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LUKAS BÄRFUSS
Der Marktwagen
ОглавлениеOb ich über die Dauer und die langfristige Wirkung meiner Werke nachdenke, fragen Sie mich? Nun, das tue ich gewiss, sogar sehr gerne und bei jeder Gelegenheit, auch wenn ich so wenig wie irgendjemand sonst die geringste Ahnung habe, was die gemeinsame Eigenschaft langlebiger Texte sein könnte. Abgesehen natürlich vom physischen Überdauern des Mediums, auf dem sie festgehalten werden. Auch deshalb schreibe ich zuerst auf Papier. Es gibt keinen elektronischen oder digitalen Speicher. Keine dort abgelegte Information wird die nächsten Jahrzehnte überleben. Festplatten sind Mülldeponien, man sollte ihnen nichts Kostbares anvertrauen.
Apropos überleben: Die erste Aufgabe, bevor er überhaupt vom Ruhm in der Nachwelt träumen kann, besteht für den Schriftsteller darin, an seinem Gewerbe nicht zugrunde zu gehen. Das ist keine leichte Sache. Obwohl man oft das Gegenteil hört und Scheitern fast mythisch überhöht wird: In der Literatur sind Niederlagen in der Regel tödlich. Die Tätigkeit eines Schriftstellers ähnelt jener von Bergsteigern, die ohne Seil und Sicherung in eine Wand steigen. Wer findet, der Vergleich sei prahlerisch und unangemessen, da diese Alpinisten bei einem Fehlgriff unweigerlich den Tod fänden, ich jedoch höchstens einen schlechten Text riskiere, der möge bedenken, dass es neben der physischen auch die psychische Vernichtung gibt und diese in meinem Gewerbe täglich droht. Um dies festzustellen, braucht man weder Gabe noch Vorliebe zur Selbststilisierung. Ein Blick in die Literaturgeschichte genügt, um das Berufsrisiko der Schriftsteller zu ermessen. Wer braucht Kenntnisse in Statistik, um als Schriftsteller mit Alkoholismus, der Irrenanstalt oder mit Selbstmord zu rechnen – und zwar häufig in dieser Reihenfolge? Man mag sich fragen, was hier Ursache und was Folge sei, ob die Literatur besonders häufig Menschen interessiere, die eine bestimmte Prädisposition mitbringen, oder ob die Literatur diese Disposition erst verursache. Sicher ist: Dieses Gewerbe zieht Naturen an, die nicht dafür geeignet sind und daran Schaden nehmen. Umgekehrt werden auch gesunde Geister von den Anstrengungen und Entbehrungen der Literatur aufgerieben und zerrüttet. Jeder Kochlehrling wird in Gesundheitsvorsorge unterrichtet, und man lässt niemanden in die Küche, der die Sicherheitsvorschriften nicht befolgt. In die Literatur jedoch schickt man die zerbrechlichsten Gemüter, man wähnt sie durch ihre Sensibilität geeignet und entsendet sie in die gefährlichsten Zonen ohne Schutz und Ratschlag.
Worin die Gefahr liege, fragen Sie mich? Das ist einfach zu beantworten. Das Universum erscheint dem menschlichen Geist als undurchschaubares Chaos. Schreiben bedeutet, sich in dieses Chaos zu stellen und in einem sehr beschränkten Bezirk eine Ordnung zu erzwingen. Das ist nicht schwierig. Jeder ist dazu in der Lage. Für ein paar Seiten mag es immer gelingen. Die Herausforderung besteht darin, es Tag für Tag zu unternehmen, was so gefährlich wie notwendig ist. Denn wie bei jeder Tätigkeit nimmt auch bei dieser die Fähigkeit mit der Zahl der Wiederholungen zu. Übung macht nur einen Meister, sofern sie den Lehrling vorher nicht umbringt, und mit jedem Versuch steigt das Risiko, ihn seelisch und geistig nicht zu überstehen. Bereits der erste Schritt ist eine aufreibende Aufgabe: diesen Bezirk zu definieren, jenen Raum, den man für eine gewisse Zeit vom restlichen Universum abkoppeln muss, um ihn überhaupt beschreiben zu können. Zur Veranschaulichung mag die Analogie mit der Tätigkeit eines Chirurgen dienen. Um das Organ operieren zu können, muss er es von der Blutversorgung trennen. Und gegenüber dem Schriftsteller besitzt er einen Vorteil: Er hat sich in Pathologie und Anatomie geübt, hat am toten Material gelernt, und er kennt deshalb die Physiologie des Organismus, er versteht die Form und die Funktion der verschiedenen Gewebeformen, weiß, welchen Strukturen er sich mit welchen Instrumenten nähern darf, wo er also welchen Schnitt anbringen kann, damit er das System mit seinem Eingriff nicht zerstört. Der Schriftsteller hingegen weiß nie, was die Störung verursacht, er sieht nur, es gibt eine Differenz, eine Unruhe, denn andernfalls gäbe es keine Aufmerksamkeit. Harmonie bleibt immer unbemerkt. Bescheidenere Naturen beschränken sich deshalb auf Operationen an toten Modellen und ergehen sich in den Schemata der bekannten Genres. Dort ist nichts zu riskieren, aber leider auch nichts zu gewinnen.
