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Helen war immer noch leicht benommen. Sie hatte sich zwar brav zu Linny fahren lassen, ihr alles erklärt und die Begeisterung ihrer Gouvernante etwas verblüfft registriert – legte Miss Linhart denn gar kein Misstrauen an den Tag? Hatte sie keinen Verdacht, Lady Brincknell könne finstere Absichten hegen? Helen wusste selbst nicht, welche finsteren Absichten das eigentlich sein sollten, aber Miss Linhart konnte doch eigentlich misstrauischer sein?

Nein, sie jubelte über das Glück, das Helen mit dieser Stellung zuteil wurde: Gesellschafterin! Bei Lady Brincknell, einer steinreichen, hoch angesehenen Dame der besten Gesellschaft! Vielleicht ergab sich dabei sogar noch die Chance auf eine annehmbare Partie?

Helen war freilich der Ansicht, sie selbst sei keine annehmbare Partie mehr, verarmt, wie sie war – aber davon wollte ihre treue Linny natürlich nichts wissen. Sie half Helen eifrig, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken, küsste ihre ehemalige Schülerin herzlich zum Abschied und bat darum, durch gelegentliche Billets auf dem Laufenden gehalten zu werden, was Helen gerührt versprach.

Zurück bei Lady Brincknell, wurde sie von Jenny in ein sehr hübsches und großes Zimmer im zweiten Stock geleitet, ganz in der Nähe vom Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft, wie Jenny versicherte, die sich danach daran machte, die schäbige Reisetasche auszupacken.

„Miss – Verzeihung, Lady Helen – ich fürchte, das geht gar nicht. Als Begleiterin von Lady Brincknell müssen Sie sehr viel besser gekleidet sein.“

„Das tut mir sehr leid, Jenny, aber etwas Besseres kann ich mir nicht leisten. Wenn man aber das Graue hier einmal gründlich aufbügelt und vielleicht mit einigen neuen Bändern verziert, wenn so etwas vorrätig sein sollte…“

„Nun, vorläufig vielleicht. Aber ich bin sicher, Mylady schwebt eine andere Lösung vor.“

Jenny sollte nur zu recht behalten, wie Helen feststellen musste – sofort am nächsten Tag wurde Helen, in das geschmähte graue Kleid, immerhin ihr bestes, gekleidet, in einer geschlossenen Kutsche zu Myladys Schneiderin geschleppt, Madame Lafleur.

„Madame Angélique ist zwar der letzte Schrei, aber sie verwendet mir etwas zu viele Stickereien“, begründete sie ihre Wahl. „Wir brauchen zunächst einige Tageskleider, zwei, drei Abendroben und einige Hüte und wenigstens zwei Mäntel. In diesem dünnen Umschlagtuch siehst du wirklich zu armselig aus, mein Kind.“

Helen lächelte bitter. „Ich bin ja auch arm, Mylady!“

„Deshalb musst du aber doch nicht so aussehen! Außerdem möchte ich mit dir Ehre einlegen, und es gehört zu deinen Pflichten, meine Wünsche zu erfüllen, ist es nicht so?“

Helen senkte den Kopf. „Gewiss, Mylady.“

Seltsame Situation, dachte sie. Sie war Lady Brincknell ungemein dankbar, gewiss – aber dieses Gnadenbrot hatte auch etwas Demütigendes an sich. Sie fühlte sich als Objekt der Wohltätigkeit und damit auf einer Stufe mit Menschen wie dem kleinen hungrigen Straßendieb von vorhin. Unerfreulicher Gedanke – aber war sie denn wirklich noch etwas Besseres als dieser Kleine?

