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2.2 Theoretische Erkenntnisse
ОглавлениеWenn Gewalt ein häufiges Phänomen in helfenden Kontexten darstellt, ist der Versuch, in pädagogischen oder pflegerischen Zusammenhängen zu gewaltvermindernden Umgangsformen zu kommen, etwa durch Supervision oder Training, ein professioneller Umgang mit diesem. Ein erster Schritt wäre die Eingrenzung, was unter personeller Gewalt zu verstehen ist.
Sie kann als »eine schädigende Handlung bzw. behindernde Machtausübung gegen andere Menschen – die diese als gewalttätig erleben« (Rövekamp/Sommer 2016, S. 98) bezeichnet werden. Breakwell ergänzt die Definition um den Vorsatz, einen Schaden zuzufügen, denn würde Schaden unbeabsichtigt entstehen, läge keine Gewalt vor (vgl. Breakwell 1998, S. 19). Es wird deutlich, dass die subjektive Perspektive – gerade der Opfer von Gewalt – ebenso wichtig ist wie der Versuch, objektiv zu bestimmen, um welche Tatbestände es sich bei Gewalt handelt. Gewaltakte sind grundsätzlich zu unterscheiden in körperliche und seelische Misshandlungen, ebenso in aktive und passive Vernachlässigungen sowie in angemessene sowie unangemessene Gewaltreaktionen. Das bedeutet: Personale Gewalt, etwa durch Misshandlung oder Vernachlässigung, lässt eine illegitime direkte Handlung einer oder mehrerer Personen erkennen, die andere Beteiligte ganz konkret trifft und meistens auch von Außenstehenden als grenzüberschreitend erlebt wird.
Funktionale Gewalt stellt eine fürsorglich gemeinte Form dieser dar, die jedoch immer auf ihre Angemessenheit zu prüfen ist. Auch wenn diese von Fachkräften nicht als Gewalt verstanden würde, findet sie in der Arbeit mit Menschen – etwa in Zwangskontexten – statt. Vernachlässigungen hingegen lassen genau dieses fürsorgliche Verhalten vermissen, sie zeichnen sich durch bewusst unterlassene oder unzureichende Hilfe aus. Selbstbehauptungen können als gewalttätig empfunden werden, etwa, wenn Pflegende körperliche Abwehrmaßnahmen als eine Form von Notwehr nutzen. Abwehrmaßnahmen durch Drohungen, Kränken und Schimpfen stellen hingegen immer eine Form der Misshandlung dar, auch wenn sich Menschen im privaten Alltag anders wehren würden, sind verbale Zurückweisungen ebenso wie Anschreien oder Alleinlassen häufig unangemessen (vgl. Oelke 2012, S. 673).
So können Fachkräfte wie auch AdressatInnen folgende Gewaltformen erleben ( Tab. 1):
Tab. 1: Beispiele von Misshandlungen und Vernachlässigungen nach Rövekamp/Sommer 2016, S. 98 f.
Zahlreiche Beispiele für Misshandlungen und Vernachlässigungen auf beiden Seiten der helfenden Beziehung – als eine Gewaltspirale – finden sich ebenfalls bei Rövekamp und Sommer ( Tab. 2). Dazu zählen:
Tab. 2: Beispiele von Misshandlungen und Vernachlässigungen auf beiden Seiten der helfenden Beziehung nach Rövekamp/Sommer 2016, S. 100
Können Sie diese Ausführungen ergänzen? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht hinsichtlich der Eskalation von Gewalt, welche Beteiligten waren vielleicht noch betroffen?
Mit einer eher systemisch orientierten Perspektive bieten deshalb Rövekamp und Sommer (Rövekamp/Sommer 2016, S. 96 ff.) ein Verständnis von Gewalt als einem Regelkreislauf in der helfenden Beziehung an, in dem die Begriffe »Täter« und »Opfer« unschärfer werden ( Abb. 1). Dabei wird zunächst nachgespürt, wie sich die Beteiligten einerseits als Opfer fühlen, aber gleichzeitig auch zu Tätern werden. Einseitige Schuldzuweisungen wirken so reduziert. Betroffene sind vielmehr oft Beteiligte in einem Teufelskreis der Gewalt. Dieser ist zudem von umgebenden strukturell bzw. strukturellen Belastungen beeinflusst. Diese wirken prädisponierend auf die Beziehung. Insofern kann Gewalt als illegitime und behindernde Machtbeziehung zwischen Menschen und ihren Bedürfnissen verstanden werden. Daran können mehrere Menschen beteiligt sein, auch wenn das folgende Schaubild lediglich zwei Beteiligte darstellt. Natürlich darf ein solches Erklärungsmodell nicht zur Rechtfertigung gewalttätigen Verhaltens missbraucht werden.
