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4 Fallbeispiel: Feminisierung

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Ergänzend zum vorgestellten, politisch motivierten Nichtsagbarkeitskodex, der in Italien und Frankreich in vergleichbarer Weise diskutiert wird, soll ein kontrastives Fallbeispiel angeführt werden, in dem unterschiedliche normative Ausprägungen und Bestrebungen zum Ausdruck kommen. Dieses Fallbeispiel bezieht sich auf einen ausgewählten Aspekt der geschlechtergerechten Sprache, die nach Robustelli (2016, 13) insbesondere in institutionellen und politischen Zusammenhängen von höchster Aktualität ist.

In Frankreich ist das Aufkommen des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs eng verbunden mit der Regierung von François Mitterrand, der zu Beginn seiner Präsidentschaft (1981) eigens ein Frauenministerium eingerichtet hat. Es dauerte jedoch bis zum Jahr 1999, bis unter der Regierung Lionel Jospins ein Feminisierungsleitfaden veröffentlicht werden konnte (Femme, j’écris ton nom… Guide d’aide à la féminisation des noms de métiers, titres, grades et fonctions) (Becquer et al. 1999; s. auch Berschin et al. 2008, 410). Im italophonen Raum erhielt die geschlechtergerechte Sprachverwendung zentrale Impulse durch das Werk von Sabatini Il sessismo nella lingua italiana (1987; 1993). Hierin stellt die Autorin einen Katalog sog. „raccomandazioni“ auf (1993, 97). Es sei festgehalten, dass es sich hier um eine der seltenen Maßnahmen des italienischen Staates handelt, die die Sprachverwendung beeinflussen und regulieren sollten. Eine aktuellere Handreichung bilden zudem die Linee guida per l’uso del genere nel linguaggio amministrativo, die von Cecilia Robustelli in Zusammenarbeit mit der Accademia della Crusca im Jahr 2012 veröffentlicht wurden.

Unter den romanischsprachigen Ländern ist Frankreich das erste Land, das hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit sprachpolitische Maßnahmen eingeleitet hat. Diese Maßnahmen sind jedoch auf die Feminisierung von Berufs- und Funktionsbezeichnungen beschränkt, so dass der geschlechtergerechte Sprachgebrauch in Frankreich auf ein Terminologieproblem reduziert wird (Burr 1999, 133–134). Fragen der Kongruenz von Adjektiven und Partizipien, deren Relevanz Robustelli (2016, 16) hervorhebt, werden vernachlässigt. Robustelli schreibt:

La riflessione sulla possibile discriminazione linguistica non si ferma al piano delle scelte lessicali, ai suffissi che indicano le uscite femminili dei vocaboli riferiti alle professioni, ma investe, per esempio, la concordanza di aggettivi, pronomi, sostantivi.

Sehen wir uns die einzelsprachlichen Regeln des accordo/accord näher an. Zum Italienischen schreibt Serianni (1989, 199) in der Grammatica italiana:

Se i nomi sono di genere diverso, l’aggettivo assume il numero plurale e, di preferenza, il genere maschile.1 […] Ma si può anche avere, per ragioni d’immediata contiguità sintattica, la concordanza dell’aggettivo con l’ultimo nome della serie, e quindi il maschile se questo è un maschile […], il femminile se esso è femminile […]. La concordanza dell’aggettivo con l’ultimo nome al femminile va però soggetta ad una duplice restrizione: l’ultimo nome deve essere plurale, e riferirsi ad un’entità inanimata. […] Nel dubbio, e per evitare ambiguità, sarà comunque preferibile attenersi alla concordanza dei nomi di genere non omogeneo con l’aggettivo al maschile plurale.

Hiernach erscheint ein Adjektiv, das sich auf Substantive unterschiedlicher Genera bezieht, im Plural im Maskulinum. Ausnahmen hiervon sind möglich. So kann das Adjektiv auch im Femininum erscheinen, allerdings müssen hierzu zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss das letzte Substantiv einer Reihe im Plural stehen, zweitens muss es sich auf einen unbelebten Referenten beziehen. Diese Verhältnisse wurden von Sabatini (1993, 24) als „dissimmetrie grammaticali“ beklagt, die zu „cancellazione“, „marginalizzazione“ und „riduzione delle donne“führe. Ihr Unmut richtete sich insbesondere gegen die unterschiedliche Handhabung der Feminisierung bei belebten und nichtbelebten Referenten:

Questa regola, detta anche dell’„assorbimento“ o „inglobamento“ del femminile da parte del maschile, è generalmente trattata dalle grammatiche in modo sommario, come se fosse „naturale“ e ineluttabile, mentre per la concordanza di nomi di inanimati si prevedono anche altre soluzioni (ad es. l’accordo con l’ultimo nome). (Sabatini 1993, 24)

In ihrem Feminisierungsleitfaden forderte sie daher bezüglich des participio passato (1993, 105):

Evitare di accordare il participio passato al maschile, quando i nomi sono in prevalenza femminili. Si suggerisce in tal caso di accordare con il genere largamente maggioritario oppure con il genere dell’ultimo sostantivo della serie.

Unter Berufung auf Dardano/Trifone (1985, 138) heißt es weiterhin: „In caso di difficoltà nel determinare il genere maggioritario si suggerisce di accordare con l’ultimo sostantivo della serie“ (Sabatini 1993, 105).