„Helen, hörst du mir eigentlich zu?“

Sie fuhr zusammen. „Verzeihung, Mylady. Die Situation ist noch so neu für mich. Was wollten Sie mir sagen?“

„Nur, dass wir jetzt zu Madame Lafleur hineingehen. Mut gefasst, mein Kind!“

Tatsächlich schämte sich Helen in dem vornehmen Atelier für ihr schäbiges Kleid, ihre fadenscheinige Unterwäsche und den nicht vorhandenen Haarschnitt. Jedes Dienstmädchen war ja besser ausgestattet! Madame Lafleur – eine der wenigen Schneiderinnen, die wirklich aus Frankreich stammte – ging aber gewandt darüber hinweg, suchte gemeinsam mit Lady Brincknell passende Wäsche im Dutzend aus und ließ dann Kleider präsentieren, bis Helen ganz schwindelig wurde. Sie konnte nur noch schwächlich zustimmen, als Tageskleider in Lavendelblau, Hellblau, Weiß und Grün gestreift, Rosa und Creme und Abendroben in Silber, Kupfer, Zartblau und einem so kalten Rosé, dass es fast wie blasse Veilchenfarbe wirkte, ausgewählt und ihr anprobiert wurden.

„Mademoiselle hat eine ganz besonders hübsche Figur“, lobte Madame Lafleur. „Das wird sicher ein hervorragendes début.“

Helen öffnete schon den Mund, um zu widersprechen, aber ihre Arbeitgeberin kniff sie warnend in den Arm. „Ganz bestimmt“, sagte diese nach der Attacke, „Lady Helen wird Furore machen, das weiß ich.“

Was sollte das nun? Lady Brincknell würde sie doch nicht wirklich debütieren lassen? Eine Wildfremde, die bei ihr arbeitete und die außerdem für ein Debüt schon etwas zu alt war? Dreiundzwanzig… Debütantinnen waren im Allgemeinen höchstens achtzehn Jahre alt!

Verwirrt ließ sie sich einen eleganten dunkelblauen Mantel und einen Umhang mit einem herrlichen Pelzkragen überziehen und erkannte sich im Spiegel kaum wieder.

Befriedigt ordnete Lady Brincknell an, alles unverzüglich in ihr Stadthaus zu schicken, und zog mit der benommenen Helen weiter zur Putzmacherin.

Auch ein dunkelblauer Strohhut mit Schute und weißem Aufputz, ein kesses blassrosa Käppchen, ein silbernes Haarnetz und eine Pelzkappe wurden nebst Handschuhen in allen Längen und allen passenden Farben auf den Weg in die Mount Street geschickt, außerdem Stiefelchen, leichte Schuhe und Satinslipper für Abendveranstaltungen.

„Vorerst dürfte das genügen“, verkündete die Lady vergnügt und ungebrochen, während Helen trotz ihrer passiven Rolle völlig erschöpft war. „Wir fahren nach Hause und überlegen mit Jenny, was wir mit deinen Haaren anstellen. Und dann schicken wir Jenny noch einmal los, um den Kleinkram zu besorgen – Haarbänder, künstliche Blumen und was man eben noch so braucht.“

„Bitte“, entgegnete Helen mit schwacher Stimme, „keine künstlichen Blumen!“

„Oh?“, machte die Lady.

„Ich möchte gewiss nicht undankbar scheinen, aber künstliche Blumen waren mir immer schon zuwider. Frische Blumen oder gar keine, bitte.“

Das trug ihr einen leichten Schlag mit dem geschlossenen Fächer ein. „Sehr gut, Kindchen. Ach ja, Jenny, zwei Fächer brauchen wir. Schlicht. Einer cremeweiß, einer in einem mittleren Blau. Das dürfte zu dunklem Haar und blauen Augen am besten passen. Wir werden Lady Helen als eine Dame von untadeligem, aber schlichtem Geschmack herausbringen. Nichte Überladenes, keine Eitelkeiten. Gut so, Kindchen.“

„Wunderbar, danke sehr, Mylady“, krächzte Helen erschöpft.

„Und wo gehen wir als erstes hin?“, überlegte die Lady voll Tatendrang.