Abb. 1: Zur Dynamik von Frustration, Aggression und Gewalt in der helfenden Beziehung. In Anlehnung an: Pflegebeziehung als Kreislauf (Rövekamp/Sommer 2016, S. 96)
Im Einzelnen:
Frustrationen entstehen bei Beteiligten immer dort, wo der Austausch zwischen ihnen als unfair erlebt wird. Behindernde Machtbeziehungen, die Bedürfnisse unbefriedigt lassen, lösen bei Menschen u. U. das Gefühl aus, zum Opfer zu werden, unabhängig davon, ob sie es tatsächlich sind. Eine daraus folgende aggressive Durchsetzung einer als »logisch empfundenen Reaktion« ihrerseits empfinden andere Beteiligte wiederum als Frustration und sehen sich in der Opferrolle. Aggressiv Handelnde werden zu TäterInnen, wenn sie Ohnmachtsgefühle entstehen lassen. Äußerungen wie etwa »Ab heute lass ich mir das nicht mehr gefallen« dokumentieren einerseits das Gefühl, Opfer zu sein, und gleichzeitig die Bereitschaft, Täter zu werden. Somit entsteht ein Kreislauf zwischen Beteiligten, die sich als Opfer fühlen und zum Täter werden. Wo dieser Zyklus begann und »wer angefangen hat«, lässt sich von den Betroffenen oft nicht objektiv feststellen. Die Beteiligten haben jedoch das subjektive Empfinden, ihre Reaktion sei nachvollziehbares Verhalten auf das Frustrationserlebnis, was wiederum beim »Anderen die gleiche Kette freisetzt und damit einen Teufelskreis in Gang hält.« (Rövekamp/Sommer 2016, S. 97)
Personale Übergriffe können als das Ergebnis von Frustrationen, etwa durch eigene Gewalterfahrungen, als Ergebnis mangelnder Fachlichkeit oder erlebter Provokation verstanden werden. Das systemische Verständnis zur Erklärung des Phänomens, mittels dessen die Arbeitsbeziehung als ein soziales System, »in dem sich die handelnden Personen aufeinander beziehen« (Rövekamp/Sommer 2016, S. 96), verstanden wird, zeigt: Gewalt wird in solchen sozialen Räumen wahrscheinlich, in denen Frustrationen erzeugt oder Professionalität verhindert wird, weil Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Dieses Modell wurde in Anlehnung an die bedürfnisorientierte Systemtheorie von Silvia Staub-Bernasconi entwickelt (vgl. Staub-Bernasconi 2018). Die Autorin setzt sich darin klar nicht nur für Werte körperlicher Unversehrtheit und psychischen Wohlbefindens ein. Sie sieht auch in diesen Zusammenhängen die Aufgabe für die Beteiligten darin, ihre Bedürfnisbefriedigung durch Kooperation und Gegenseitigkeit zu erlernen, ohne behindernde Macht- oder Gewaltstrukturen aufzubauen. Die helfende Beziehung zwischen Fachkraft und KlientIn als soziales System hat, so kann die Theorie Staub-Bernasconis ausgelegt werden, emergente, also heraustretende, aber auch alternativ nutzbare Eigenschaften, etwa Interaktionsregeln, die ihren Mitgliedern die Befriedigung dieser Bedürfnisse ermöglichen sollten. Unerfüllte Bedürfnisse werden zu sozialen Problemen. Diesen entgegenzuwirken bedeutet im Sinne Staub-Bernasconis, individuelle Bedürfniserfüllung durch die Erweiterung von Wissens- und Handlungsspektren zu ermöglichen und faire Umgangsformen mit gleichen Rechten und Pflichten sowie Regeln der Machtbegrenzung und -verteilung zu etablieren.
Neben der systemischen Perspektive werden auch der tiefenpsychologische Ansatz, die Frustrations-Aggressions-Hypothese oder der lerntheoretische Ansatz zur Erklärung von Gewalt und Aggression herangezogen. Diesen wird im Folgenden nachgegangen.
Wenn personale Gewalt sich in schädigenden Resultaten zwischen Fachkräften und ihren AdressatInnen vollzieht, kann die Aggression als das schädigende Verhalten gegen den Willen des anderen verstanden werden (vgl. Breakwell 1998, S. 19 ff.). Im Folgenden werden zunächst einige Aspekte des Phänomens Aggression beleuchtet.
Dazu ist eine genauere Auseinandersetzung mit dem Aggressionsbegriff notwendig. Der umgangssprachliche Gebrauch und die fachliche Perspektive unterscheiden sich darin, dass ersterer häufig nur eine negative Betonung erhält, wenn die destruktiven Anteile im Vordergrund stehen, während wertfreie Interpretationen der Aggression auch deren positive Möglichkeit eines »In-Angriff-Nehmens« einschließen. So kann Aggression grundsätzlich als in spezifischen Situationen durch besondere Reize, etwa Frustrationsgefühle, ausgelöstes Verhalten beschrieben werden, welches das Ziel verfolgt, Ressourcen zu verteidigen und bedrohliche Situationen unbeschadet zu überstehen, indem Lebenskraft aktiviert wird. Dabei sind die Formen der Aggression natürlich von sozialen Normen abhängig. Gewalttätige, aktive Aggression ist »jedes psychische oder verbale Verhalten, mit dem die Absicht verfolgt wird, zu verletzen oder zu zerstören, egal ob es reaktiv aus Feindseligkeit entsteht oder aktiv als kalkuliertes Mittel zum Zweck fungiert.« (Myers 2008, S. 665) Die schädigende Absicht lässt destruktive statt konstruktiver Anteile erkennen: Denn während aggressives Verhalten einerseits einem Menschen zur Durchsetzung notwendig erscheint, mag es auf den anderen als Angriff oder Verteidigung bedrohlich oder gewalttätig wirken. Dennoch: Empfundene Schädigung muss nicht automatisch Schädigungsabsicht beinhalten. Pflegefachkräfte, die Spritzen setzen, führen diese Handlung nicht aus, weil ihr Hauptziel offenkundig die Schädigung der PatientInnen wäre. Hierbei handelt es sich um eine instrumentelle Aggression, es ist nicht die Intention, sondern die Wirkung, die als Gewalt empfunden wird.
Frage: Kennen Sie weitere Beispiele instrumenteller Aggression?
Feindliche Aggression beginnt mit der Absicht zur Verletzung.
Aggression kann sich sowohl nach außen richten, wenn sie andere Menschen zum Ziel hat, als auch nach innen, wenn autoaggressiv selbstschädigendes Verhalten eine entgegengesetzte Form der Beziehungsgestaltung annimmt. Soziale Beziehungen entwickeln dadurch eine ganz andere Dynamik. Von einem aktiv aggressivem Verhalten kann ein passiv-aggressives Verhalten abgegrenzt werden. Dieses Angriffsmuster besteht in den gelernten Aggressionsstilen, sprachlos zu werden, zu weinen oder die Schuld auf andere zu schieben. Mit dem Begriff Autoaggression wird selbstschädigendes Verhalten bezeichnet, bei dem die betreffende Person die Aggression gegen sich selbst lenkt. Die individuellen »Aggressionsvorlieben« sind für Breakwell auch sozial gelernte und individuell entwickelte Formen, in bestimmten Situationen Aggressionen auszudrücken (vgl. Breakwell 1998, S. 60 ff.).
