Читать книгу Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019) - Группа авторов - Страница 48
3.1 Existentielle Negativität
ОглавлениеIn pointierter Weise hat die Existenzphilosophie die negativistische Verfassung des menschlichen Seins zum Thema gemacht. Ihr Ausgangspunkt ist die Endlichkeit als Kennzeichen der Situiertheit, Bedingtheit, Unvollkommenheit der menschlichen Existenz. Der Mensch ist in seinem Selbstbewusstsein und seiner Selbstbestimmung, in seinem Tun und seiner Lebensführung kein souverän-autarkes Wesen. Er ist von anderem abhängig, in seinem Wissen und Können begrenzt, in seinem körperlichen und seelischen Befinden verletzbar und hilfsbedürftig, fremder Übermacht und Feindseligkeit ausgesetzt. Er ist sich selbst nicht transparent und frei verfügbar. Er ist in seinem Wollen und Tun nicht im Einklang mit sich, in seinem Streben und Tätigsein in innerer Disproportion, Widersprüchlichkeit zu sich selbst. Nicht eine heile, vollkommende Wesensnatur ist Grundlage seines Daseins, sondern die in sich defizitäre, sich widerstreitende, ‚gefallene‘ Natur. Im Gegenzug zu einer affirmativen, essentialistisch begründeten Anthropologie geht eine negativistische Verständigung über den Menschen von dieser Verfassung des Menschseins aus, in welcher die teleologische Erfüllung von der Nichterfüllung wie vom eigenen Versagen und Scheitern unablösbar ist. Der Mensch ist von der Grundbedingung seines Seins her dem Negativen in sich und außerhalb seiner ausgesetzt.
Dieser negativen Verfassung seines Seins entspricht eine eigene Selbstwahrnehmung, ein spezifischer negativer Zugang zu sich selbst. In prominenten Positionen der Existenzphilosophie begegnen wir dem eigentümlichen Sachverhalt, dass gerade Negativaffekten ein privilegierter Zugang zum Sein des Menschen, auch eine privilegierte Selbsterschließung des Menschseins zugesprochen wird. In Zuständen der Angst, der Verzweiflung, der Langeweile erfährt der Mensch, wie es in Wahrheit um ihn bestellt ist. Sie konfrontieren ihn mit der Haltlosigkeit in sich selbst und im Ganzen, mit der Labilität seines Wollens und der Fragilität seines Wirkens, mit der Tendenz zur inneren Leere und Lähmung. Es sind Negativitäten, die dem menschlichen Sein konstitutiv anhaften, die als solche zwar nicht das Ganze seiner Existenz und seiner Befindlichkeit ausmachen, sondern mit Gegenkräften und Gegentendenzen einhergehen, doch nie zur Gänze überwunden oder ausgeschaltet werden. Sie sind nicht einfach Indizien und Erschließungsmedien der conditio humana in ihrer Ungesichertheit und Unerfülltheit, sondern an ihnen selbst negativ erlebte Zustände, lastende Befindlichkeiten, Formen subjektiver Verfehlung und subjektiven Leidens. In ihnen ist der Mensch dem Negativen in ihm selbst und in der Welt ausgesetzt, demjenigen, wovor er zurückschreckt, was ihn bedroht, unterdrückt und leiden lässt. Karl Jaspers spricht von den ‚Grenzsituationen‘, in denen der Mensch mit sich selbst konfrontiert ist, signifikanterweise nicht in der Erfahrung seiner Macht und der Erfüllung seines Strebens, sondern in seiner Ausgesetztheit, im Sichverfehlen, im Leiden. Einen Fluchtpunkt dieser Konfrontation bildet seit je das Gewahrwerden der letzten Auflösung und des Nichtseins, des Todes. Die Sterblichkeit gilt der Tragödie als ein tiefster Makel des Menschenwesens in Auseinandersetzung mit den unsterblichen Göttern. Dazu kommen vielfältige Erfahrungen von Unrecht und Gewalt, von körperlicher und seelischer Versehrtheit, die sein Leben zum Ort des Leidens machen, dessen Abgründigkeit nach Nietzsche zuletzt nicht im erlittenen Schmerz, sondern in seiner Sinnlosigkeit, in der Unmöglichkeit, Leiden rational bewältigen zu können, liegt1. Das nicht-begreifbare, nicht-artikulierbare, zur Stummheit reduzierte Leiden ist ein radikalisiertes Leiden. Für Emmanuel Levinas gilt das unschuldig-sinnlose Leiden als Inbegriff des Vernunftwidrigen schlechthin, das sich unserem Verstehenwollen nicht nur entzieht, sondern direkt widersetzt2.
Indessen liegt die Provokation für den lebensweltlichen Willen zum Verstehen wie für den philosophischen Vernunftglauben nicht nur im erlittenen, sondern ebenso im begangenen, verschuldeten Negativen. Nicht nur das Leiden, auch das Böse bildet das Skandalon, mit dem sich Theodizee und Geschichtsphilosophie seit je auseinandersetzen. Den Ursprung des Bösen zu verstehen stellt die paradoxe Herausforderung für ein Denken dar, das die Wirklichkeit vernünftig begreifen, die Negativität in ein rationales Verhältnis zur Welt integrieren will. Den Menschen aus dem Negativen zu erkennen heißt sowohl das malum physicum wie das malum morale als Elemente der conditio humana zu explizieren. Die menschliche Lebensform ist aktiv wie passiv mit dem Negativen verwoben. Es ist eine weitere Frage, in welcher Weise beides unter sich zusammenhängt, wieweit die ontologische mit der praktischen Negativität, die seinsmäßige Schwäche mit dem Bösen verschränkt ist. Eine bestimmte Linie dieser Verbindung wird etwa in der idealistischen Naturphilosophie dort ausgezogen, wo die Krankheit als organische Störung des Lebendigen mit dessen ethischer Selbstverkehrung in einen inneren Bezug – gleichsam in einer Spiegelung zwischen Pathologisierung des Bösen und Skandalisierung (Moralisierung) der Krankheit – gesetzt wird3. Mit beidem ist der Mensch in seiner existentiellen Selbsterfahrung konfrontiert. Beides ist ihm als Negativum, als Hinfälligkeit unhintergehbar gegenwärtig, die Verletzbarkeit durch anderes und die Bedrohung durch und aus sich selbst.
Beides geht ein in die Erschließung des Humanen aus dem Negativen, wobei der eigene Negativitäts- und Leidenscharakter der Selbsterschließung damit einhergeht, dass diese keine ungetrübte Manifestation ist, sondern zur Verdeckung und Selbstverhüllung tendieren kann, die ihrerseits zum Moment der vollzogenen, aber auch erlittenen Selbstverfehlung wird. Zur ‚uneigentlichen‘ Lebensform gehört neben der voluntativ-handlungsmäßigen Verfehlung die Selbstverkennung als eigenes Defizit und als eigenes Leiden. Erlittener Schmerz kann ebensowenig wie das Böse in uns problemlos vergegenwärtigt und zur Sprache gebracht werden. Der Sprachlosigkeit des Leidens korrespondiert die Verdrängung des Bösen – ohne dass beides zur absoluten Schranke würde: Wie das Leiden danach verlangt, ‚beredt‘ zu werden4, kommt der Protest gegen das Böse nicht zum Verstummen. Die Erschließung aus der Leugnung und Abwesenheit verharrt im Zwielicht zwischen Offenbarung und Verhüllung. Indessen bleibt sie auch – und in gewisser Weise gerade – als getrübte und verfälschte ein wahrheitshaltiges Indiz der Existenz, ein Zugang zur Wahrheit über den Menschen.