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2. Dichten als Identitätsarbeit

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Im ersten Lyrikband Salvatore A. Sannas – Fünfzehn Jahre Augenblicke – sind die Gedichte, die sich auf die Erfahrung in Deutschland beziehen, und jene, die sich auf seine ursprüngliche Heimat Sardinien beziehen, klar getrennt. Man hat den Eindruck, dass Deutschland für das lyrische Ich ein Terrain ist, auf dem es neue Erfahrungen sammelt, mit neuen sinnlichen Eindrücken konfrontiert ist, neue Begegnungen macht. Sardinien hingegen erscheint als Chiffre einer früheren, einer vergangenen Zeit. Das, was als Kontrast erscheinen mag – Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Kontrast zwischen Sardinien und Deutschland, Kontrast zwischen Deutschland und vielen anderen Orten, von denen in Salvatore A. Sannas Gedichten die Rede ist –, erweist sich, betrachtet man sein Gesamtwerk, tatsächlich als Zusammenspiel. Aus diesem Zusammenspiel von Verschiedenem und bisweilen Gegensätzlichem konstituiert sich in Salvatore A. Sannas Lyrik eine individuelle Identität. Ich zitiere hierzu den Dichter selbst, aus der Tonbandaufnahme eines von mir geführten Interviews von 1990:

„È quindi il problema della identificazione culturale, e, nello stesso tempo, […], tutti noi dobbiamo, se l’Europa continua a marciare, […] rinunciare a una parte della nostra identificazione. […] Cioè, rinunciare nel senso che non possiamo credere solo ad essa, ma, ampliando […] il nostro campo culturale, riceveremo una identificazione più grande che non sarà più quella nazionale, ma sarà quella europea.“1

„Es ist also das Problem der kulturellen Identität und zugleich müssen wir alle, wenn es mit Europa weitergeht, auf einen Teil unserer Identität verzichten. Verzichten in dem Sinn, dass wir nicht nur an sie glauben dürfen, sondern indem wir unseren kulturellen Radius erweitern, erhalten wir eine umfassendere Identität, die nicht mehr die nationale, sondern die europäische ist.“ (Übers. aus dem Italienischen Immacolata Amodeo)

Die Geschichte – die individuelle wie die kollektive – ist Teil der Identität, sie steckt in der Identität. Zur europäischen Identität gehört z. B. auch die spanische Vergangenheit Sardiniens:

„Non si deve neanche dimenticare che la Sardegna per quasi 400 anni è stata territorio spagnolo, appunto dal 1321 al 1716. Allora questo fatto ci ha resi un po’ estranei, cioè, ha reso i sardi estranei alla cultura nazionale, anche se poi è il caso e il destino che opera, la Sardegna è stata la prima regione a far parte […] di quella che poi sarà stata, o sarà, l’Italia.“2

“Man darf nicht vergessen, dass Sardinien fast 400 Jahre lang spanisches Territorium war, und zwar von 1321 bis 1716. Aufgrund dieser Tatsache stehen wir der Nationalkultur etwas fremd gegenüber. Auch wenn dann der Zufall es wollte, dass Sardinien die erste Region war, die zu dem gehörte, was dann Italien sein würde.“ (Übersetzung aus dem Italienischen Immacolata Amodeo)

Salvatore A. Sannas Dichtung führt vor, wie sich aus unterschiedlichen kulturellen Einflüssen, aus partikularen Geschichten jenseits der Nationalgeschichte, aus der Begegnung der kulturellen Prägung einer scheinbar randständigen Region wie Sardinien mit mitteleuropäischen Mentalitäten eine Identität konstituieren kann. Diese ist natürlich nicht als homogene und statische Identität zu sehen, sondern als eine Identität, die sich gerade auf der Grundlage eines Lebens an verschiedenen Orten, unter unterschiedlichen kulturellen Einflüssen konstituiert, als eine Identität in Bewegung, offen für die vielfältigsten Veränderungen.

Zu einer solchen Identität gehören auch mehrere Sprachen. Sanna macht deutlich, dass die deutschsprachige Umgebung, in der er einen großen Teil seines Lebens verbracht hat, auf sein Italienisch, seine Sprache der Dichtung, Einfluss hatte, diese inspiriert und stimuliert hat. Wie hat man sich das vorzustellen? Ich zitiere den Dichter selbst, der es anhand einiger Beispiele erläutert:

„…in der Formulierung und auch in der Verwendung bestimmter Wörter, zum Beispiel der Goldregen ist eine Pflanze, die man in Italien selten sieht, aber der Goldregen blüht im Mai in unserem Garten, und so hat mich diese Pflanze besonders interessiert, oder zum Beispiel die Ebereschen, auch das ist etwas, was man in Italien selten sieht. Also das sind Stimuli, die ich aus dem deutschen Milieu entnehme und auch hier erlebe in einem Kontext, und insofern beeinflusst dieses Milieu auch die Auswahl der Wörter, die ich verwende.“3

Vielleicht könnte man von Osmose zwischen dem Deutschen und dem Italienischen sprechen. Die deutschsprachige Umgebung, in der er lange gelebt hat, hat sein Italienisch, seine Literatursprache, beeinflusst, stimuliert, erweitert. Das Italienisch, das dabei herausgekommen ist und das der Dichter verwendet, ist ein spezielles Italienisch. Der Dichter erläutert diesen Gedanken folgendermaßen mit seinen eigenen Worten:

„Io scrivo in italiano, ma das ist eine andere Sprache, è una lingua che non ha seguito gli sviluppi che si sono avuti in Italia. Io sono fermo al linguaggio degli anni sessanta, alla lingua degli anni cinquanta, quando venni in Germania. E poi ho seguito gli sviluppi, così, attraverso la radio, attraverso il giornale […], io sono qui da 25 anni, ma certamente c’è un fenomeno di ritardo e probabilmente è una lingua letteraria a cui io mi riferisco.“4

Salvatore A. Sanna erklärt hier, dass sein Italienisch, das Italienisch, in dem er dichtet, ein anderes Italienisch ist als das heutige Standarditalienisch. Sein Italienisch sei jenes, das er mitgebracht hat, als er nach Deutschland kam. Es reflektiere stark die Zeit, als er Italien verlassen hat, die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts; sein Italienisch habe sich natürlich auch in Deutschland weiterentwickelt, es wurde ständig aktualisiert durch Radiohören und Zeitunglesen, aber es befinde sich doch in einer gewissen Versetztheit gegenüber den Entwicklungen der ‚Nationalsprache‘ innerhalb von Italien. Es ist gewissermaßen ein ‚archäologisches‘ Italienisch, das zwar immer wieder mit den aktuellen Sprachentwicklungen in Italien in Kontakt getreten ist, aber doch die Patina einer anderen Zeit auf sich trägt, eine Art „papierne Sprache“. Diesen Ausdruck haben die französischen Literatur- und Kulturtheoretiker Gilles Deleuze und Felix Guattari in Bezug auf Franz Kafkas Pragerdeutsch geprägt, welches ebenfalls eher eine literarische als eine gesprochene Sprache war.5

Die Originalausgaben von Salvatore A. Sannas Lyrikbänden haben alle deutsche Titel: Fünfzehn Jahre Augenblicke, Löwen-Maul, usw. Die Gedichte selbst wurden von Sanna aber auf Italienisch geschrieben. Erschienen sind sie dann in zweisprachigen Ausgaben. Die deutsche Übersetzung wurde nicht vom Autor selbst, sondern von Übersetzern besorgt: Von Ragni Maria Gschwend, Birgit Schneider, Gerhard Goebel-Schilling, Caroline Lüderssen. Obwohl Salvatore A. Sanna auf Italienisch dichtet, besteht er darauf, dass sein intendierter Leser ein deutscher Leser ist.6 Der deutsche Leser ist der Dialogpartner des lyrischen Ichs, das auch seinen Prozess der Annäherung an die Sprache des Anderen thematisiert. Indem die sprachliche Andersartigkeit in der sprachlichen Begegnung erfahrbar wird, eröffnet sich eine Art dialogischer Raum:

[…]

Siamo studenti e decliniamo

il der die das

della tua lingua

[…]

[…]

Wir sind Studenten

und deklinieren

das Der Die Das

deiner Sprache

[…]7.

Salvatore A. Sanna betonte immer wieder, dass er für einen deutschen Leser schrieb: „… denn unsere Arbeit entsteht hier, und ob wir wollen oder nicht, schreiben wir für ein deutsches Publikum in erster Linie.“8 Dieser deutsche Leser betritt, sobald er sich auf Sannas Gedichte einlässt, den vom Dichter geschaffenen dialogischen Raum. Und man hat den Eindruck, dass es genau dieser dialogische Raum ist, in den der Dichter seinen Leser führen will, um ihm in sprachlicher Hinsicht so einiges zuzumuten. Salvatore A. Sannas Gedichte enthalten in der italienischen Fassung deutsche Worte, in der deutschen Fassung italienische Worte, aber auch englische, französische Formulierungen, oft sind es Ortsangaben, aber auch anderes. Wer einmal das Glück gehabt hat, einem Gedichtvortrag von Salvatore A. Sanna beizuwohnen, kann ermessen, welche Bereicherung des lyrischen Ausdrucks die italienische Dichtungssprache hier von den anderen Sprachen her, mit denen sie in diesen Gedichten in Kontakt kommt, erfahren hat. Mit Hilfe der Einflechtung anderer Sprachen in das Italienische, mit Hilfe dieser sprachlichen Heterogenität, die Salvatore A. Sannas scheinbar einsprachigen italienischen Gedichte prägt, markiert der Dichter eine Distanzierung bzw. Grenze sowohl zwischen ihm und den einsprachigen und monokulturellen Deutschen als auch zwischen ihm und den einsprachigen und monokulturellen Italienern und führt zugleich einen Dialog mit dem Anderen, dem Gegenüber. Die mehrsprachige lyrisch-poetische Erinnerungs- und Identitätsarbeit von Salvatore A. Sanna ist auch eine kulturelle Vermittlungsarbeit. Diese kulturelle Vermittlungsarbeit ist nicht immer eine einfache Aufgabe. Es bedarf einer großen Sensibilität, eines hohen Maßes an Fingerspitzengefühl, wie dieses Gedicht suggeriert:

Dalla sensibilità delle tue antenne

riconosci la potenza del trasmettitore

Le onde sono diverse

lunghe, medie, corte

e a modulazione

Devi sintonizzarti

per carpire il messaggio

cifrato

L’occhio del ciclone

è ancora lontano.

An der Empfindlichkeit deiner Antennen

erkennst du die Stärke des Senders

Die Wellen sind unterschiedlich

lang, mittel, kurz

und ultrakurz

Du mußt dich einstellen

um die chiffrierte Botschaft

zu empfangen

Das Auge des Zyklons

ist noch fern.9

Zum poetischen Werk von Salvatore A. Sanna

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