Helen riss die Augen auf. „Noch mehr Einkäufe? Oh bitte, Mylady, ich kann nicht mehr… und Sie haben mir schon so viel geschenkt, ich kann Ihnen das doch nie vergelten!“

Lady Brincknell lachte. „Kindchen, du hast mir schon so viel Vergnügen geschenkt. Kleider auszusuchen für eine junge, schöne Frau ist doch viel amüsanter als mit Madame Lafleur zu überlegen, was ich in meinem Alter noch tragen kann. Immerhin bin ich schon sechzig Jahre alt – aber erzähle das ja nicht weiter!“

Helen lächelte in sich hinein; die Dame sah auch keinen Tag jünger aus als sechzig Jahre, da musste man nichts herumerzählen. „Gewiss nicht, Mylady. Aber kann ich denn sonst gar nichts für Sie tun?“

„Doch, natürlich. Zunächst fahren wir nach Hause und du gönnst dir eine Ruhepause auf deinem Zimmer. Und dann darfst du mir während des Tees das Interessanteste aus der Morning Post vorlesen. Morgen Vormittag sichten wir gemeinsam deine Ausstattung und kontrollieren, ob auch nichts fehlt. Sollten wir noch etwas benötigen, ziehen wir morgen noch einmal los – aber nicht so lange wie heute. Und morgen Abend bin ich eingeladen.“

„Da wünsche ich Ihnen dann viel Vergnügen Mylady.“ Helen verneigte sich leicht auf ihrem Sitz.

„Das wünsche ich dir dann auch, denn du wirst mich natürlich begleiten, Helen – was dachtest du, was alles zu den Aufgaben einer Gesellschafterin gehört?“

„Oh. Ja, wenn Sie das wünschen, begleite ich Sie selbstverständlich gerne. Darf ich fragen, welche Art Einladung das ist? Ich war nämlich noch nie eingeladen. Mein Vater pflegte mit den Nachbarn ja keine derartigen Beziehungen, fürchte ich.“

„Ein ganz harmloser, ruhiger Tanzabend bei Lady Overton. Was haben Sie denn, Kindchen? Sie werden ja ganz blass? Kennen Sie Lady Overton?“

„Nein, nein. Ich kenne in London außer Ihnen, Mylady, und meiner guten Miss Linhart doch überhaupt niemanden. Aber – ich muss dort doch gewiss nicht tanzen? Ich gelte doch als Teil Ihrer Dienerschaft?“

Lady Brincknell legte den Kopf schief und betrachtete ihr Gegenüber nachdenklich. Der Wagen rumpelte um eine Ecke und hielt schließlich an.

„Du kannst nicht tanzen, stimmt´s?“ verkündete die Lady schließlich und machte sich bereit, auszusteigen, als der Schlag geöffnet wurde und ein Diener die Stufen herausklappte und seiner Herrin dann ehrerbietig den Arm reichte.

Helen folgte ihr erleichtert, als letzte stieg Jenny aus, die Helen zuflüsterte: „Das kann man lernen. Mylady wird einen Tanzmeister bestellen und im Handumdrehen wissen Sie, wie es geht.“

„Meinen Sie wirklich?“, flüsterte Helen zurück.

„Ich kenne doch Mylady!“

Nun, das hatte Helen nicht gemeint, aber nun waren sie an den Stufen des Hauses angekommen und Ihre Ladyschaft hatte sich zu ihnen umgedreht. Da ziemte es sich nicht mehr, zu tuscheln.

Helen folgte ihrer Herrin artig in den Salon und nahm gehorsam Platz.

„Du kannst also nicht tanzen“, griff Lady Brincknell ihren letzten Satz wieder auf.

„Ja, Mylady. Ich -“

„Sag nichts, ich weiß schon, dein Vater hat sich mal wieder um nichts gekümmert. Northbury ist in der Gesellschaft durchaus bekannt. Viele Adelige spielen – es gilt ja als sehr schick -, aber nur wenige übertreiben es derartig und vernachlässigen so ihre Pflichten gegen Familie und Besitz. Sag mir, hattest du nicht auch einen Bruder?“