Der professionelle Umgang mit Menschen in emotionalen und körperlichen Ausnahmesituationen in den vielen Situationen, in denen das Aggressionspotenzial der Beteiligten aktiviert ist, etwa durch Angst oder Bedrohung, ist schwierig, denn aktivierte Impulse von Kampf oder Flucht (fight or flight) betreffen auch die HelferInnen. Vielleicht liegt in einzelnen Einrichtungen sogar ein aggressionsförderndes Klima vor. Aber wo endet der Selbstschutz oder das Verständnis für die Handlungen anderer und wo beginnt tatsächlich eine schädigende Absicht? Mit der Vermittlung aufhellenden Hintergrundwissens und durch die Enttabuisierung des Themas lassen sich aggressiv-gewalttätiges Verhalten und dessen Folgen im beruflichen Alltag reduzieren und verhindern.
Gerd Mietzel beschreibt unter der Überschrift »Aggression und ihre Erklärung« diese verschiedenen Aspekte fachlicher Zugänge zum Phänomen, die im Folgenden kurz dargestellt werden (vgl. Mietzel 2000, S. 205 ff.). LeserInnen werden in seinem Werk »Wege in die Psychologie« alsbald mit der Frage konfrontiert, ob sie die pessimistische Einstellung zur menschlichen Natur mit Wiliam Golding nach dem Ende der Dreharbeiten zu Herr der Fliegen oder mit Sigmund Freud nach seinen Beobachtungen des ersten Weltkrieges teilen:
Sind Menschen von Natur aus gewalttätig?
An diese Frage schließt Mietzel die Erläuterung Sigmund Freuds an, dass nämlich der Triebtheorie neben einem Lebenstrieb (Eros) auch ein Todestrieb (Thanatos) als Antagonist hinzuzufügen sei:
»Wir nehmen an, daß die Triebe des Menschen nur von zweierlei Art sind, entweder solche, die erhalten und vereinigen wollen – wir heißen sie erotische […] – und andere, die zerstören und töten wollen; wir fassen diese als Aggressionstrieb […] zusammen. […] Übrigens handelt es sich […] nicht darum, die menschliche Aggressionsneigung völlig zu beseitigen; man kann nur versuchen, sie so weit abzulenken, daß sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden muß.« (Freud, zit. in Mietzel 2000, S. 297 f.)
Staut also ein Organismus aggressive Tendenzen auf, drängt es nach (selbst-)zerstörerischem Verhalten – so dieses triebtheoretische Verständnis. Die Aggressionsbereitschaft von Menschen bindet diese jedoch nicht zwangsläufig zu gewalttätigem Verhalten, denn in verschiedenen Situation differenzieren sich die Umgangsformen mit dem Phänomen. Ebenso reagieren Menschen individuell unterschiedlich stark auf ähnliche Bedingungen. Sie stellen sich die Frage, ob aggressives Verhalten vorteilhaft ist oder in bestimmten Situationen nicht angebracht erscheinen mag.
Ein weiterer Aspekt sind die Formen der Abwehr, etwa wenn KlientInnen, durch Belastung und Krise ausgelöst, ein Schutzverhalten zeigen. So wird die Regression gegen Ängste und Überforderung genutzt. Doch wodurch unterstützen die HelferInnen das regressive Verhalten bewusst oder unbewusst? KlientInnen werden z. B. mehr gemocht, wenn sie sich kooperativ zeigen und machen, was vorgeschlagen wird, wenn sie akzeptieren, dass die HelferInnen wissen, was das Beste ist. Sich darauf einzulassen reduziert Stress auf Klientenseite. Doch was ist, wenn die Betroffenen durch die verstärkte Regression noch mehr verharren und Hilfeprozesse stagnieren? Hier wird das Erfordernis der Selbstständigkeitsförderung sichtbar: Wie können Fachkräfte professionell mit regressivem Verhalten umgehen und welche Wirkung zeigt ihr Handeln?
Daneben können drei Formen von Aggression unterschieden werden: Offene Aggressionen, wie etwa brachiale oder verbale Gewalt, existieren neben verdeckten Aggressionen, etwa wenn ein/e KlientIn für sein/ihr Verhalten bestraft wird, und stellvertretenden Aggressionen, etwa gegen schwächere Beteiligte.
Kennen Sie Beispiele zu den drei Formen? Überlegen Sie bitte für die drei Kategorien von Aggression Lösungen.
Im weiteren Text fasst Mietzel die Frustrations-Aggressions-Hypothese nach Dollard und Miller (1939) zusammen mit der Erkenntnis:
1. Aggression ist immer eine Folge einer Frustration.
2. Frustration führt immer zu einer Form von Aggression.
Frustriert fühlen sich etwa HelferInnen, wenn sie sich, um die Erreichung eines fachlichen Ziels bemüht, in ihrem zielgerichteten Handeln blockiert erleben. In ihren beruflichen Situationen erleben sie dann auch Aggression, deren Ausleben zur Frustration einer anderen Person führt oder das Frustrationsgefühl der Fachkraft weiter verstärkt. Aggression mündet also in reaktivem Verhalten, das wiederum Frustration freisetzt usw. Frustrierend ist vielleicht die Enttäuschung bei einer/einem SozialarbeiterIn, wenn die Befriedigung seines/ihres eigenen Bedürfnisses nach Wertschätzung durch das Verhalten eines/einer Jugendlichen verhindert wird. Aggressives Verhalten dient dazu, das Subjekt, das der Bedürfnisbefriedigung im Wege steht, herauszufordern, häufig ohne Rücksicht auf mögliche Verletzungen der Personen. Die Stärke der Aggressionsreaktion steht dabei im Verhältnis zur vorherigen Frustrationsstärke. Die Spirale von Frustration und Aggression beginnt bei einer harmlos erachteten Bemerkung und mündet dann in Rache.
Aber: Lösen Frustrationen automatisch immer Aggressionen aus?
In Erweiterung ihrer Hypothese beziehen Dollard und Miller die Erkenntnis mit ein, dass Frustration auch der Grund für Ärger, Angst, Isolation oder Niedergeschlagenheit werden könne. So leitet sich die Stärke bestrafenden Verhaltens nicht zwangsläufig aus der Intensität des Frustrationserlebnisses ab. Es kommt auf die Wahrnehmung und Vermutung an, die der Emotion und der Reaktion vorweggehen. Wenn also Bedürfnisse etwa ohne nachvollziehbare Gründe blockiert werden, wirkt das individuell auf die Aggression der Betroffenen. Wenn z. B. eine Klientin in die Beratungsstelle kommt und erfährt, sie müsse warten, weil der Sozialarbeiter nun eine Tasse Kaffee trinken gehen will, reagiert sie wahrscheinlich aggressiver, als wenn sie erfahren würde, dass der Sozialarbeiter gerade einen Schwächeanfall erlitten hat. Auch der Alltag der HelferInnen ist davon geprägt, wenn etwa am Ende eines langen Arbeitsprozesses die KlientInnen die Beratung einfach abbrechen. Es werden Fragen wichtig wie:
• Wieviel Zeit und Kraft wurde investiert?
