paul Guenther für seine Arbeiter gebaut hatte. Dieses Gebäude wurde vor einigen Jahren abgerissen. Paul Guenther hatte also ein Zimmer im Haus 28 – 30 North Sussex Street in Dover, und er arbeitete für sieben Jahre in verschiedenen Textilfabriken in Dover und Umgebung. Unterdessen hatte er 1896 Olga Mechel geheiratet. Er lieh sich von einer Frau Reinhardt, einer Freundin von Olga und ihm, 400 Dollar und gründete damit eine ganz kleine Strickerei in Paterson bei Dover. Bald zog er nach Dover in ein größeres Gebäude, das er mietete und schließlich in seine eigene Fabrik an der Oak Street, die dann bald vergrößert werden musste. Von 1902 an wuchs sein Geschäft rapide. Er importierte Ludwig- und Richter-Strickmaschinen aus Deutschland, die von deutschen Mechanikern installiert wurden. Zwei seiner Meister, Max und Otto Hahn (Vater und Sohn), erfanden eine neue Art Fersen zu stricken, worauf die ganze Welt diese seidenen Modestrümpfe haben wollte. Alle Einzelheiten dieser Erfolgsgeschichte können Sie auf der beiliegenden Seite aus der Geschichte von Northwestern New Jersey nachlesen. Meine Farbfotografien geben Ihnen hoffentlich einen Eindruck, wie die Fabrik in Dover sowie die um die Fabrik herum gebauten Häuser des „Deutschen Viertels“ heute aussehen. Es gibt zwei Typen von Häusern im Deutschen Viertel, Einfamilienhäuser und Zweifamilienhäuser. Die Beamtenhäuser sind unterschiedlich. Paul Guenther verkaufte seine Fabriken 1927 an den Gotham Konzern in New York. Er war damals schon leidend und er lebte dann noch 5 Jahre in seinem großen Haus in Rockaway. Nach dem Kriege war dann die Fabrik an der King Street im Besitz der weltbekannten Mc Gregor Sportswear Firma (siehe Firmenschild auf Foto von mir). Jetzt ist die Fabrik hauptsächlich ein Lagerhaus. Die Kopien der beiliegenden Fabrikfotos habe ich von einem Herrn George Coulthard bekommen. Dieser Herr ist, wie Sie, ein Heimathistoriker, und ich hoffe noch weitere Unterlagen von ihm zu erhalten. Nach dem Verkauf seiner Fabriken war Paul Guenther an einer Fabrik eines Freundes, mit Namen Henry Fischer, beteiligt. Dieser Herr ist auch in seinem Testament erwähnt. Auch diese Fabrik, die Pyramid Hosiery hieß, ist jetzt ein Lagerhaus der Frances Yarn Corporation. Das große Landhaus Paul Guenthers steht leider nicht mehr. Man hat an die Stelle eine moderne Oberschule gebaut. Darum herum ein herrlicher Park mit Bäumen, die wohl Guenther pflanzen ließ. Nach der Straße eine Mauer aus Feldsteinen, ebenso an der grasüberwachsenen Auffahrt entlang. Das Haus, in dem die Dienstleute wohnten, steht auch noch. Es ist jetzt ein privates Haus. Paul und Olga Guenthers Tochter Margaret war in erster Ehe mit Harold Osgood verheiratet. Mir wurde gesagt, dass er ein Kaffeegroßkaufmann war. Das Ehepaar hatte eine Tochter, Virginia. 1929 heiratete Margaret Robert Reiner, der in Weehawken, New Jersey, eine große Import-Firma hatte. Das Gebäude steht noch und ich habe es im Vorbeifahren aufgenommen. Mir wurde erzählt, dass die Reiners und Olga Guenther nach Paul Guenthers Tod in New York gelebt haben, in einem Apartement am Central Park. Ich habe einige Briefe nach New York geschickt, um zu erfahren, wo das gewesen ist, und ich hoffe dort mehr zu erfahren. Die Biographie von Robert Reiner lege ich bei. Von Herrn Willard Hedden, einem über 90 Jahre alten früheren Bürgermeister von Dover, bekam ich den Rasierbecher von Paul Guenther geschenkt, einen weißen Porzellanbecher mit dem Namen Paul Guenther in Gold. Früher gingen die Herrn jeden Tag zum Barbier, um sich rasieren zu lassen. Da hatte jeder seinen eigenen Becher, der beim Barbier auf einem Regal stand. Herr Hedden war der Besitzer des Hauses, in dem der Barbier sein Geschäft betrieb. Als der vor vielen Jahren sich zur Ruhe setzte, kamen einige Becher in die Hände von Herrn Willard Hedden. Er fand sie in dem Laden, aus dem der Barbier ausgezogen war. Da er Paul Guenther gut gekannt hatte, hob er den Becher auf zum Andenken an einen großen Amerikaner, wie er mir sagte. (In Memory of a great American).