„Das stimmt, Mylady. Lionel. Er war unserem Vater sehr ähnlich und ebenfalls vom Spiel besessen. Eines Tages hat er sich mit jemandem darüber gestritten, ob die Karten gezinkt oder die Würfel beschwert waren – genau weiß ich es nicht – jedenfalls fühlte sich der andere beleidigt und forderte ihn. Er war dann wohl auch der bessere Schütze – oder Lionel hatte von den durchspielten und durchzechten Nächten keine ruhige Hand, jedenfalls hat der andere ihn erschossen. Ich glaube, das hat meinen Vater dann endgültig in die Besessenheit getrieben. Vielleicht verständlich.“

„Findest du, Kindchen?“

„Nun, er hatte keinen Erben mehr – wozu dann das Erbe erhalten?“

„Väter, die sich nicht um ihre Töchter kümmern, waren mir schon immer ein Gräuel“, verkündete Lady Brincknell. „Du hättest Anspruch auf eine anständige Mitgift und ein angemessenes Debüt in der Gesellschaft gehabt. Zwei, drei Saisons – und du wärst jetzt sehr angenehm verheiratet. Aber solche Rabenväter sind nicht allzu selten. Auch deshalb ist es mir ein Bedürfnis, dich angemessen zu präsentieren – von dem Spaß, den mir das ganze Drumherum macht, ganz zu schweigen.“

„Das freut mich natürlich, Mylady, aber bedenken Sie doch – die Kosten!“

„Papperlapapp, Helen, du weißt ja gar nicht, wie wohlhabend ich bin. Das spüre ich gar nicht.“

„Nun ja – aber Sie haben doch bestimmt Verwandte, die Ihnen das übelnehmen? Weil sie finden, dass das Geld doch wohl eher ihnen zugutekommen sollte.“

„Höchstens mein Neffe Neville. Sir Neville Anscott. Ein eher unangenehmer junger Mann. Mein Bruder hatte zunächst zwei Töchter, bevor dann seine zweite Frau endlich einen Sohn zustande gebracht hat. Der Kleine wurde von der Wiege an schandbar verzogen, so dass er heute glaubt, die ganze Welt sei nur zu seinem Vergnügen da. Er missgönnt jedem Menschen Geld, das er selbst gerne hätte. Mach dir nur keine Gedanken darüber!“

Helen seufzte. Diese kurze Pause ermöglichte es Mylady, sich an ihr eigentliches Anliegen zu erinnern: „Du musst schnell tanzen lernen. Wenigstens das Nötigste. Und den Walzer. Du bist nämlich eindeutig zu alt, um dich dem Walzer zu verweigern.“ Sie klingelte und bat den Butler, ihr ihren Sekretär zu schicken.

Einige Momente später verbeugte sich ein bebrillter junger Mann, der, sobald er sich wieder aufgerichtet hatte, Helen einen misstrauischen Blick zuwarf.

„Mr. Snettham, bitte bestellen Sie Monsieur Caron für morgen Vormittag hierher, sagen wir, um elf. Und Sie werden sich morgen bitte zur gleichen Zeit zur Verfügung halten, um Lady Helen als Übungspartner zu dienen.“

„Ich bitte um Verzeihung, Mylady?“

„Sie haben mich schon verstanden, und dabei bricht Ihnen auch kein Zacken aus der Krone.“

Er ließ einen Blick über Helens altes graues Kleid wandern, als sei er nicht ganz sicher, dass er sich da nicht Ungeziefer einfangen würde. Helen hob unmutig den Kopf, worauf er seinen Blick abwandte. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Ein Sekretär war ja wohl auch nichts Besseres als eine Gouvernante!

„Ich werde M. Caron für morgen elf Uhr bestellen, Mylady“, antwortete er artig. „Haben Sie noch weitere Befehle?“

„Nein, Mr. Snettham, vielen Dank.“

„Ich glaube, er ist mit meiner Anwesenheit nicht einverstanden, Mylady“, meinte Helen bedrückt. Das würde ihre Anwesenheit in diesem Hause nicht gerade erleichtern.

