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Helen hatte sich sehr schnell bei Linny eingelebt und durchaus erkannt, dass diese über nur sehr geringe Mittel verfügte und sich durch feine Stickereien etwas hinzuverdiente. Allerdings war Helen selbst wirklich nicht gerade verwöhnt, denn die Norwoodschen Finanzen waren auch schon lange am Ende gewesen und man hatte in der Abbey – vor allem, wenn der Hausherr in London weilte, also nahezu ständig – von der Hand in den Mund gelebt. Außerdem hatte Miss Linhart seinerzeit auch der kleinen Helen die Kunst feiner Stickereien beigebracht, so dass sie nun – nach anfänglichen Protesten der Gastgeberin - einträchtig beieinander saßen und die Borten stickten, für die Madame Angéliques begehrte Kreationen berühmt waren.

Die Sonne fiel schwach durch die dünnen Vorhänge, die bescheidenen Möbel dufteten nach dem Bienenwachs, mit dem Linny sie poliert hatte, und Helen fand es hier viel, viel schöner und angenehmer als jemals in der Abbey, was sie ihrer ehemaligen Gouvernante auch sofort mitteilte.

„Ach Kindchen!“, mahnte Linny, ganz Gouvernante, sofort. „In Norwood Abbey warst du aber doch Lady Helen, angesehen in der besten Gesellschaft – und jetzt?“

„Lady Helen“, murmelte Helen, „und was hat mir das genützt? Ich ging ja nicht in Gesellschaft, weil sich mein Vater dafür nicht interessierte, wir hatten keinen Kontakt zu den Nachbarn, denn dann hätten wir sie schließlich auch einladen müssen und die Aufwendungen dafür hätten meinem Vater dann nur am Spieltisch gefehlt, die Abbey verkam immer mehr, weil wir kaum noch Personal hatten, und Geld gab es auch nicht. Ich glaube, hier bei dir habe ich zum ersten Mal seit Jahren ein Stück Fleisch bekommen. In der Abbey gab es das Brot, das Mrs. King gebacken hatte, und das Gemüse, das wir an einer versteckten Ecke des Parks angebaut hatten. Und ich kam mit dem Staubwischen und Ausfegen schon im Erdgeschoss und dem ersten Stock kaum hinterher. Hier fühle ich mich jetzt richtig verwöhnt. Am liebsten würde ich immer bei dir bleiben!“

Miss Linhart seufzte. „Kindchen, Helen… das rührt mich sehr, aber du weißt doch: Ich bin nicht mehr die Jüngste. Wenn ich eines Tages einmal nicht mehr sein sollte, was soll dann aus dir werden? Meine kleine Rente würde dann auch erlöschen.“

Helen seufzte ebenfalls. „Ich weiß es ja. Nein, ich werde natürlich versuchen, als Gouvernante ein sicheres Auskommen zu finden. Linny, woher hast du diese Rente eigentlich?“

Miss Linhart lächelte gedankenverloren. „Ach ja… bevor ich mich um dich gekümmert habe, war ich bei einem Witwer, dessen kleinen Sohn ich betreut und erzogen habe, bis es für ihn Zeit war, in die Schule zu gehen, nach Harrow. Und dieser Witwer war der Ansicht, ich hätte seinem Sohn sehr schön die Mutter ersetzt, also war er mir dankbar und hat mir eine Rente ausgesetzt. Solange ich danach auf Norwood Abbey lebte, konnte ich davon etwas ansparen – sehr beruhigend, mein Kind! – und danach fand ich, dass ich alt genug sei, um mich in ein bescheidenes eigenes Leben zurückzuziehen. Und hier sitze ich nun.“

„Hier sitzt du nun“, wiederholte Helen. „Mir hast du auch die Mutter ersetzt, du Liebe, Gute. Aber mein Vater hat höchstens versucht, an deinem Lohn zu sparen. Ich weiß, das ist untöchterlich, aber ich kann ihn nicht leiden. Er ist ein schlechter Mensch – und ich hoffe, er kommt nie zurück!“

Miss Linhart lächelte. „Untöchterlich – aber verständlich. Ich fürchte, er hat dich wirklich schandbar behandelt und seine Pflichten aufs Gröbste vernachlässigt!“ Als sei sie damit zu weit gegangen, senkte sie sittsam den Blick wieder auf ihre Stickerei. „Heute Nachmittag werde ich die Borten, die wir schon fertiggestellt haben, bei Madame Angélique abliefern.“

„Das kann ich doch tun, Linny, dann kannst du dich einmal ausruhen“, schlug Helen vor. Sie freute sich auch darauf, einmal durch die aufregenden Straßen Londons zu gehen, denn noch kannte sie nur den Weg von der Poststation zur Wohnung von Miss Linhart.

Diese zweifelte, ob dies ein guter Plan sei. „Kind, du weißt ja gar nicht, wie gefährlich das sein kann! Es gibt dort Diebe und Räuber und alleinstehende – äh - Herren. Sie könnten dich sehr unehrerbietig ansprechen, hast du keine Angst davor?“

„Nein“, antwortete Helen zuversichtlich. „Sie werden ein harmloses Dienstmädchen kaum beachten. Du kannst mir doch sicher ein Häubchen leihen?“

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