• Was ist die Begründung für den Abbruch der Hilfe?
• Welche Erwartung hatte die Fachkraft an den Verlauf der Hilfe gehabt?
• Wie ist die Fachkraft in ihr Team integriert?
Können Sie ergänzen?
Es kommt also in als bedrohlich empfundenen Situationen auf die individuelle Entscheidung an. So mag es sogar zu einer o. g. Aggressionsumleitung kommen. Das heißt, dass die Person oder der Umstand, die zu einer Frustration geführt hat, nicht zwangsläufig Opfer der bevorstehenden Aggression werden muss. Stattdessen wird eine andere Person mit aggressivem Verhalten angegangen.
Einem kognitiven Aspekt des Phänomens folgt Mietzel, wenn er im weiteren Verlauf erläutert, dass die Annahme, dass Aggression, wie jedes soziale Verhalten, durch Beobachtung, Nachahmung und Lernen am Erfolg reproduziert wird, der Erklärung von Aggression hinzuzufügen sei. Wenn sich Menschen der Bedeutung der Konsequenz ihrer Handlung bewusst sind, nutzen sie Verhaltensweisen, die Verhaltensbeobachtungen und sichtbare resultierende Konsequenzen einbeziehen.
Frage: Welche situativen Bedingungen/Voraussetzungen können das gewalttätige Verhalten gegenüber alten Menschen in einem Pflegeheim fördern?
Davon ausgehend, dass aggressives Verhalten von Vorbildern nachgeahmt wird, so erläutert Mietzel sein Verständnis von Albert Banduras Ansatz, gilt es zu berücksichtigen, dass »solche Nachahmung nicht automatisch, sondern nur unter bestimmten Bedingungen erfolgt.« (Mietzel 2000, S. 309) Daraus erfolgt für das fachliche Handeln:
• Was bedeutet es z. B. für einen Heilpädagogen, wenn die gewalttätige Handlung gegenüber dem betreuten Menschen geheim bliebe?
• Welchen Einfluss hat der Führungsstil einer Wohnbereichsleitung auf das Verhalten der Pflegefachkraft?
Das Stanford-Prison-Experiment1 von Philip Zimbardo zeigt auf eindrückliche Weise die Rolle des Einflusses anerkannter Autoritäten auf das Verhalten von Menschen.
Die englische Psychologin Glynis Breakwell beschreibt ebenso verschiedene psychologische Erklärungstheorien. Darüber hinaus bietet sie eine zeitliche Differenzierung von fünf Eskalationsphasen als Angriffsphasen sowie Reaktionsweisen der Opfer und schließlich Chancen der Vermeidung für Pflegefachkräfte, HeilpädagogInnen und SozialarbeiterInnen im Umgang mit personaler Gewalt. Sie konfrontiert LeserInnen mit deren o. g. individuellen »Aggressionsvorlieben« als Tätern (Breakwell 1998, S. 60 f.). Fachkräfte können sich entsprechend fragen:
• Welche Auslösefaktoren kenne ich bei mir?
• Welchen Aggressionsstil bevorzuge ich im Konflikt?
• Welche Resultate erzeugt mein aggressives Verhalten?
• Was empfinde ich im Konflikt?
• Welche Vorbilder hatte ich im Umgang mit Konflikten?
• Gegen wen richtet sich meine Aggression?
• Welche Rolle spielt die Kultur der Einrichtung, in der ich arbeite?
Das bereits über 20 Jahre alte Standardwerk von Breakwell findet in aktuellen Diskursen immer noch besondere Resonanz (vgl. Glasl 2017, Oelke 2012). Darin betont sie insbesondere den Unterschied zwischen einer legitimen Selbstbehauptung, sich durchzusetzen – denn diese sichere Individualität und Identität für die Fachkräfte, so die Autorin – und einer illegitimen Gewalt als vorsätzlichem Versuch, Schaden zuzufügen (vgl. Breakwell 1998, S. 19 f.).
Die von ihr dargelegten fünf Verhaltensweisen im Konflikt fordern nicht nur die Fachkräfte auf, ihren Anteil am Konflikt zu reflektieren.
1. Auslösephase
Fachkräfte fragen sich: Wann und wo erreiche ich meinen inneren Siedepunkt? Aufgrund der Vielzahl von Auslösern wird es schwer, sich sämtlicher persönlicher Trigger bewusst zu werden. Betroffene in dieser Phase beginnen anonym, sich nicht mehr regelkonform zu verhalten, sie fallen aber noch nicht auf, da es sich hauptsächlich noch um einen innerpsychischen Prozess handelt.
2. Eskalationsphase
Physische und psychische Unruhe steigen und die Konzentrationsfähigkeit sinkt. Es kommt zu verbaler und nonverbaler Distanzlosigkeit, Beleidigungen und Drohungen nehmen zu. Eine Verrohung von Sprache zeigt sich, Sprachsensibilität nimmt ab. Fachkräfte sind aufgefordert, drohendes oder einschüchterndes Verhalten zu erkennen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden.
3. Krisenphase
Aggressoren sind »rasend vor Wut«, wenn sie die Selbstkontrolle über ihre aggressiven Impulse verlieren. Der Angriff erscheint absolut berechtigt und unausweichlich. Es fällt dann sicherlich schwer, mittels verbaler Kommunikation den Konflikt zu lösen, selbstsicher die eigenen Bedürfnisse zu beachten, achtsam zu bleiben: Wie geht es dem Anderen? Einen Abstand zur gefährlichen Situation zu schaffen, ist sicherlich eine wichtige Aufgabe in solchen Momenten. Vielleicht können rationale Notwendigkeiten vorgeschoben werden, um die Situation verlassen zu können, bevor körperlicher Zwang oder Gewalt ausgeübt wird.
