Читать книгу Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019) - Группа авторов - Страница 45

2.2 Phänomenologische Beschreibung ex negativo

Оглавление

Indessen ist die Figur des methodischen Negativismus nicht auf die Bindung an eine emphatische Transzendenzorientierung, wie sie die negative Theologie verkörpert, beschränkt. Sie liegt auch gemäßigteren, doch ebenso entschiedenen Explorationen der Wahrheit ex negativo zugrunde. Sie kommt etwa ins Spiel, wenn wir das Verstehen vom Missverstehen, das Gelingen vom Misslingen, das Streben vom Verfehlen her erfassen und explizieren. Im Spiel ist nicht der diametrale Gegensatz zwischen den Extremen des Negativen und Positiven, zwischen Leiden und Glück, Aufbau und Destruktion, sondern die den Lebensbewegungen immanente Spannung zwischen Erreichen und Verfehlen, Verwirklichen und Nichtverwirklichen. Aus dem fragmentarischen, abgebrochenen Unterwegssein, der stummen, verworrenen Geste ist die gerichtete Bewegtheit, der ‚an sich‘ wirksame Sinn eines Wollens oder Tuns zu entnehmen, aus der verdunkelten Spur das nichtmanifestierte Sagenwollen zu entziffern. Namentlich phänomenologische Ansätze haben mit dem Potential solcher indirekter Exploration gearbeitet und sich darum bemüht, aus den defizienten Seins- und Verhaltensformen den ‚Sinn‘ der normalen, gelingenden Lebensform zu verstehen. Exemplarisch begegnen wir diesem Vorgehen in Beschreibungen Merleau-Pontys, die am Beispiel eines Gehirnverletzten aus dem Ersten Weltkrieg dessen Defizite in unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensbereichen – Wahrnehmung, Körperbewegung, Sexualität, Sprachverstehen, Kommunikation – analysieren, um aus dem Fehlen heraus den lebensweltlichen Sinn des ‚gesunden‘ Verhaltens sichtbar zu machen. Die negative Zugangsweise basiert hier auf dem paradoxen Sachverhalt, dass die Sinnorientierung gerade dort, wo sie fehlt bzw. als fehlende oder pathologisch verzerrte erfahren wird, in ihrer Eigenart hervortritt. Merleau-Ponty beschreibt das eigentümliche Defizit eines Kranken, dessen partikulare motorische, sensorische, kognitive Kapazitäten weithin unbeeinträchtigt sind, der aber nicht zur integrativen Formbildung in der Lage ist, welche den Sinn des Erlebens konstituiert; er versteht die Worte, doch nicht den Text oder die Pointe einer Geschichte, er verfügt über die Sprache, empfindet aber nicht von sich aus das Bedürfnis, seine Welt zu beschreiben oder seine Erfahrungen mitzuteilen, er kann sich bewegen, geht aber nicht unaufgefordert spazieren, wie er nicht von sich aus singt oder spielt. Es ist eine ganze Dimension, die Sinndimension des Lebens, die ihm abhanden kommt, und die in der phänomenologischen Beschreibung des defizitären Verhaltens indirekt hervortritt1. Was die existentielle Bedeutung des Sich-Bewegens, der Erfahrung von Nähe und Ferne, des Hörens und Sehens ausmacht, wird in einer spezifischen Weise dort fassbar, wo sie sich gerade nicht manifestiert und nur als unterdrückte, latente in die Struktur und Dynamik des Lebens eingeht.

Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019)

Подняться наверх