Vielleicht lässt sich dies an einem kleinen Beispiel erläutern. In diesem Augenblick sitze ich in einem Straßencafé im 20e Arrondissement in Paris, unweit der Place Gambetta. Vor wenigen Minuten erregten zwei Männer am Nebentisch meine Aufmerksamkeit. Falls ich die Herren beschreiben will, muss ich klären, worin genau die Störung liegt, die sie in meinem Bewusstsein verursacht haben, denn die Beschreibung dieser Störung fällt zusammen mit der Beschreibung ihrer selbst. In der Wirklichkeit ist diese Klärung nicht notwendig. Sie ergibt sich alleine durch die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die leider bis heute in der Literatur nicht dargestellt werden kann. In diesem Beispiel mag die Klärung ungefähr so aussehen: Die beiden sind offensichtlich Trinker, das heißt, sie leiden an einer Alkoholkrankheit. Ich erkenne dies an der Farbe ihrer Haut und an den glänzenden Augen. Aber alleine aus diesem Grund wären sie mir nicht aufgefallen. Säufer sind keine Seltenheit.
Die Männer sind asiatischer Herkunft, vermutlich Chinesen, wie ich ihrem Aussehen und ihrer Sprache nach urteile. Allerdings könnte ich Chinesisch von Koreanisch kaum unterscheiden. Woher also meine Vermutung? Es muss an der Garderobe liegen. Sie wirkt ärmlich, eine Eigenschaft, die ich weniger mit Südkorea in Verbindung bringe, und dass sich zwei Nordkoreaner in diesen Teil von Paris verirrt haben, halte ich zwar für möglich, doch eher für unwahrscheinlich.
Jeder pflegt auf seine Weise einen besonderen Umgang mit seiner Gesichtsmaske. Der ältere, von der Alkoholkrankheit schon deutlich gezeichnete Mann hat seine, ein buntes Einwegmodell, unter das Kinn geschoben; der andere aber, der sich für das klassische blau-weiße Modell entschieden hat, trägt die Maske am Unterarm – wie eine Manschette, die beiden Gummibänder halten das Papier quer der Elle fest. Dies habe ich noch nie beobachtet, doch glaube ich nicht, dass er persönlich diese Technik erfunden hat. Wahrscheinlich ist sie in Teilen Chinas, wo man mit diesem Hygieneutensil längere Erfahrung hat als in Europa, gang und gäbe.
Ferner: Zur Zeit begegnet man in Paris wenig Asiaten. Durch die Reisebeschränkungen bleiben die Besucher aus. Allerdings sind die beiden gewiss keine Touristen. Sie werden zur chinesischen Diaspora gehören, die sich in den letzten Jahren in der nahen Belleville angesiedelt hat.
Auf diesen Umstand werde ich gleich näher eingehen, aber nun bringt der Kellner den beiden zwei frische Gläser Bier, und gleich nach dem ersten Schluck verliert der Alte die Kontrolle. Wie man es bei Trinkern kennt, ist er von einer Sekunde auf die andere betrunken. Er gestikuliert unkontrolliert. Seine Stimme ist laut. Zwischen den Sätzen sackt er zusammen, um gleich darauf wie ein Springteufel wieder hochzuschrecken und seinen Saufkumpan anzuschreien. Der nimmt das mit Gleichmut hin.
Es ist fünf Uhr nachmittags.
Ich kannte die Belleville noch, als man das Viertel »Petite Afrique« nannte. Das war vor dreißig Jahren. Mein erster Besuch in Paris hatte mich auf den Butte de Belleville geführt. Liegt die Störung also nicht im Phänomen vor meinen Augen? Stehen diese beiden Chinesen nur für eine Reminiszenz an meine vergangene Jugend? Und in welchem Zusammenhang steht diese augenblickliche Erfahrung mit der Erfahrung von vor dreißig Jahren? Man kann darauf keine Antwort finden. Die Wirklichkeit kümmert sich nicht um Erzählbarkeit. Jeder Zusammenhang muss gefunden und erläutert werden, und in ungefähr neunhundertneunundneunzig von tausend Fällen gibt es zwischen den Erscheinungen keine Verbindung. Und wer sich immer nur stören lässt und niemals die Gründe für diese Störung findet, der wird unweigerlich den Halt verlieren und abstürzen. Wehe dem, der den Marktwagen nicht findet, der damals, vor dreißig Jahren, an der steilsten Stelle der Rue de Belleville stand, beladen mit frischer Minze und einem Haufen blutiger Schafsköpfe, bewacht von einem Ivoirien, wehe dem, der die Verbindung zu den beiden Chinesen nicht findet, sich verwirren lässt vom Grün und vom Rot, vom Surren der Fliegen, aber den Geruch nach Blut und Pfeffer nicht erkennt, der gleich aus der Erinnerung, vom Leiterwagen wie vom Nebentisch aus ihren Mündern, in die Nase steigt. Hier! Für einen Augenblick ist im chaotischen Universum ein Geviert gezogen, eine Freistatt, wo die Gravitation einer dreißigjährigen Sonne die Existenz dreier Menschen in einem ephemeren Gleichgewicht hält. Gleich wird es in sich zusammenstürzen, wieder Teil der allgemeinen und ewigen Kontingenz werden, und man tut besser, sich vor den fallenden Trümmern zurück ins Leben zu retten.