4. Erholungsphase
Betroffene Personen beruhigen sich häufig innerhalb von spätestens anderthalb Stunden, wenn sie die Möglichkeit sehen, ihr normales Grundverhalten wiederherzustellen. Doch noch anfällig, in eine weitere Krise zu rutschen, besteht die Gefahr des Rückfalls, insbesondere da die ersten beiden Phasen dazu nicht mehr durchlaufen werden müssen. Fachkräfte können sich darin üben, sich zu stabilisieren, wenn sie Strategien kennen, sich zu beruhigen.
5. Depressionsphase
Körperliche Erschöpfung, Trauer oder Selbstvorwürfe kennzeichnen diese Phase: Fachkräfte bitten um eine Klärung und beginnen vielleicht mit einer Geste der Versöhnung den neuen Kontakt zu ihren AdressatInnen. Oft ist auch die vermittelnde Außensicht durch eine dritte Person hilfreich.
Breakwell resümiert:
»Schließlich stellt sich in unserer Untersuchung heraus, daß auch die heftigsten gewaltsamen Übergriffe verstanden und mit Hilfe der richtigen Intervention zur passenden Zeit verhindert oder zumindest abgeschwächt werden können.« (Breakwell 1998, S. 60)
Aspekte struktureller bzw. kultureller Gewalt:
In den ständigen Interaktionen und wechselseitigen Beeinflussungen der Beteiligten werden auch auf einen zweiten Blick die Wechselwirkungen zur Umwelt, also die Bedingungen der Einrichtungen (strukturelle bzw. kulturelle Gewalt) erkennbar. Diese wirken als indirekte Form auf die helfende Beziehung (Sozialverhältnisse). Institutionalisierte Beziehungsregeln können etwa ein permanentes Maß an Gewalt beinhalten. In diesem Sinne bestimmen die Interaktionen individueller,
sozialer und gesellschaftlicher Kräfte die Ausgangspunkte des Gewaltpotenzials (vgl. Gerrig 2018, S. 690 ff.).
Sämtliche Gewaltformen bedingen und beeinflussen sich folglich gegenseitig, auch wenn sie nicht immer sichtbar sind (vgl. Rövekamp/Sommer 2016, S. 96 ff.).
Beispiele:
Herr Brucht ist seit drei Jahren arbeitssuchend. In seinem letzten Gespräch mit der Sozialarbeiterin im Jobcenter erfährt er, dass ihm nach SGB II Grundsicherung für Arbeitsuchende sein ALG-1 gekürzt wird, weil er sich zuvor weigerte, an einer ihm angebotenen Maßnahme teilzunehmen. Er versucht vergebens, die Gründe seiner Verweigerung an der Teilnahme dieser vorgeschlagenen Maßnahme zu erklären.
Auf Anordnung des Arztes mit richterlichem Beschluss fixieren die Pflegekräfte des Altenheims die Bewohnerin Frau Kramer jetzt mittels des Bettgitters zu ihrer eigenen Sicherheit, dabei möchte sie sich doch einfach nur bewegen. Sie versteht nicht, warum sie so behandelt wird.
Indirekte Gewalt geht nicht zwangsläufig mit einer personalen Erfahrung unmittelbarer Gewaltanwendung einher. Dennoch kann sie auf Umwegen gewalttätiges Verhalten von Menschen fördern. So mag etwa die Unterbringung in Mehrbettzimmern durch die fehlende Privatsphäre bei BewohnerInnen der Einrichtungen große Frustrationen und damit auch Aggressionen gegenüber Betreuenden zur Folge haben.
Der Begriff strukturelle Gewalt steht speziell für solche Gewaltphänomene, welche z. B. durch das (latente) Vorhandensein behindernder Regeln einer Organisation entstehen. Fachkräfte wie auch KlientInnen können solche Bedingungen spüren, die in einer indirekten Form durch Werte, Normen, Regeln und Zwänge der Einrichtung wirken, wenn deren (Nicht-)Einhaltung sanktioniert wird. Eine solche »Einrichtungskultur« prägt in hohem Maße die stattfindenden Interaktionen (vgl. Greving 2011, S. 133 ff.). Interaktionsprozesse, so der Heilpädagoge Greving, werden durch Strukturen und Prozesse der Einrichtung prädisponiert, die wiederum durch gesellschaftliche Prozesse beeinflusst werden. Ebenso können wirtschaftliche Zwänge angeführt werden. Die Wahrnehmung, einer Fremdbestimmung zu unterliegen und eigene Bedürfnisse, Arbeitsvorstellungen oder Zeitgestaltungen nur noch unzureichend befriedigen zu können, sind Beispiele solcher Gewalterfahrungen, nicht nur auf der Seite der Helfer. Diese versuchen dann vielleicht, nach fachlichen Standards zu handeln, jedoch fühlen sie sich vorgegebenen Rahmenbedingungen unterlegen und ausgeliefert. So entsteht ein sich mehrfach wiederholender Konflikt, der sich auf psychischer oder sozialer Ebene, etwa im Umgang zwischen KollegInnen, zeigen kann. Das Erleben der alltäglichen, nicht lösbar scheinenden Gewaltsituation mündet vielleicht in einer Ohnmachtserfahrung. In solchen Momenten müssen die Ursachen der Gewalt bewusst gemacht werden. Lösungen solcher Konflikte greifen zu kurz, wenn sich die Fachkräfte lediglich den organisatorischen Bedingungen anpassen (»Da kann man ja doch nichts machen!«). Die problematischen Folgen gelten für sie selbst wie auch für die AdressatInnen. Das Kapitel zum Coolout beschäftigt sich mit dieser besonderen Thematik ( Kap. 10).
