Читать книгу "Ein Wort, ein Satz…" - Группа авторов - Страница 7
THOMAS BRUSSIG
Eine kurze Anleitung zur Unsterblichkeit
ОглавлениеWir machen Bücher. Das sind die Dinger, die, wenn du zum Beispiel durch Goethes Geburtshaus geführt wirst, im Bibliothekszimmer siehst, und bei deren Anblick du dann denkst: ›Ah, das könnte im Kopf des künftigen Dichterfürsten gewesen sein. Auch wenn er wohl kaum all diese Bücher gelesen haben dürfte, so wird er zumindest in manchen von ihnen geblättert haben.‹ Doch wer liest heute noch in diesen Büchern? Selbst der Autor einer Doktorarbeit, die sich mit der Bibliothek in Goethes Geburtshaus befasst, wird kaum eines dieser Bücher zur Gänze gelesen haben.
Auch als ich in der Bibliothek des Dubliner Trinity College stand, die als eine der schönsten der Welt gilt, kam mir unwillkürlich der Gedanke, dass, seitdem ich lebe, wohl die Mehrheit der dort stehenden Bücher von keinem einzigen Menschen mehr gelesen wurde.
Das soll weder anklagend noch kulturpessimistisch klingen. Mir selbst fiel mal ein Gedichtband von etwa 1850 in die Hände, wo neben einer Unzahl mir völlig unbekannter Dichter auch Heinrich Heine mit einem Gedicht vertreten war, und dieses stach heraus: Neben allerlei schwülstig-schwurbeliger Natur- und Mythologiepoesie war das Heine-Gedicht (ich weiß nicht mehr, welches) von kristallener Klarheit. Diese Leseerfahrung lehrte mich eines: Unsere Klassiker sind nicht zufällig unsere Klassiker; sie waren zu ihrer Zeit etwas Besonderes (auch wenn das damals nicht unbedingt von allen gesehen wurde, denken wir nur an Georg Büchner oder Franz Kafka). Und neben dem wenigen, was überdauert, gibt es vieles, das zu Recht vergessen wurde und in Frankfurt, Dublin oder sonstwo nur noch einstaubt.
Damit provoziere ich natürlich die Frage, ob ich mich auch für einen Autor halte, der eines Tages vergessen sein wird, weil er Bücher schreibt, die es nicht anders verdienen. Und wenn ja, wozu die Mühe? Warum Bücher schreiben, die ohnehin vergessen werden?
Als ich im Jahr 1991 mein literarisches Debüt hatte, den Entwicklungs- und Adoleszenzroman Wasserfarben, sagte ich in einem Radiointerview kurz vor der Veröffentlichung, dass man diesen Roman auch in zwanzig Jahren noch lesen kann – und als ich das aussprach, wurde mir schwindelig. Zwanzig Jahre sind eine sehr lange Zeit, und wenn ich als damals Sechsundzwanzigjähriger derartige Prognosen abgab – war ich da nicht ein Hochstapler? Heute lässt sich sagen, dass mein Buch zwar schon damals kaum gelesen wurde, aber meine Schwindel auslösende Vermutung bewahrheitete sich dennoch; in den vergangenen Jahren gab es immer mal Nachauflagen der Wasserfarben. Und dass die »zwanzig Jahre« eine gängige Maßeinheit für literarische Dauerhaftigkeit sind, wurde mir 2007 in einem Interview bewusst, anlässlich des Todes von Ulrich Plenzdorf, ebenfalls fürs Radio und obendrein live. Ob denn seine Bücher auch in zwanzig Jahren gelesen werden, wurde ich gefragt, und aus der Frage ließ sich die Hoffnung heraushören, dass ich den Büchern des kürzlich Verstorbenen nicht nur ein zwanzig-, sondern gleich hundertjähriges Nachleben prophezeien würde. Doch ich antwortete: »Wenn Sie mich so fragen, sage ich Nein. Vor zwanzig Jahren ist Heinrich Böll gestorben, als Nobelpreisträger. Werden seine Bücher heute noch gelesen? Aber Ulrich Plenzdorf hatte eine riesige Leserschaft, eine wahre Fangemeinde, zu seinen Lebzeiten. Ist das etwa nichts? Die wenigsten Schriftsteller können das von sich behaupten, und wer dieses Glück hatte, den müssen wir nicht als gescheitert betrachten, nur weil seinem Werk Dauerhaftigkeit abgeht.«
Und das ist meine Überzeugung: Wenn ein Buch heute und in zwanzig Jahren wirkt, dann ist viel erreicht, sehr viel. Aber auf Unsterblichkeit zu setzen? Das erinnert unwillkürlich an jene Menschen, die Parzellen auf Mond und Mars kaufen, für echtes Geld.
