Читать книгу Lipstick Traces - Greil Marcus - Страница 25
MAN SAGT,
Оглавлениеin den fünfziger Jahren hätten fünfzehntausend schwarze Vokalgruppen Platten aufgenommen. Ich weiß nicht, ob das stimmt; ich staunte nicht schlecht, als ich das erste Mal auf diese Zahl stieß. Punk machte sie glaubwürdig.
Die Öffentlichkeit hat nur den kleinsten Teil dieser Gruppen wahrgenommen, aber sie alle waren darauf aus, von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden; sie waren auf Ruhm und Geld aus und auf das Gefühl, dass hier, wenn auch nur im Phantasie-Utopia einer Drei-Minuten-Schallplatte, Leute hervortraten, die nie zuvor Grund zu der Annahme hatten, irgendwer könne sich dafür interessieren, wie sie klangen oder was sie zu sagen hatten. Es war eine in der Geschichte der populären Kultur noch nicht dagewesene Stimmenflut, und mit anderen Formen frühen Rock ’n’ Rolls – dem raffinierten Rhythm and Blues von Ray Charles oder Clyde McPhatters Drifters, dem Rockabilly von Elvis, Carl Perkins und Jerry Lee Lewis, den irren Ausbrüchen eines Little Richard, den pfiffigen Teen-Hymnen Chuck Berrys, den Überraschungen von Krachmachern wie den Monotones – markierte sie weltweit die Veränderung der populären Musik. »Ich muss mit einem Jungen namens Elvis Presley reden«, erklärte 1956 die Rektorin einer Londoner Gesamtschule, »weil er in jedes Pult der Schule seinen Namen geritzt hat.#
»ES WAR EINFACH herrlich, in einem bereits fortgeschrittenen Alter die Sorte Gefühl wiederzuentdecken, das ich zum ersten Mal als Junge hatte, als ich Little Richard und Elvis hörte. Es war aufregend, aber auch irgendwie beängstigend … man dachte: ›Passiert das wirklich?‹ Man ging zu den Gigs und hatte das Gefühl, an etwas teilzunehmen, das von einem anderen Planeten stammte, es kam einem so erstaunlich vor, dass es überhaupt stattfand.«
John Peel, Diskjockey bei der BBC, 1986; über Punk in London, 1976
Das nächste wichtige Ereignis für den Rock ’n’ Roll – das Auftreten der Beatles in Liverpool und London zwischen 1962 und 1963, beeinflusst durch James Browns schwarzen Rock, durch Motown in Detroit und Stax in Memphis – sorgte nicht für eine solche Kakophonie. Zahllose neue Bands nahmen Platten auf, aber als sie sich erst mal etabliert hatte, setzte sich die neue Musikrichtung bald durch und griff auf den gesamten Westen über; in Verbindung mit der sozialen Revolte der amerikanischen Schwarzen, dann mit der internationalen Rebellion weißer Jugendlicher, wurde der Rock ’n’ Roll dünkelhaft. Als Kunst gepriesen, wurde er befangen. An die Stelle des Geistes, der die Welt überhaupt erst auf den Sound aufmerksam gemacht hatte – jener Eifer, einfach alles zu tun, um Gehör zu finden, der einem bei vielen Singles aus den fünfziger Jahren oder vielen drittklassigen Beatles-Imitationen des Jahres 1964 auffällt –, trat ein Kult der Weisheit, Verantwortung und Virtuosität.