Lieber Dr. Senf, ich meine, man sollte in der Schule oder im Elternhaus von Paul Guenther oder im Rathaus einen Raum einrichten, in dem alles gesammelt wird, was auf Paul Guenther Bezug hat. Ebenso sollte in Dover ein solcher Gedenkraum entstehen. Als ich in Dover die Bilder der Schule vorzeigte, die Sie mir geschickt hatten, war man höchst erstaunt. Man wusste, dass Guenther seiner Heimatstadt eine Schule gestiftet hatte, doch wusste man nicht, dass diese Schule so prächtig war. Der Bürgermeister von Geithain und der Bürgermeister von Dover sollten Verbindung miteinander aufnehmen und die beiden Städte sozusagen Schwesternstädte werden. Das wäre ein würdiges Denkmal für Paul Guenther, und es könnte auch zum Verständnis zwischen zwei verschiedenen Kulturen beitragen. Zum Beispiel könnten junge Leute in den Sommerferien von einer Stadt zur anderen ausgetauscht werden, wo sie dann bei Familien untergebracht würden. Man könnte auch gegenseitig Lehrlinge ausbilden. In dieser Beziehung hat Deutschland Amerika viel voraus. Hier ist die Lehrlingsausbildung meist schlecht, was sich natürlich auf die Qualität der hergestellten Produkte auswirkt. Paul Guenther wusste, warum er so viele seiner wichtigsten Arbeiter aus Sachsen nach Amerika holte. Ich bin weit ausgeschweift. Es fing mit einer kleinen Gedenkstätte für Paul Guenther an. Dieser Rasierbecher, sind Sie daran interessiert? Wenn ja, dann schicke ich Ihnen den.
Über Paul Guenthers mögliche Freundschaft mit Präsident Hoover habe ich Nachforschungen angestellt. Über die Familie und noch lebende Nachkommen hoffe ich mehr zu erfahren. Der Soldat, der in Greifenhain nach der Paul Guenther Schule fragte, kann ein Sohn von Robert Reiner aus erster Ehe gewesen sein.
Sie sollten, wenn möglich, einmal selbst hierher kommen. Paul Guenther scheint, neben seinem beruflichen Erfolg, auch ein bedeutender Mensch gewesen zu sein. Er ist wohl wert, dass jemand seine Biographie schreibt. Ich hörte Anekdoten über ihn, die bezeichnend sind. Sein Erfolg als Geschäftsmann kam wohl daher, dass er unbedingt verlässlich war, aber auch auf Verlässlichkeit in Menschen und Maschinen bestand. Zu seinem Autopark gehörte ein Rolls Royce und ein Pierce Arrow. Einmal, auf dem Wege nach New York (er saß immer in der Mitte des hinteren Sitzes), versagte der Rolls Royce und blieb stehen. Nun kann man an diesen Motor nicht heran, das können nur die Mechaniker der Firma. Guenthers Fahrer musste also zum nächsten Telefon laufen und die Rolls Agentur anrufen. Es dauerte etwa zwei Stunden, bis der Mechaniker eintraf. Unterdessen saß Guenther in der Mittagshitze in seinem Auto ohne sich zu rühren. In kürzester Zeit hatte der Mechaniker den Schaden behoben und Paul Guenther war wieder flott. Er ließ sich auf dem direktesten Weg zum Händler fahren, der ihm den Rolls verkauft hatte und tauschte ihn dort gegen einen anderen Wagen. Natürlich war er ein Autokrat. Mit Gewerkschaften (hier „Unions“), hatte er nicht viel im Sinn. Auch darüber habe ich einiges erfahren. Doch wie Henry Ford in Detroit, bezahlte Guenther seine Arbeiter für damalige Verhältnisse sehr gut, und er hatte, in 30 Jahren als Unternehmer, nur einen Streik, was beachtlich ist. Während dieser Jahre wurden in Amerika harte Arbeitskämpfe ausgetragen.
Für heute soll das genug sein. Wie geht es in Geithain? Ich kann mir vorstellen, dass die Umstellung enorme Schwierigkeiten mit sich bringt. Meine Frau und ich wünschen Ihnen alles Gute.
Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich Ihr Ulrich J. Sommer