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Cassie

“Tut mir leid. Ich hätte nicht—” Ich wandte mich ab, plötzlich beschämt über meinen mangelnden Anstand.

Vielleicht war es der Schrecken darüber Maddox eventuell zu verlieren, der mich dazu getrieben hatte, ihn zu küssen. Um fair zu bleiben, es war ein grässlicher Tag für mich gewesen. Erst hatte ich Herr Anderson mit durchtrennter Kehle gefunden und dann war Maddox vom Pferd gefallen. Leute starben an solchen banalen Sachen.

“Nein, Cassie. Du darfst dich niemals dafür entschuldigen auf mich zuzugehen. Ich werde dafür sorgen, dass du noch sehr viel mehr tun wirst.” Seine Hand war um meinen Nacken geschlungen und ich schmiegte mich an ihn, denn ich konnte seinem verlockenden Duft, dem Gefühl seiner Lippen auf meinem Scheitel nicht länger widerstehen. Ich wollte nicht länger an Blut und Tod und daran, dass wir von Neron verfolgt wurden, denken. Ich wollte einfach nur die Augen schließen und mit Maddox im Traum versinken.

Maddox. Ich wusste, dass der Gedanke sowohl unpraktisch als auch unangemessen war, aber ich konnte ihn einfach nicht abstellen. Ich kannte ihn kaum, aber sollte er je eine andere anrühren, würde mein Herz in tausend Stücke zerbrechen.

Maddox zog mich auf die Füße hoch und führte mich zu meinem Pferd. “Wir müssen weiter.”

“Ich weiß.” Ich reichte ihm den ReGen-Stab und sah zu, wie er zu seinem eigenen Pferd ging und das seltsame Objekt in die Satteltasche stopfte. Nachdem wir beide aufgestiegen waren, führte ich mein Pferd vom Fuße der Schlucht zum bestmöglichen Pfad hoch und meine Lieblingsstute Cali bahnte sich mit festen Hufen den steilen Hang hinauf.

Vor mir breiteten sich die Berge aus, sie verdeckten vollständig den Horizont, als Maddox auf seinem Pferd zu mir stieß. Ich versuchte auszublenden, was ich heute alles verloren hatte. Herrn Anderson hatte ich fast mein gesamtes Leben lang gekannt. Er hatte mich großzügigerweise bei sich aufgenommen und fast wie sein eigenes Kind behandelt. Ich hatte seinen Sohn geheiratet und war offiziell Teil seiner Familie geworden. Sie alle waren jetzt tot. Herr und Frau Anderson und Charles. Ich hatte keine Familie mehr. Niemand, der zu mir gehörte, der mich vermissen würde. Ich fühlte mich vollkommen allein. Und der Anblick meines toten Adoptivvaters würde mich für immer verfolgen.

Die Vorstellung aber, dass Maddox sterben könnte, war einfach nur grauenhaft. Schlimmer als das. Der Gedanke, dass ihm etwas zustoßen konnte, brach mir das Herz. Charles hatte sich mehr wie ein Bruder als ein Geliebter angefühlt. Seine Berührungen hatte meine Gefühle kaum auflodern lassen, aber Maddox, den ich erst seit zwei Tagen kannte—zwei Tage! —bewirkte so tiefe, so heftige Dinge in mir. Ich hatte nicht einmal geahnt, dass solche Emotionen überhaupt möglich waren. Es war so verwirrend!

Ich hatte verlangt, dass er die Finger von mir ließ. Damit ich mich damit anfreunden konnte, dass er … von einem anderen Planeten kam. Wie konnte ich mich einem Mann an den Hals werfen, der möglicherweise verrückt geworden war oder, schlimmer noch, aus dem Weltall kam?

Er sprach von Everis und von Raumschiffen, als ob sie wirklich existierten und ich hatte an ihm gezweifelt. Wie konnte ich das auch nicht? Es war reine Fiktion, Punkt aus. Aber dann hatte er mir diesen heilenden Stab gezeigt und ich konnte nicht länger daran zweifeln. Von einem anderen Planeten aber? Das war schwer zu begreifen. Ich konnte mir nicht einmal eine Großstadt wie Denver oder Omaha vorstellen und erst recht nicht ein fliegendes Schiff.

Ein fliegendes Schiff! Ich konnte es mir kaum vorstellen. Ein Vogel, ja. Aber der Gedanke an ein Schiff, das über Mond und Sonne hinaus in den Weltraum reisen konnte, war jenseits meiner Vorstellungskraft. Und da draußen, im Weltraum, weit entfernt lebten andere Leute. Und Maddox wollte, dass ich zu denen mitkam.