Ein weiterer Aspekt dieser Gewaltform ist ihr latentes Vorhandensein. So bemängeln z. B. die Fachkräfte in Betreuungseinrichtungen die knappen personalen Ressourcen: Doppelschichten, die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Arbeit, eine geringe Mitbestimmung sind Gründe, die Betreuende in einen Konflikt führen (vgl. Rövekamp-Wattendorf u. a. 2018b). Systemzeiten, also Zeitvorgaben, nach welchen dortige Arbeitsabläufe eingeteilt werden, bestimmen das Leben und Arbeiten. Geht der versuchte Lösungsweg der Sozialberuflichen jedoch zu Lasten der BewohnerInnen, erleben diese das Verhalten als Gewalt. Klar wird: Die Systemzeit in einer Einrichtung steuert offen oder verdeckt die Handlungen der AkteurInnen (Visiten- und Sprechzeiten, Essenszeiten, Zeiten für Körperpflege usw.), sie fordert die Menschen auch auf, ihre persönlichen Zeittakte damit in Übereinstimmung zu bringen. Dies gelingt nicht immer ohne das Empfinden, Opfer von Gewalt zu werden.
Raumkonzepte, die eine aktive und persönliche Gestaltung von Arbeits- und Lebensplätzen verhindern, haben ebenso negative Folgen für die dort Handelnden, wenn etwa eine abwechslungsarme, reizlose Lebenswelt negative Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden ausübt.
Kulturelle Gewalt kann als eine Sonderform struktureller Gewalt verstanden werden. Sie wirkt ebenso indirekt auf die Beteiligten durch ihre Prägung, etwa auf Menschen in Wohnstätten. Sie prädisponiert ihr soziales Handeln, indem sie eine Handlungsorientierung vorgibt. So entstehen etwa Denk-, Sprach- und Handlungsmuster von MitarbeiterInnen gegenüber Menschen mit einer Behinderung, die diese u. U. gar nicht teilen wollen, z. B.: Jede Region pflegt ihre typischen Bräuche, die jedoch nicht von allen Menschen geteilt werden müssen. Die Berücksichtigung kultureller Eigenarten von BewohnerInnen statt »Menschenblindheit« (Sedmak 2013, S. 112) gilt in solchen Einrichtungen als eine transkulturelle Kompetenz.
Auch Bräuche, religiöse Überzeugungen oder kulturelle Symbole haben für Menschen in Einrichtungen der Altenhilfe große Bedeutung, sind aber genauso individuell zu hinterfragen. Gerade ältere Menschen sollten derartige kulturelle Symbole mit ihrer eigenen kulturellen Identität (etwa aufgrund vorhandener Lebenserfahrungen) nicht in Einklang bringen müssen.
Zwei Beispiele:
Während Herr Hein das Mitsingen alter Volkslieder und die Gedichte in der Morgenrunde eines Altenheims liebt, weil sie ihn an seine schöne Kindheit erinnern, ist Frau Mühlen immer ganz unruhig und steht ständig auf, um die Runde zu verlassen, während die Pflegenden es als ihre pflegerische Aufgabe ansehen, sie bei diesem Angebot zu halten. Die Erfüllung ihrer kulturellen Bedürfnisse wird durch fehlende fachliche Biografiearbeit verhindert.
Bei der Inobhutnahme eines Kindes aus einer ausländischen Familie erlebt Frau Mittag vom Jugendamt, dass ihr Handeln im Sinne einer sogenannten Staatsgewalt mit den Werten und Vorstellungen der betroffenen Eltern nicht übereinstimmt. Sie ist mit Sprachproblemen und einem ihr fremden kulturell bedingten Lebensstil konfrontiert. Sie beginnt zu überlegen, ob die Menschenrechte tatsächlich universal sind.
Wie bei der strukturellen Gewalt prädisponiert auch kulturelle Gewalt die professionelle Beziehung. HelferInnen sind aufgefordert, sensibel dafür zu werden, dass Menschen, die sich nicht (un-)geschriebenen Normen anpassen wollen oder können, nicht stigmatisiert werden. Sprachkonflikte begegnen ihnen, wenn Menschen aus fremden Kulturkreisen ausgegrenzt werden. Darüber hinaus ist anzuerkennen, dass soziale Diskriminierung durch unterschiedliche »Behandlung von Menschen, die sich nach Religion, Muttersprache, sexueller Orientierung, Alter, Bildung, Erfahrungshorizont« (Sedmak 2013, S. 140) etc. von der Fachkraft unterscheiden, eine Form kultureller Gewalt ist.
Da strukturelle Gewalt auch durch organisationale Strukturen und ökonomische Regeln verstärkt werden kann, fördert dies dann die personelle Gewalt, wenn, durch sie ausgelöst, der Druck auf MitarbeiterInnen und ihre AdressatInnen etwa durch »Statusangst« oder »Statuswettkampf« (Sedmak 2013, S. 135) weitergeleitet wird.
Was zur Verschärfung dieses Phänomens beiträgt: Fällt es z. B. BerufsanfängerInnen zu Beginn ihrer Arbeit noch schwer, sich des Vorhandenseins dieser Gewaltphänomene bewusst zu werden (ahnungsloser Zugang), so könnte das an stereotypen Bildern und Allmachtsfantasien über das sozialberufliche Handeln in Krankenhäusern, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, Altenhilfeeinrichtungen oder Kinder- und Jugendeinrichtungen liegen. Wenn berufliche Erfahrungen nicht zu vorhandenen vereinfachten Vorstellungen passen, werden sie zunächst überlagert. Vorurteilsbildungen können zu kurzfristigen naiven Selbsttäuschungen führen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf (vgl. Sedmak 2013, S. 136). Dennoch wäre hier Sensibilisierung nötig, um Gefahren und Lösungen frühzeitig zu entdecken. Der Austausch zwischen den MitarbeiterInnen kann dort ertragreich werden, wo ergebnisoffen und kontrovers diskutiert werden darf. Die persönlichen Belastungen durch situationsinadäquate Führungsstile, durch Arbeitsverdichtungen, unzureichende Arbeitsplatzgestaltung, durch Grenzbelastungen usw. gehören ebenso in diesen Reflexionsprozess.