Wenige Wochen vor der Jahrtausendwende rief die New York Times (oder war’s ein anderer New Yorker medialer Flugzeugträger?) die weltweit wichtigsten Schriftsteller des 21. Jahrhunderts aus. Eine Deutsche war auch dabei. Weder hatte ich damals je von ihr gehört, noch hörte ich später von ihr (zumindest haben wir keine großartig bekannte Autorin, von der wir alle wissen, dass sie bereits 1999 zu den »wichtigsten Schriftstellern des 21. Jahrhunderts« gezählt wurde). Wer auch immer die Auswahl traf, eine Ausrede der Art, »dass sie nicht groß bekannt ist, widerlegt nicht den Umstand, dass sie wichtig ist«, lasse ich nicht gelten.
In den USA wird immer mal das Stück gezeigt, bei dessen Aufführung Abraham Lincoln erschossen wurde. Es war kein Shakespeare, und neunzig Prozent der heutigen Zuschauer werden wohl denken: Den Theaterbesuch hätte Lincoln sich schenken können. Wegen so was haben wir unseren besten Präsidenten verloren. Das ist einfach nicht fair. Das Stück, dessen Autor und Titel ich im Moment zu faul bin zu googeln, überdauert nicht wegen seines Inhalts, sondern aus Gründen, die nichts mit dem Stück zu tun haben.
»Bücher sind so wichtig für den Einzelnen, aber so ohnmächtig gegenüber dem Ganzen«, schrieb ich mal, und auch, dass es kein Buch gebe, das eine Revolution entfacht hat. Denn es geht um etwas anderes. Es geht nicht um Unsterblichkeit und auch nicht darum, durch ein Buch die Welt zu verändern. Sondern darum: »Du klappst das Buch zu, hebst den Blick und schaust anders in die Welt.« Das verdanken wir den Büchern, und ich wüsste nicht, wieso mir die künftigen, noch ungeborenen Leser wertvoller sein sollen als die jetzt lebenden.
Wer dennoch etwas schreiben möchte, das noch in fünfhundert Jahren gelesen wird, dem will ich gern verraten, wie es geht: Nimm eine fünf- bis sechsstellige Summe und kaufe ein Stück Wald, mindestens fünf Hektar. (Zwanzig oder gar hundert Hektar wären besser.) Gehe zu einem Notar und lass ein Schriftstück aufsetzen, wonach der Besitz dieses Waldes an die unabwendbare Verpflichtung geknüpft ist, die Hälfte der Fläche unberührt zu lassen, und nur auf der anderen Hälfte wirtschaftliche Verwertungshandlungen (wie Bautätigkeit, Nutzholzgewinnung etc.) gestattet sind, und dass der Besitz nur als Einheit vererbt, verkauft oder sonst wie übertragen, aber nicht parzelliert, geteilt oder zerstückelt werden darf. Wer dagegen verstößt, verliert sein Eigentumsrecht sofort an den Ersten, der in die ursprüngliche Verpflichtung einzutreten gedenkt. Kurzum: Du schaffst ein Waldstück, das total verwildert, zu einem Urwald renaturiert. Dies ist eine Provokation, ein Steinchen im Schuh, und alle Jahre wieder wird die Frage erörtert, wieso dieses Waldstück so nutzlos vor sich hin wächst – und dann kommt dein Schriftstück ins Spiel: Menschen werden es sich vornehmen und lesen, um ein Schlupfloch zu finden (und dass die Hälfte der Fläche profitabel sein darf, hat damit zu tun, dass es rational und lohnend sein muss, das Ganze zu besitzen, sonst will niemand deinen Wald). Und je ausführlicher du über deine natur- und klimaschützerischen sowie kapitalismus- und zivilisationskritischen Motive schreibst, desto mehr wird von dir gelesen. (»Desto mehr« meint: Dreitausend Wörter Vertrag und Pamphlet sind mehr als tausend Wörter Vertrag.) Du solltest weiterhin deinen Text mit Gendersternchen und sonstigem modischen Krimskrams verzieren, für die garantiert gestrige Wirkung in späteren Zeiten. Überhaupt, je heutiger, je zeitgenössischer dein Sprachgebrauch ist, desto schneller altert dein Text und desto leichter wird er als etwas längst Vergangenes einsortiert.
Natürlich kann es passieren, dass dein Text durch Enteignung obsolet wird, oder weil es einem künftigen Waldbesitzer gelingt, das notarielle Konstrukt zu knacken. Aber bis das geschieht, wird man deinen Text öfter gelesen haben als die meisten Bücher, die in der Bibliothek des Trinity College stehen.