Ich wusste nur, dass ich mit Maddox zusammen sein wollte. Ich wollte von ihm gehalten, von ihm geküsst werden. Ich wollte von ihm geliebt werden und ich war zu schwach, um mir seine Berührungen vorzuenthalten. Ich hatte ihm gesagt, dass er mich nicht anrühren sollte und später hatte ich ihn geküsst. Und nicht irgendein Kuss. Es hatte sich angefühlt, als ob ich mich in ihm verlieren würde, als ob ich zu allem bereit war, um die Hitze und die Sicherheit seiner Umarmung zu spüren. Denn obwohl er mich vor Verlangen in Flammen aufgehen ließ, so fühlte ich mich in seinen Armen sicher. Diesen Widerspruch war ich nicht gewohnt. Maddox war einfach unwiderstehlich.

Außerdem war er bescheiden. Er hatte aufmerksam zugehört, als ich ihm gezeigt hatte, wie man das Pferd zum Traben ritt. Wir waren langsam losgeritten und als er besser klarkam, hatten wir unsere Pferde immer weiter angespornt. Noch schneller. So wie er die Umgebung im Auge behalten hatte, wusste ich, dass er so schnell wie möglich zu seinem Schiff zurückwollte. Neron war immer noch da draußen. Wir brauchten nicht noch ein Missgeschick, das uns bremsen würde. Aber hin und wieder spürte ich seinen sengenden Blick auf mir und ich wusste, dass das nicht der einzige Grund war.

Ich sehnte mich ebenfalls danach, endlich ans Ziel zu kommen. Die vielen Stunden im Sattel hatten meinen Beinen und meinem Hintern zugesetzt und ich war in Schweiß gebadet. Mir war heiß und ich fühlte mich erbärmlich, aber ich würde mich nicht beklagen. Ich wollte, dass dieser Ritt ein Ende hatte, ob nun in einem Hotel oder einem Raumschiff, das war mir an diesem Punkt egal, solange ein Bad und ein weiches Bett auf mich warteten.

Wir mussten anhalten, um den Pferden eine Pause zu gönnen. Wir fanden einen kleinen Bach und ließen die Tiere trinken und etwas Gras rupfen. Wir hatten ein stillschweigendes Einverständnis uns nicht zu berühren und Maddox blieb die ganze Zeit über wachsam, er behielt immerzu den Horizont im Auge, während er mich nach den wilden Kreaturen fragte oder den Bäumen an denen wir vorbeikamen. Weit vor Sonnenuntergang erreichten wir die Berge und ich ritt hinter Maddox her, als wir uns durch einen Canyon schlängelten.

Wir durchquerten eine Hecke aus robusten Kiefern und ich folgte Maddox durch eine scharfe Kurve in einen abgelegenen Canyon. Und da, genau vor uns, stand das erstaunlichste Ding, das ich je gesehen hatte.

Sein Schiff. Ich hatte meinen Teil an Maschinen gesehen, immerhin fuhr alle paar Tage die Eisenbahn bei uns durch. Aber das hier sah nicht im geringsten wie eine Lokomotive oder selbst die Druckerpresse bei der Zeitung mit ihren Zahnrädern und Eisenpressen aus. Nein, es war glatt wie poliertes Silber, nur dunkler; das Äußere erinnerte mich an das dunkle Grau von angelaufenem Silber. Es war fast so groß wie die Pension mit vier Abschnitten und fast ohne Fenster. Die Oberfläche schien in eigenartige Blockmuster unterteilt zu sein und war mit kleinen schwarzen Kugeln und anderen Projektilen gesäumt; die schwarzen Kugeln erinnerten mich an die Augen einer Spinne, die in alle Richtungen zeigten. Es war groß wie vier Lokomotiven, die zu einem riesigen ‘T’ zusammengesetzt waren und der Hals war schmal, wie bei einem Huhn. Am Kopf konnte ich durch die Fenster hindurch in einen kleinen Raum mit mehreren Sitzen und Schaltern blicken.

Sitze. Für die Leute, die dieses Schiff fliegen würden, diesen seltsamen, fetten Metallvogel.

Mein Herz raste, als ich aus dem Sattel stieg. Noch ehe meine Füße den Boden berührten, war Maddox zur Stelle und half mir auf meine wunden, wackeligen Beine. Hier, genau vor mir stand der Beweis für Maddox’ Behauptungen. Ein fliegendes Schiff!

“Willkommen bei der Aurora, Cassie.”

“Dein Schiff hat einen Namen?”

“Nun, es ist Thorns Schiff, aber ja, jedes Schiff bekommt einen Namen.” Er legte seine Hand um meine Taille und stützte mich ab, als ich nach vorne trat. Ich hob die Hand und wollte ihn berühren, dann aber besann ich mich eines Besseren.