Beispiele:
• Viele Menschen geraten erst in späteren Lebensjahren mit schweren Krankheiten und dem Tod in Kontakt, jedoch wird z. B. eine Pflegefachkraftschülerin bereits zu Beginn ihrer Ausbildung mit schweren Diagnosen, Abschied, Tod und Trauer konfrontiert. Die praktischen Einsätze in einem Altenpflegeheim konfrontieren sie mit dem Dilemma, einerseits Sterbende würdevoll begleiten zu wollen (klientenzentrierte Sichtweise), aber andererseits dem Stationsablauf zu unterliegen (einrichtungszentrierte Sichtweise). Sie muss Gefühlsausbrüche Betroffener erleben, ihnen begegnen und deren Verhalten richtig deuten können. Doch zugleich ist eine unbedingt nötige Aufarbeitung ihrer eigenen Erlebnisse – etwa mit einer Praxisanleitung –, wenn diese aus Personalknappheit nicht sichergestellt ist, erschwert. Es kann zu unprofessionellen Einordnungen kommen. So erwächst die Gefahr, Frustrationsgefühle in neue Pflegebeziehungen (wenn vorhergehenden Erlebnissen nicht fachlich-reflexiv begegnet wird) zu übertragen.
• SozialarbeiterInnen sind nicht nur während ihres beruflichen Starts der Gefahr ausgesetzt, etwa durch die Diskrepanzerfahrung zwischen dem eigenen Anspruch an ihr fachliches Handeln einerseits und den institutionellen Vorgaben – etwa hinsichtlich erreichbarer Fallzahlen – andererseits, sich in einen Pragmatismus zu flüchten. Es kommt zu Aussagen wie »Man kann eben nicht jedem helfen!« Einer Sozialarbeiterin wird vielleicht die Diskrepanz zwischen Ethik und Fachlichkeit einerseits und organisatorischen Rahmenbedingungen andererseits bewusst, aber aufgrund struktureller Bedingungen bleibt diese auf der persönlichen Ebene unlösbar (»Da kann man eben nichts machen.«). Der Konflikt und damit die Belastung bleiben bestehen.
• Neben den physischen Belastungen sind Pflegefachkräfte in Krankenhäusern auch hohen fachlichen Anforderungen ausgesetzt. Unaufhörlich wiederkehrender Zeitdruck kommt hinzu. Jeder »noch so kleine Fehler« in der Kommunikation oder der Medikamentenapplikation kann enorme Folgen nach sich ziehen. Durch die daraus resultierende dauerhaft hohe Verantwortung wird es z. B. einer Pflegefachkraft erschwert, eine ausreichende Distanz zum beruflichen Alltag zu entwickeln, und möglich wird, dass sie diese Belastung auch noch in das Privatleben mit hineinnimmt.
Durch ihre Tätigkeiten in den verschiedenen Einrichtungen erleben HelferInnen verschiedene dort herrschende Rahmenbedingungen als Gewalterfahrung. Dazu zählt Sedmak auch die durch den häufig knapp bemessenen Personalschlüssel hohen Fallzahlen und damit einhergehende hohe Kontaktfrequenzen zu einzelnen Menschen. Denn dann erleben sich Fachkräfte in ihren sozialen Settings gefangen (vgl. Sedmak 2013, S. 137). Auch die Abwechslung zwischen klientenfernen und -nahen Tätigkeiten, die eine Entlastung darstellen könnte, werde nicht als solche empfunden, wenn sie oktroyiert oder zu einseitig erlebt werde, so der Autor. Daraus resultierender anhaltender Stress führe zu Anpassungsreaktionen, deren Verlauf insbesondere durch das kaum mehr wahrgenommene körperliche wie seelische »Einpendeln« auf einem zu hohen Niveau begünstigt wird, mit dem Ergebnis, dass die Belastung als solche nicht mehr wahrgenommen werde (vgl. Sedmak 2013).
Eine Fachkraft wird täglich mit Sorgen, Vorwürfen, Ängsten, Leiden und Trauer konfrontiert, auch mit herausforderndem Verhalten. Es wird von ihr erwartet, in jeder Situation empathisch auf individuelle Reaktionen wie Wut und Aggression, Verzweiflung und Verleugnung zu reagieren. In ihr werden eine Vertraute, eine Bezugsperson und eine Unterstützerin zur Bewältigung der aktuellen Situation gesehen. Sie soll professionell und angemessen auf die Menschen eingehen. Das sind hohe fachliche und ethische Standards. Die Folgen von als überfordernd empfundenen Anforderungen stellen sich nicht immer unverzüglich ein. Wenn die Fachkraft ihren KlientInnen in vielen Fällen nicht mehr gerecht werden kann, bleiben auch bei ihr Bedürfnisse unbefriedigt. Damit führt dieses Dilemma automatisch auf beiden Seiten der helfenden Beziehung zu Frustrationen. Zum einen vielleicht gewillt, ihre Arbeit bestmöglich auszuführen, wächst bei den Helfenden das »Gefühl des Versagens« mit jedem durch strukturell verursachte Hemmnisse unbefriedigt bleibenden Bedürfnis ihrer Klientel. Zudem: Die durch den daraus resultierenden Zeitdruck ebenso unbefriedigten eigenen Bedürfnisse werden u. U. zurückgestellt. Infolgedessen erleben MitarbeiterInnen einen Frühdienst ohne Frühstückspause oder unbezahlte Überstunden nicht als ungewöhnlich, sondern – gefangen in ihrer Realität – als unveränderbar.
Auch stellt ein zu häufig wechselnder Kontakt zu verschiedenen AdressatInnen, verbunden mit der Notwendigkeit, sich ständig neu einstellen zu müssen, eine weitere Variation dieser Problematik dar. Es lässt sich ebenso vermuten, dass von der Fachkraft nicht geteilte Normen – von einer vorgeschriebenen Berufsbekleidung bis hin zum Piercingverbot – Gefahren strukturell bzw. kulturell erlebter Gewalt bergen. Wenn etwa von einer Pflegefachfrau erwartet wird, die Regeln des Krankenhauses einzuhalten, und diese Erwartungen den persönlichen Auffassungen widersprechen, wirkt bereits die Mitgliedschaft in einer solchen Organisation belastend. Darüber hinaus: Der körperlichen und seelischen Regeneration wirkt die Schichtarbeit entgegen, die sich meist aus Früh-, Spät- und Nachtschichten sowie Wochenendarbeit zusammensetzt. Die Arbeit wider den circadianen Rhythmus – insbesondere die Nachtarbeit – begünstigt gesundheitliche Schäden. Auch ist der Tagschlaf nach der Nachtarbeit oft durch Lärm und Lichtverhältnisse gestört, es kommt zu unzureichenden REM-Phasen (Traumschlafphasen), die eigentlich die Wiederherstellung der geistigen Leistungsfähigkeit gewährleisten sollen. Zusätzlich schädigt der Schichtdienst mit wechselnden Arbeitszeiten oder ein kurzfristig erstellter (Wochenend-)Dienstplan auch das soziale Leben der Fachkräfte (vgl. Domnowski 2010, S. 35 ff.).