Zum accord im Französischen lesen wir bei Grevisse/Goosse (2016):

L’épithète se rapportant à plusieurs noms coordonnés […] se met d’habitude […] au pluriel. a) Si les noms sont de même genre, l’épithète prend ce genre. […] b) Si les noms sont de genres différents, l’épithète se met au genre indifférencié, c’est-à-dire au masculin. (Grevisse/Goosse 2016, 460–461)

Contrairement à la règle générale […], mais, selon une tendance spontanée très ancienne […], on trouve assez souvent des accords avec le donneur le plus proche. […] Rarement, fém. au lieu du masc. : […] Dans les mouvements et les habitudes les plus JOURNALIÈRES (Giraudoux, Littérature, p. 310). (Grevisse/Goosse 2016, 607–608)

Im Französischen gibt es nun seit einigen Jahren Bestrebungen, die Regeln des accord zu reformieren und die sog. règle de proximité, wie sie bis zum 17. Jh. Bestand hatte, wieder einzuführen. Während es im Altfranzösischen (ebenso wie im Griechischen und Lateinischen) durchaus üblich war, das attributive Adjektiv, das sich auf Substantive unterschiedlicher Genera bezieht, im Plural im Femininum aufzuführen, vollzog sich hier im 17. Jh. ein Wandel. Bei Ménard (1994, 120–121) heißt es zum Altfranzösischen noch:

Lorsqu’un adjectif se rapporte à deux substantifs coordonnés, il n’est généralement exprimé qu’une seule fois et il s’accorde avec le substantif le plus proche. Il n’avoit onques veü plus richement encortinee eglise ne mostier. (Mort Artu, 48, 82) „Il n’avait jamais vu d’église et de monastère plus richement ornés de tentures.“

Demgegenüber lesen wir in den Remarques sur la langue françoise von Vaugelas (1647, 381) aus dem 17. Jh.:

Trois substantifs, dont le premier est masculin, & les deux autres, féminins, quel genre ils demandent. Parce que le genre masculin est le plus noble, il prévaut tout seul contre deux féminins, même quand ils sont plus proches du régime.

Auch Bouhours führt in seinen Remarques nouvelles sur la langue françoise aus dem Jahr 1675 das Kriterium der noblesse an: „[…] quand les deux genres se rencontrent, il faut que le plus noble l’emporte“ (1675, 4). Noch expliziter ist Beauzée in seiner Grammaire générale (1767, 358): „Le genre masculin est réputé plus noble que le féminin à cause de la supériorité du mâle sur la femelle.“

Bereits in der französischen Revolution hatte es einen Versuch gegeben, diese Regel abzuschaffen (Harten/Harten 1989, 4). Aus dem Jahr 1792 datiert ein projet de décret, die sog. Requête des dames, à l’Assemblée nationale, in der es in Artikel 3 heißt:

Le genre masculin ne sera plus regardé, même dans la grammaire, comme le genre le plus noble, attendu que tous les genres, tous les sexes et tous les êtres doivent être et sont également nobles.2

Etwa zweihundert Jahre später wurde in dem Runderlass (circulaire) von 1976 zu den sog. „tolérances grammaticales et orthographiques“ eingeräumt, dass die Berechtigung manch einer Norm schwierig aufrechtzuerhalten sei. So heißt es im Journal Officiel de la République Française Nr. 827 vom 9. Februar 1977:

La dernière catégorie est celle des expressions auxquelles la grammaire, dans son état actuel, impose des formes ou des accords strictement définis […]; dans certains cas, ce sont les normes elles-mêmes qu’il serait difficile de justifier avec rigueur, tandis que les transgressions peuvent procéder d’un souci de cohérence analogique ou logique.

Auf Initiative des Verbands L’égalité, c’est pas sorcier und der Ligue de l’enseignement wurde nun im März 2015 die Petition: Que les hommes et les femmes soient belles! initiiert und bei der damaligen Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem eingereicht.

In den alten und neuen Medien finden rege Debatten um diese règle de proximité statt. Ergänzend zur Berichterstattung in der Tagespresse, z.B. in Le Figaro (Leclair 2015), wird die Diskussion intensiv in den sozialen Medien, v.a. auf Facebook, befeuert. Neben der Ankündigung der Petition und Aufforderung zur Unterzeichnung ergeben sich ganze Kommunikationsstränge. Die Aufforderung zur Unterzeichnung wird entweder höflich als Frage formuliert oder aber expliziter mittels Imperativen der 1. oder 2. Person: Continuons à nous mobiliser; Signez et partagez la pétition. Auch familiäres und vergemeinschaftendes on wird verwendet: on signe, on partage, on se mobilise. Schließlich wird das Thema auch in Blogs von Politikern aufgegriffen, wie es bei Marc Jammet (2015) deutlich wird.

Im Herbst des Jahres 2017 erfährt die Debatte einen neuen Höhepunkt, als 314 Lehrerinnen und Lehrer ein Manifest unterzeichnen, in dem sie erklären: „Nous n’enseignerons plus que ‚le masculin l’emporte sur le féminin‘“ (s. a. 2017). In diesem Zusammenhang wird auch eine neue Petition initiiert („Nous ne voulons plus que ‚le masculin l’emporte sur le féminin‘“, Viennot 2017). Die Académie Française reagiert mit einem Communiqué, in dem gar von einem „péril mortel“ für die französische Sprache gesprochen wird (Académie française 2017). Um dieser Debatte ein vorläufiges Ende zu setzen, veröffentlicht der französische Premierminister Édouard Philippe am 22. November im Journal Officiel die sog. circulaire du 21 novembre 2017 relative aux règles de féminisation et de rédaction des textes publiés au Journal officiel de la République française. Der écriture inclusive und der règle de proximité wird hierin eine Absage erteilt.

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