„Unsinn, Kindchen. Er hat hier doch gar nichts zu sagen. Ich glaube, ihm gefiel nur dieses Kleid nicht. Mir auch nicht, wenn ich es mir recht betrachte.“

„Mir ebenso wenig“, gab Helen zu. „Von meinen vier Kleidern war es noch das präsentabelste. Aber ich werde es mit Vergnügen waschen und den Armen spenden und eins der neuen Gewänder anziehen.“

„Am besten gleich. Jenny und die Mädchen sollen dir ein Bad richten, Jenny wird dir auch die Haare waschen und sie modisch schneiden. Und dann ziehst du bitte das Lavendelfarbene an. Im Lauf der Zeit lassen wir sicher auch einiges für dich anfertigen, aber vorerst bin ich recht froh, dass dir so viel Fertiges wie angegossen gepasst hat. Hinauf mit dir!“

Helen entfloh, halb erleichtert, halb verschreckt.

In ihrem Schlafzimmer hatte Jenny bereits die zauberhaften Kreationen von Madame Lafleur aufgehängt und zurechtgezupft und alles Zubehör auf der Kommode aufgereiht. Vor dem Kaminfeuer wurde eine Wanne aufgestellt und mehrere Zimmermädchen traten mit Kannen voll heißen Wassers an, während Jenny selbst Seife, Bürste und Handtücher bereitlegte.

Sobald die Wanne wohlgefüllt war, half Jenny Helen dabei, das hässliche graue Kleid abzulegen. Auch die schäbige Unterwäsche, für die Helen sich schon bei der Schneiderin geniert hatte, verschwand, und Helen stieg vorsichtig in das heiße Wasser.

Herrlich!

Und Jenny wusch sie vorsichtig, schäumte ihr auch die langen dunklen Locken ein, hieß sie untertauchen, massierte ihre Gliedmaßen mit der Bürste, bis die Haut ganz weich war, und hüllte sie schließlich, als sie sich aus dem Bade wieder erhoben hatte, in weiche Tücher.

Helen, immer noch in schneeweißes Leinen gewickelt, nahm vor ihrem Toilettentisch Platz, und Jenny begann, die langen Flechten auszukämmen.

„Sie haben sehr schönes Haar, Mylady“, lobte sie.

„Tatsächlich? Ich habe es zu Hause eigentlich stets nur geflochten und unter ein Häubchen gestopft, damit es mich bei der Arbeit nicht störte. Was kann man damit anfangen?“

„Nun, es lockt sich sehr hübsch. Wir werden es ein wenig stutzen und dann zu einem lockeren Knoten aufstecken, aus dem einzelne Löckchen hervorlugen. So etwas gefällt den Herren, vertrauen Sie mir.“

„Ich gebe mich ganz in deine Hände, Jenny“, antwortete Helen friedlich und schloss die Augen, während die nassen Strähnen sorgfältig gekämmt und geschnitten wurden. Das leichte Ziehen und das leise Quietschen der Schere wirkten allmählich einschläfernd, so dass Helen erschrocken hochfuhr, als Jenny ausrief: „So, fertig! Sind Sie zufrieden, Mylady?“

Helen erkannte sich kaum wieder – die nur noch leicht feuchten Haare ringelten sich in unterschiedlicher Länge sehr ansprechend um ihr Gesicht und ihren Hals. Jenny steckte die Hauptmasse zu dem versprochenen Knoten auf, zupfte den Rest noch besser zurecht und verkündete dann: „So etwa hat Lady Brincknell es sich vorgestellt, glaube ich. Und jetzt ziehen wir Sie noch an.“

Helen wurde mit hauchdünnen Strümpfen, neckischen Strumpfbändern, Unterkleidern und dem lavendelfarbenen Tageskleid ausgestattet. Als letztes steckte Jenny ihr ein Paar leichte Schuhe an die Füße und zog Helen dann vor den großen Spiegel.