Wenn strukturelle bzw. kulturelle Gewalt indirekt über Gesetze, Normen, wirtschaftliche Zwänge und Organisationsformen als die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse behindernd erlebt wird, übernehmen betroffene Helfende vielleicht keine persönliche Verantwortung für ihr Handeln, rechtfertigen sich, »durch die Umstände« zum Handeln gezwungen zu sein. Solche Ansichten sind dann änderungsresistent, sie fördern Abhängigkeits- und Fremdbestimmungsgefühle sämtlicher Beteiligten und manifestieren sich in den direkten Formen von Gewalt: aktive und passive Vernachlässigungen und körperliche und seelische Misshandlungen, gegen den Willen des Anderen in der Gewaltbeziehung. Mögliche Folge: Helfende entwickeln das Gefühl, sich in vorgegebene Organisations- und Teamstrukturen einfinden zu müssen, was u. U. durch die Ohnmachtserfahrung nachhaltig zur Reduktion eigener fachlicher Ansprüche verführen kann.
Frustrationen im Team: Teams als soziale Gebilde formen sich aus Gruppenbildungsprozessen, denen Einzelinteressen der MitarbeiterInnen jedoch entgegenstehen können. Es kommt zu spontanen Anpassungen oder zu Abwehr mit Sanktionen. Ebenso sind aufgrund hohen Anpassungsdrucks Tendenzen der Annäherung der Mitglieder denkbar. Diese Prozesse selektieren das Handeln der Mitglieder. Die Qualität der Kooperation von Teammitgliedern hängt also grundsätzlich davon ab, inwieweit verschiedene Bedürfnisse im Einklang miteinander sind. Jedoch: Überfordernde Arbeitsbedingungen über einen längeren Zeitraum beeinträchtigen eine teamorientierte, verantwortungsvolle und konzentrierte Bewältigung sowie einen hohen fachlichen Standard. Festgefügte Rangordnungen sind das Ergebnis von Über- und Unterordnungen im Rahmen hierarchischer sozialer Beziehungen. Hieraus entstehen formelle wie auch informelle Machtstrukturen, die der Bedürfnisbefriedigung im Wege stehen können. Diese strukturellen Gegebenheiten müssen von den MitarbeiterInnen zunächst erfasst und dann kontrolliert werden können. Dazu ist eine gelungene Kommunikation nötig; denn sie vermittelt eine Übersicht über die Strukturen, Arbeitsabläufe, Standards und Zielsetzungen der Einrichtung und bietet ein ungefähres Bild von den Erwartungen an Kooperation, Umgang mit der Klientel und die eigene Person. Die Qualität der Zusammenarbeit besitzt bei Helfenden eine große Bedeutung – auch hinsichtlich der Arbeitsqualität, weil sie diese fördern oder blockieren kann. Diese Blockade kann durch eine knappe Personalbesetzung mitverursacht werden, die es der einzelnen Fachkraft unmöglich macht, ihre Tätigkeit kooperativ zu gestalten. Dies führt zur Frustration aller Teammitglieder durch
• fehlende Kapazitäten zur kollegialen Unterstützung
• ein schlechtes Gewissen als »Einzelkämpfer«
• das Gefühl des Versagens
• die Abnahme des Selbstanspruchs
• fehlende Reflexionskultur des Verhaltens
• Vermeidung offener Kommunikation zugunsten asymmetrischer Formen
• falsche Ersatzhandlungen und
• übertriebene Kollegialität in anderen Bereichen.
Es entstehen verschiedene Rollenkonflikte. Hornung und Lächler beschreiben das Problem verschiedener, sich widersprechender Rollenerwartungen, die zu Frustrationserfahrungen werden können (Hornung/Lächler 2018, S. 155 ff.). Zum Beispiel: Von einer neuen Fachkraft wird vielleicht erwartet, Gruppenregeln anzunehmen und nicht zu hinterfragen (Gruppendruck), obwohl dort geltende Regeln ihrem Fachwissen und Bestreben nach einer professionellen Arbeit widersprechen. So kann für sie ein innerer Konflikt entstehen zwischen den Anforderungen neuer KollegInnen und ihrem Selbstanspruch, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Auf Dauer zu einem nicht zu vereinbarenden Spagat verurteilt, führen Arbeitsunzufriedenheit, kollegialer Beziehungsstress und Motivationsverlustzunahme zu einer persönlich starken Belastung. Ebenso wirken informelle Machtstrukturen in Teams. Eine wesentliche Folge dieser informellen Aktivität ist Mobbing zwischen KollegInnen. So entstehen aber auch solche Gruppenregeln, die ein latentes Konfliktpotenzial des Teams verstärken, indem etwa Regeln der Einrichtungen zu konformierenden Gruppenregeln erklärt werden (sozialer Zwang), die wiederum zulasten der zu begleitenden Menschen gehen. Zweckrational geprägte Interaktionsformen, die alle Teammitglieder übernehmen, überlagern beispielsweise dann die Bedürfnisse der Klientel und führen nicht nur zu Entfremdungsprozessen. Regelmäßige Teamsitzungen sind unerlässlich, um Informationen aller am Hilfeprozess beteiligten Berufsgruppen gleichberechtigt zusammenzutragen. Nur daraus entsteht ein Gesamtbild der Team- und Klientensituation, woraus wiederum Teilziele einzelner helfender Berufsgruppen abgeleitet werden können. Die Regeln der klientenzentrierten Gesprächsführung ermöglichen einen demokratischen, einbeziehenden, kompetenzachtenden und respektierenden Umgang der Mitglieder. Ist es nicht möglich, eine akzeptable Lösung zu finden, unterstützt Supervision, bevor sich Konflikte verhärten (vgl. Menke 2015, S. 140 ff.).