Anfangs hatten ihnen noch Hunderte winziger unabhängiger Labels den Rang abgelaufen, aber ab Mitte der sechziger Jahre verfügten die großen Plattenfirmen über die großen Künstler und schufen ein Zentrum; aus dem Rahmen fallende Musik, ein in den Fünfzigern ganz unvorstellbares Konzept, klang bald nur noch verschroben. Im Jahr 1967, in dem für die Popmusik das Beatles-Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band bestimmend war, regierte den Rock ’n’ Roll eine Ideologie der Bejahung, der Kreativität und Neuerung. Beinahe alles klang hoffnungsvoll, wichtig und neu, doch in Wirklichkeit implodierte die Musik. Beinahe alles orientierte sich zum Zentrum hin, und den Rest stieß das rotierende Zentrum ab. Gegen Ende des Jahrzehnts aufkommende Warnungen wie »A Day in the Life« der Beatles, Let It Bleed von den Rolling Stones, Bob Dylans John Wesley Harding, White Light/White Heat von den Velvet Underground, John Lennons Plastic Ono Band oder There’s a Riot Goin’ On von Sly and the Family Stone samt dem anschließenden desillusionierten, politisierten schwarzen Pop wurden sogar von denen ignoriert, die sie aussprachen. Das Musikgeschäft tendierte zur Rationalisierung; dieser Prozess war 1975 fast abgeschlossen, als Konglomerate der Freizeitindustrie die Plattenverkäufe in den Händen von ein paar Firmen konzentriert hatten, kaum mehr, als es amerikanische Autohersteller gab. »Unterhaltung setzt nicht den Glauben außer Kraft«, schrieb Michael Ventura 1985, »sondern Werte. Man könnte dies sogar die Bedeutung der von uns praktizierten Unterhaltung nennen: die Ablösung außer Kraft gesetzter Werte, mit denen wir nicht mehr leben möchten, aber ohne die zu leben wir uns nicht trauen … Von der Arbeit nach Hause kommen und auf einen Bildschirm starren, auf dem andere intensiver leben als man selbst … so sieht das amerikanische Leben im Großen und Ganzen aus.« Genauso gut hätte Ventura »das moderne Leben« schreiben können. Warner Communications, damals das führende Unternehmen der Freizeitbranche, hatte sich bereits 1977 in seinem Jahresbericht des Problems angenommen:
Unterhaltung ist zur Notwendigkeit geworden. Diese Aussage scheint übertrieben: Kann Unterhaltung in dem Sinn notwendig sein, wie Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf notwendig sind?… Das Problem bei obiger Aussage ist nicht das Wort »notwendig«, sondern das Wort »Unterhaltung«. Noch vor zwanzig Jahren hätte »Unterhaltung« – Zeitvertreib, Amüsement – zur Bezeichnung des überwiegenden Teils von Filmen, Fernseh- und Rundfunkprogrammen, Printmedien und Tonaufnahmen ausgereicht. Doch heute erscheint uns das Wort unzureichend, von den Ereignissen überholt. Heute haben diese Medien eine vielseitigere und wichtigere Rolle zu erfüllen, als lediglich zum angenehmen Zeitvertreib beizutragen. Was ihre mechanischen Verfahren betrifft … [sind] die Medien weitgehend unverändert [geblieben]. Doch was ihren persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen angeht, haben sie sich vollständig gewandelt … Die seit dem 19. Jahrhundert weltweit rasant fortschreitende Industrialisierung stellt, wie viele meinen, eine ernste Herausforderung für die individuelle Identität dar: Eine immer effizientere, standardisierte Welt gefährdet ihre persönliche Freiheit, die Bedeutung und Möglichkeiten, woraus ein Gefühl der Entmündigung des Ichs resultiert.
Das meinte Harold Rosenberg 1956, als er von der »Proletarisierung« sprach; der von der Organisation der modernen Gesellschaft herbeigeführte »Prozess der Entpersönlichung und Passivität«, die Ausweitung »der psychischen Verhältnisse des Fabrikarbeiters im neunzehnten Jahrhundert« auf die gesamte Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. »Davon demoralisiert, dass sie sich selbst fremd sind und ihre Beziehungen zu anderen kaum kontrollieren«, schrieb Rosenberg, »ergeben sich Angehörige jeder Klasse künstlich konstruierten Massen-Egos, die versprechen, ihre Verbindungen zu Vergangenheit und Zukunft wiederherzustellen.« Warner Communications sah 1977 die Lage nicht ganz so schwarz:
Nachdem er der Technik erlaubte, das Problem zu schaffen, hat sich der Mensch nun daran gemacht, es mit Hilfe der Technik zu bereinigen. Seit der exponentiell gesteigerten Verfügbarkeit aller Formen von Kommunikation mussten die »Unterhaltungs«-Medien dazu herhalten, dem einzelnen Erfahrungsmodelle, Gelegenheiten zur Selbsterkenntnis sowie Elemente der Identität zu liefern … Die Übermittlung von Informationen – in vielen unterschiedlichen Geschwindigkeiten, für viele unterschiedliche Menschen – ist das Geschäft von Warner Communications. Und das phänomenale Wachstum unserer Firma wie auch anderer führender Betriebe der Branche spiegelt eine in der Geschichte noch nie dagewesene Ehe zwischen Kultur und Technik wider und eine damit im Einklang stehende Revolution im menschlichen Sinne des Ichs.