Читать книгу Lipstick Traces - Greil Marcus - Страница 27
MAINSTREAM ROCK ’N’ ROLL,
Оглавлениеinzwischen (1975) von der weißen Mittelklasse dominiert, spielte unverdrossen zu Rhythmen, die fast vollständig deckungsgleich waren. »Abenteuer« und »Risiko« waren Parolen, schließlich leere Phrasen der sechziger Jahre geworden, eine Zeit, die selbst zur Phrase geworden war, »die Sixties«. Jetzt schmiedete man aus den mit den Kämpfen und Experimenten jener Zeit verbundenen Toten, Zusammenbrüchen und Ausgebrannten die scheinheilige Parole der siebziger Jahre: »Überleben«.
So seltsam das Wort auch klingt, wenn es um die Chancen relativ junger weißer Bürgerkinder geht – denn fast ausschließlich auf solche wurde das Wort angewandt –, es stellte sich doch heraus, dass man ihm unmöglich widerstehen konnte. Dank des Zaubers der gewöhnlichen Sprache tilgten »Überleben« und sein Zwilling »Überlebender« die Sixties als Fehler aus dem Geschichtsbuch und verwandelten jeden in den siebziger Jahren erfolgten Akt von privater oder beruflicher Stabilität (eine Arbeit behalten, verheiratet bleiben, nicht in eine Nervenklinik eingewiesen werden oder einfach nicht sterben) in Heldentum. Zunächst als Anspielung auf jene »Überlebenden« der »Sixties« missbraucht, die sich mittlerweile im »wirklichen Leben« befanden, enthielt das Wort eine unerbittliche Gleichung: Überleben war das wirkliche Leben.
Nicht lange, und jeder, dessen materielle oder physische Existenz eindeutig nicht gefährdet war, konnte den Titel eines Überlebenden in Anspruch nehmen, und Überlebender genannt zu werden bedeutete höchstes Lob. Die Idee griff um sich. Andeutungsweise schlichen sich Aggressionen ein: Anzeigen für eine neue Kofferserie, »The Survivor« genannt, ließen keinen Zweifel daran, dass es um das Überleben des Stärksten ging – im Dschungel der neuen Ökonomie war alles andere unwichtig. Die Idee eroberte die Ontologie, und sie überrannte die Moral. »Garp ist ein Überlebender«, schrieb ein Fan von John Irvings Roman Garp und wie er die Welt sah, wohl wissend, dass Irvings Held mit dreiunddreißig erschossen wird. Das war der definitive Sieg der Idee über das Wort: der tote Überlebende.
Diese Ansicht, die Bruno Bettelheim 1976 einen »völlig sinnentleerten Überlebensbegriff« nannte, laut der »Überleben alles ist, ganz egal wie, warum, wofür«, schlich sich in jeden Diskurs ein. Bettelheim schrieb über die neue philosophische Glorifizierung von »Überleben« im Gegensatz zu dem – sei es auch nur in der Phantasie stattfindenden – Widerstand in den Vernichtungslagern der Nazis; folge man Argumenten, wie sie in Lina Wertmüllers Film Sieben Schönheiten und Terrence Des Pres’ Lagerstudie The Survivor (Der Überlebende) vertreten würden, bemerkte er, sei »nur eins … wirklich wichtig, nämlich Leben in seiner primitivsten, lediglich biologischen Form … wir müssen ›jenseits der kulturellen Zwänge leben‹ und ›gemäß den primitiven Ansprüchen des Körpers‹.« Mit anderen Worten, man musste gemäß der Diktatur der Notwendigkeit leben, nicht jenseits der Kultur, sondern diesseits, und, wie Hannah Arendt einmal schrieb, die Diktate des Körpers waren der Freiheit abträglich: Wenn das Überleben Vorrang hatte, »musste die Freiheit der Dringlichkeit des eigentlichen Lebensprozesses geopfert werden«. 1952 erzählte Albert Camus in Der Mensch in der Revolte eine andere Geschichte …
In seinem »Sibirischen Tagebuch« erzählt E. E. Dwinger von einem deutschen Leutnant, der seit Jahren als Gefangener in einem Lager lebt, wo Kälte und Hunger herrschen, und sich aus Holzstäbchen ein stummes Klavier gebaut hat. Dort, in dem Berg von Elend, inmitten eines Haufens zerlumpter Menschen, komponierte er eine seltsame Musik, die er allein zu hören vermochte.
… eine Geschichte, so Camus, von einem »sinnvollen Aufstand«. Doch Camus war nicht mehr aktuell, genauso wenig wie Kälte und Hunger oder der »Zustand ständigen Mangels und akuten Elends«, den Hannah Arendt unter »Notwendigkeit« verstand. Die Sprache wendete das Innere nach außen, so dass Kultur zum Zwang wurde, Notwendigkeit ein Luxus, Überleben eine Wohlstandssensibilität, weshalb das Glaubensbekenntnis der Überlebenskunst nicht von Notleidenden am eifrigsten aufgegriffen wurde, sondern von Rockstars. Die neue Ideologie ließ sich von Plattentiteln ablesen: Survivor, Rock and Roll Survivor, »You’re a Survivor«, I Survive, »Soul Survivor«, Street Survivors, Survival, Surviving, »I Will Survive«, und so weiter in einer endlosen Leier; und in beinahe jedem Fall handelte es sich um Produkte von Künstlern, die schon Jahre zuvor in ehrenhaftes Schweigen hätten versinken sollen, sich aber nun berechtigt sahen, ihre Produkte bis in alle Ewigkeit zu verhökern, mehr noch, dieses Verhalten als moralischen Triumph zu feiern, einen Triumph, der jeden Versuch abwertete, Abenteuer und Risiko zu suchen. Eine Garantie, an Langeweile zu sterben, gegen eine Garantie zu tauschen, nicht Hungers zu sterben, war ein gutes Geschäft – das einzige Spiel in der Stadt.