“Thorn?”

“Thorn ist unser Kommandant auf dieser Mission. Als Neron aus dem Gefängnis entwischt ist, war er nicht allein und die Sieben, also unsere Anführer, haben uns entsendet, um sie zurückzuholen.”

“Wie viele Everaner sind also hier? Auf der Erde?”

“Es heißt Everianer. Und ich bin nicht sicher, wie viele sich jetzt mit Neron zusammengerottet haben, aber einschließlich mir sind jetzt vier Jäger auf der Erde. Thorn ist unser Kommandant und hält sich immer an die Regeln. Er ist knallhart und befolgt nach Strich und Faden das Gesetz. Jace und Flynn sind Jäger, die aufs Geld und aufs Abenteuer aus sind. Sie sind Brüder und stammen aus einer unserer äußeren Regionen.”

“Und du?”

“Ich? Was ist mit mir?”

“Warum tust du das? Warum bist du ein Jäger? Machst du es des Geldes wegen? Oder aus Abenteuerlust?” Ich blickte ihm in die Augen, damit ich sehen konnte, ob er mich anlog war oder die Antwort ihm unangenehm war.

“Meine Familie ist eine der wohlhabendsten auf ganz Everis. Ich brauche das Geld nicht. Ich tue es, weil irgendjemand es tun muss, weil jemand dieses Übel aufhalten muss. Ich tue es, weil ich an Gerechtigkeit glaube. An Rache.”

“Dann bist du aus Rache hier.”

“Wahrscheinlich.” Er blickte mich an und maß meine Reaktion auf seine Worte. Einen Moment lang spürte ich in mich hinein und mir wurde klar, dass ich derselben Meinung war. Wahre Gerechtigkeit war wichtiger als starre Gesetze in alten vergilbten Büchern. Also zuckte ich zustimmend die Achseln und wandte mich dem Schiff zu. Ich hob die Hand und wollte es anfassen, auf halbem Wege aber machte ich halt.

“Darf ich?”

“Sicher doch.”

Ich ignorierte das Zittern meiner Finger, hob den Arm und strich mit der Hand über die glatte Oberfläche. Sie war kalt und fest, wie der Wetzstein, den ich in der Küchenschublade aufbewahrte. Das Schiff stand auf acht riesengroßen, merkwürdigen Beinen, die sich unten wie Gänsepfoten ausbreiteten. Ich ging ums Äußere herum und hinten sah ich drei große Röhren herausragen. Sie rochen verbrannt, wie drei Tage alte Asche vom Boden einer Feuerstelle. “Ist das der Motor?”

“Ja, aber es ist kein Motor, wie du ihn kennst. Wir nutzen die Gravitationskraft der dunklen Materie, wenn wir das Schiff vorantreiben. Wenn wir fliegen, dann werden wir entweder von einer Gravitationsquelle im Weltraum angezogen oder weggestoßen. Oder wir werden vom Gravitationsfeld des Planeten angezogen, sobald wir ankommen.”

“Was?” Auf einmal wurde mir schwindelig und ich trat zurück und schüttelte den Kopf. Das war zu viel für einen Tag. Echt zu viel. Ich hatte keine Ahnung, wovon er da redete und ich kam mir klein und dumm vor und völlig überfordert. Überwältigt.

Ich stand direkt vor einem Raumschiff! Maddox kam aus dem Weltraum. Es war zu viel für mich.

“Ich kann das nicht. Ich muss gehen.”

Ich stolperte zu meinem Pferd zurück, Tränen liefen mir über die Wangen. Den ganzen Tag hatte ich sie in Schach gehalten und beständig den Blutgeruch aus meinem Kopf gedrängt, als wir schnurstracks hierher geritten waren. Zu diesem Ding, von dem Maddox behauptete, dass ich darin in Sicherheit wäre. Es wirkte alles andere als sicher, eher wie ein Käfig, eine gigantische Stahlkiste, die mich für immer gefangen halten würde.

Er ließ mich zu meinem Pferd zurückgehen, aber selbst sie scheute bei meinem Zustand. Ich konnte es ihr nicht verübeln, denn ich war total hinüber.

Maddox schlang von hinten die Arme um mich und ich schubste ihn weg. Ich wollte nicht von ihm gehalten werden, ich wollte nach Hause. Zurück in ein Leben, das ich auch verstand.

“Cassie, halt an.”

“Nein. Lass mich gehen.” Meine Stimme überschlug sich, sie war mit Furcht und Frustration getrübt. Verwirrung.

“Ich kann nicht. Neron ist immer noch da draußen, Cassie. Bitte. Hör mir zu. Wir gehen an Bord und ich werde dir ein Bad einlassen und Abendessen machen. Bitte.”