„Unglaublich“, hauchte Helen. „Jenny, du hast ein Wunder vollbracht! Jetzt kann ich mir tatsächlich vorstellen, mit Mylady auszufahren und ihr dabei keine Schande zu bereiten.“

Jenny legte den Kopf schief. „Etwas fehlt noch… entschuldigen Sie mich einen Moment?“

Sie enteilte und kehrte im Handumdrehen zurück, eine blassblaue Wollstola in der Hand. „Lady Brincknell hat mir erlaubt, sie zu nehmen. Hier – damit brauchen Sie im Park nicht einmal einen Mantel. Es wäre ja auch schade, wenn man das neue Kleid nicht sehen könnte!“

Auf dem Weg nach unten in den Salon begegneten sie Mr. Snettham, der verblüfft blinzelte. Helen neigte hoheitsvoll den Kopf, murmelte nur „Mr. Snettham“, und schritt weiter die Treppen hinab.

Jenny hinter ihr kicherte leise.

Lady Brincknell war so begeistert, wie Jenny es prophezeit hatte. „So, Kindchen, jetzt werden wir erst einmal etwas essen, dann liest du mir etwas vor und nach dem Tee fahren wir eine Runde durch den Park und lassen die feine Gesellschaft rätseln, wen die verrückte Brincknell da wieder bei sich hat."

Helen musste lachen. „Wieder? Präsentieren Sie der Gesellschaft öfter solche zufälligen – äh – Schützlinge?“

„Selten. Aber man hält mich wirklich für ein wenig verrückt, was mir aber gleichgültig ist. Lieber verrückt als langweilig, meinst du nicht?“

Nach dem eher bescheidenen Mittagessen machte Lady Brincknell es sich auf einer Chaiselongue gemütlich und forderte Helen mit einer Handbewegung auf, aus der Morning Post vorzulesen.

Helen begann mit einem Artikel, der über die Themen der kommenden Parlamentsperiode spekulierte, bis sie unterbrochen wurde: „Aber Kindchen! Gibt es nichts Interessanteres?“

Helen blätterte zu den Hofnachrichten. „Oh, ja – es heißt, Prinzessin Charlotte sei sehr glücklich mit ihrem neuen Ehemann, Prinz Leopold. Und man hofft natürlich, dass man bald über einen zu erwartenden Thronerben berichten kann. Oh, und hier – Man wüsste gerne, was Prinzessin Caroline so lange in Italien tut.“

Lady Brincknell kicherte. „Ohne respektlos erscheinen zu wollen – aber Prinny ist doch wirklich unmöglich! Was soll die arme Frau denn tun, wenn er so lange ganz offen mit dieser Isabella Hertford zusammenlebt? Und davor mit Maria Fitzherbert? Ich finde, eine Ehefrau muss sich auch nicht alles gefallen lassen, vor allem, wenn sie als Prinzessin von Wales so im Licht der Öffentlichkeit steht. Wie soll man da taktvoll über eventuelle Verfehlungen hinwegsehen? Wenn einen sogar die Morning Post womöglich darauf hinweist?“

„Da haben Sie ganz Recht, Mylady. Aber man fragt sich, ob eine Heirat dann wirklich so ein Erfolg ist – wenn man dann nur über Verschiedenes hinwegsehen muss?“

Lady Brincknell läutete und ließ Sherry bringen. „Das tut uns jetzt gut.“

Sobald sie einen Schluck genommen hatte, gluckste sie heiter. „Kindchen, das mag ja alles sein, aber ohne Heirat kann man auch keine wohlhabende Witwe werden – und dann hat man das herrlichste Leben. Heirate einen reichen alten Gentleman und werde seine Witwe! Ich kann das nur empfehlen, obwohl ich mit meinem Arnold sehr glücklich war…“

Helen fand das nun doch etwas zynisch, wollte aber ihrer Wohltäterin nicht unehrerbietig begegnen und lächelte deshalb nur schwach. Heiraten – lieber nicht. Was blieb ihr denn noch? Ein wohlhabender Kleinbürger vielleicht, der sich mit einer geborenen Lady schmücken wollte…

Ein Mann aus ihren eigenen Kreisen hatte bestimmt kein Interesse an einer Landpomeranze ohne jegliche Mitgift. Warum heirateten Gentlemen denn? Um Beziehungen zu vornehmeren Familien zu knüpfen, um eine große Mitgift zu kassieren, um eine junge Schönheit in die Hände zu bekommen.