“Neron kann zum Teufel gehen. Ich habe ein Gewehr und ich weiß, wie man damit umgeht.” Das familiäre Objekt ragte aus der Satteltasche, aber im Vergleich zu diesem Schiff neben mir sah es einfach nur alt und primitiv und nutzlos aus.

“Du hättest keine Chance, Cassie. Bitte. Vertrau mir.”

Oh, seine Stimme klang so beruhigend, die reinste Versuchung für meinen müden Verstand. Aber ich wollte nicht an Bord dieses bescheuerten Schiffs gehen. Ich wollte nichts damit zu tun haben. “Ich bin ein verdammt guter Schütze.”

Das war ich. Nach Charles’ Tod hatte ich ununterbrochen geübt; ich hatte einfach das Bedürfnis, mich stark und mächtig zu fühlen. Das scharfe Knallen des Gewehrfeuers hatte mir genau das gegeben. Mehr als einen Monat lang hatte ich jeden Cent für Munition ausgegeben. Ich konnte aus hundert Schritten Entfernung einer Wespe den Schwanz wegschießen. Ich war verdammt gut.

“Du würdest ihn niemals kommen sehen, Cassie.”

Darauf wirbelte ich herum, mein Zorn machte mich übermütig. Ich begrüßte das Gefühl. Ärger war besser als Angst. “Er ist nur ein Mann, Maddox. Ein kranker, perverser Mann, ein Killer, der den Tod verdient hat.” Ich hob mein Kinn und starrte den Mann an, der mich hierher, an diesen verrückten Ort gebracht hatte. “Wenn er mir über den Weg läuft, dann werde ich ihn erschießen.”

Ja, erschießen würde ich ihn. Warum hatte ich nicht früher daran gedacht? Ich war nicht hilflos. Und ich hatte es satt, wie ein verängstigtes Kaninchen davonzurennen und mich zu verstecken. Der Anblick von Herr Andersons Leichnam hatte mir zugesetzt, mehr aber nicht. Ich lief vorwärts und stocherte mit dem Finger in Maddox’ Brust.

“Ich werde ihn für seine Taten erschießen. Aber ich gehe nicht auf dieses Schiff.”

Maddox starrte auf mich hinunter. Ich erwartete, Zorn oder Irritation in seinen Augen zu sehen. Stattdessen schüttelte er nur den Kopf und verkniff sich ein Grinsen. “Du bist einfach klasse, Cassie.”

“Was? Bist du verrückt geworden?” Ich drohte einen Mann zu töten und er stand einfach nur da und grinste wie ein Vollidiot.

“Ja. Nach dir.” Er schaufelte mich auf seine Arme und ich hatte keine Chance Widerstand zu leisten, als er mich Richtung Schiff trug. Als wir uns näherten, tauchte der Umriss einer Tür auf und ein schmaler Abschnitt des Schiffs senkte sich zum Boden hinunter. Die Rampe hatte drei große Stufen und ich trommelte gegen Maddox’ Brust, als er mich zum Eingang trug.

“Lass mich runter!”

“Ich habe geschworen dich zu beschützen, Cassie, und genau das werde ich auch tun.”

Ich fing an zu treten und wand mich in seinem Griff, aber ohne Erfolg. Binnen Sekunden waren wir auf der Plattform und im Inneren des Schiffs und die Tür ging sofort wieder zu. Ich schaute mich um und erwartete mehr von der dunkelgrauen Farbe der Außenhülle zu sehen. Stattdessen waren die Innenwände braun wie geschmolzenes Karamell. Sie waren glatt und die Lichter, die alle paar Schritte im Flur eingebaut waren bewirkten, dass der Flur hell erleuchtet war. Der Boden war ein dunkleres Braun und war mit einem seltsamen Kreuzmuster strukturiert, das wohl dafür sorgte, dass niemand ausrutschte. Der Flur teilte sich in zwei Gänge, aber in keinem von beiden konnte ich irgendetwas Bemerkenswertes ausmachen. Noch mehr Flurraum. Ein paar Türen. Es war nicht viel anders als wie in einem Haus und ich war erleichtert. Ich hatte mir finstere Tunnels und gruselige Käfige ausgemalt, keinen hell erleuchteten Gang, wie es ihn auch in jedem großen Haus hätte geben können.

“Bist du fertig?”

Ich blickte zu Maddox auf, seine eindringlichen Augen studierten mich und waren zum ersten Mal am Tag nur auf mich fokussiert. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich sein Verlangen erkannte. Ich nickte. “Es ist ziemlich eintönig. Du könntest etwas Tapete anbringen.”

Maddox schmunzelte und beugte sich vor, um mich zu küssen. “Was hältst du von einem Bad?”

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