Jemand, der sich eine gute Hausfrau wünschte und dazu eine Schar Erben, konnte vielleicht Interesse an ihr entwickeln, aber ein solches Angebot würde sie nicht unbedingt reizen, wenn ihr der Mann selbst nicht sympathisch war.

„Sinnst du über künftige Heiratskandidaten nach, Kindchen? Warte lieber ab, wer dir morgen auf dem Tanzabend begegnet, und lies jetzt weiter. Vielleicht die Gesellschaftsnachrichten? Aus dem Königshaus ist ja wohl nichts Weiteres zu erwarten.“

Helen nickte folgsam und blätterte nach hinten. Anzeigen, Kurznachrichten, Berichte. Sie las zunächst einen eher hämischen Bericht über einen Ball bei Lady Sherington vor, der am Schluss die Folgerung zog, man solle eben keinen Ball veranstalten, wenn die Saison noch gar nicht begonnen habe, oder doch wenigstens für trinkbaren Champagner und andere Erfrischungen sorgen und keine so erbärmliche Kapelle spielen lassen.

Lady Brincknell pfiff unanständig durch die Zähne. „Arme Lady Sherington… dieser Ball war dann wohl eher kein Erfolg. Man müsste wissen, wer diesen Artikel geschrieben hat, so boshaft – und so amüsant! Neben einer solchen Person säße es sich gut am Rande einer Tanzfläche… weiter, Kindchen!“

Helen las: Sir Thomas Naseby meldete die glückliche Geburt eines Erben („Wozu braucht Sir Thomas denn einen Erben, er hat doch gar nichts zu vererben?“).

Der Earl of Wrexburgh zeigte voller Freude die Verlobung seiner Tochter Amelia mit Lord Roudley an („Na, endlich ist er das sommersprossige Ding losgeworden“).

Lord Bernard Tamlin hatte sich mit der Ehrenwerten Susannah Jameson verlobt. Die Hochzeit sollte in wenigen Monaten stattfinden („Braucht Geld, der Knabe. Wohl auch ein Spieler.“).

Die Lady schnaufte und hielt inne, als sie Helens bleiche Miene bemerkte. „Mädchen, was ist dir? Ach herrjemine – Tamlin? War er nicht eigentlich mit deinem Vater im Wort?“

Helen zuckte die Achseln. „Was sollte er denn noch mit mir, wenn ich keine Mitgift mitbringe? Diese Miss Susannah ist bestimmt sehr wohlhabend.“

„Jameson“, überlegte Lady Brincknell, „Jameson… immerhin eine Honourable - nein, das ist keine Kaufmannstochter. Die bringen natürlich meist die größten Mitgiften mit, diese Goldfische… Jameson – den Namen habe ich aber schon gehört… das ist doch der Familienname von Hemworth, oder? Dem Earl? Er müsste der Großvater dieser Susannah Jameson sein. Dann ist deren Vater Viscount - Thorn, genau. Die Enkelin eines Peers also – Du bist die Tochter eines Peers, Kindchen. Auf den Adel scheint es ihm also nicht so sehr angekommen zu sein.“

„Ich bin ja auch die Tochter eines Bankrotteurs. Und Bernard Tamlin ist selbst der Enkel eines Marquess, also hat er wohl kaum nötig, sich nach oben zu heiraten. Der Marquess war früher mit meinem Vater befreundet, deshalb haben die beiden diese Verbindung wohl vereinbart. Liebe Lady Brincknell, mir bricht diese Anzeige wirklich nicht das Herz.“

„Aber du bist vorhin ganz bleich geworden!“

„Ja, ich bin ein wenig erschrocken, wie schnell die Welt sich – nun, sagen wir - umorientiert. Ich fühlte mich – ja, ich fühlte mich aussortiert.“

„Das kann ich mir gut vorstellen, Kindchen. Nun, ich werde dich schon von diesem Schrecken ablenken, das darfst du mir glauben!“

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