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4. Materialauswahl: Jugendliteratur mit Transgender-Thematik

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Vor diesem theoretischen Hintergrund ist es unser Anliegen, das Potenzial des Jugendromans Symptoms of Being Human (im Vergleich mit George, If I Was Your Girl und The Art of Being Normal) für einen kritischen Fremdsprachenunterricht zu diskutieren. Wie eingangs bereits erwähnt, ist es eigentlich nicht im Sinne eines kritischen Ansatzes, Themen und Materialien normativ vorzugeben. Wir verstehen die Themenwahl hier exemplarisch, deren praktische Ausführung je nach Kontext modifiziert oder auf andere Themen übertragen werden kann. Die genannten Werke entstammen einem wachsenden Angebot von Jugendliteratur zu Transgender-Themen, was zu einer größeren Sichtbarkeit der Thematik beiträgt (für thematisch verwandte Roman- und Filmvorschläge vgl. die Beiträge in Eisenmann/Ludwig 2018). Zunächst sollen die Inhalte der gewählten Romane hier knapp skizziert und ihre formalen Besonderheiten benannt werden, bevor im nächsten Abschnitt eine vertiefte Diskussion ihrer Eignung in einem kritischen Fremdsprachenunterricht vorgenommen wird.

George erzählt die Geschichte eines Transgender-Mädchens, das darunter leidet, im Körper eines Jungen leben zu müssen und von ihrer Umgebung als Junge wahrgenommen zu werden. Mithilfe ihrer Schulfreundin Kelly findet sie den Mut, für eine weibliche Rolle in der Theateraufführung ihrer Klasse vorzusprechen. Und obwohl dieser Versuch, ihr wahres Selbst zu zeigen, von der Lehrerin nicht wohlwollend aufgenommen wird, ist er doch ein erster Schritt zu ihrem Coming-Out als Melissa. If I Was Your Girl handelt von Amanda, ebenfalls einem Transgender-Mädchen, das ihre geschlechtliche Identität gegenüber ihren Eltern bereits enthüllt hat und als Mädchen lebt. An ihrer neuen Schule allerdings weiß niemand von ihrer Vergangenheit als Junge, was sie unter großen Druck setzt, als sie sich in ihren Schulkameraden Grant verliebt. Wie die Wahrheit ans Licht kommt und ihre Beziehung sowie Amandas Seelenleben beeinflusst, ist der thematische Schwerpunkt des Romans. Die zentralen Charaktere in The Art of Being Normal sind zwei Transgender-Jugendliche: Der eine ist Leo, der als Junge lebt und sich der Unterstützung seiner Familie sicher sein kann. Ebenso wie bei Amanda weiß an seiner neuen Schule aber niemand von seiner Vergangenheit. Der andere ist David, der zwar als Junge vorgestellt wird, aber einen starken Wunsch hat, als Mädchen zu leben, und im Laufe der Geschichte sein Coming-Out als Kate erlebt. Herausfordernd ist an diesem Roman der bereits im Titel aufgenommene Normalitätsbegriff, der eine kritische Auseinandersetzung mit entsprechenden Zuschreibungen verlangt und sich damit besonders gut für einen kritischen Ansatz im oben entfalteten Sinne eignet.

Etwas anders perspektiviert ist der Roman Symptons of Being Human, der die Geschichte von Riley erzählt und im Untertitel bereits auf die Besonderheit dieses literarischen Charakters aufmerksam macht: „Boy or Girl? Yes.“ Riley ist genderfluid und fühlt sich an machen Tagen mehr als Mädchen, an anderen Tagen mehr als Junge. Bereits am Anfang des Romans zeigt sich, wie höchst problematisch eine gesellschaftliche Erwartungshaltung anhand binärer Geschlechteridentitäten sein kann; Riley erzählt:

I’m wearing a pair of jeans and my dad’s old Ramones T-shirt, which I’ve modified to fit my smaller frame. […] I’m grateful that I don’t have to wear a uniform anymore – I remember how suffocating it was to be confined to the same identity day after day, regardless of how I felt inside.

But the truth is, it still doesn’t matter how I feel – because however I show up today, people will expect me to look the same tomorrow. Including my parents.

So my only choice is to go neutral.

(Symptoms of Being Human: 2)

Dieser kurze Einblick in Rileys Gefühlswelt zeigt, dass Riley bereits bei der Auswahl von Kleidung die eigene Identität verschleiern muss, um Stigmatisierung an der neuen Schule zu entgehen. Auch das Coming-Out gegenüber den Eltern steht noch bevor. Rileys Vater ist Kongressabgeordneter des Bundesstaates Kalifornien kurz vor einer wichtigen Wahl – ein Coming-Out zu diesem Zeitpunkt liefe damit Gefahr, in einer konservativen Gesellschaft zum Politikum zu werden. Auf Anraten einer Therapeutin beginnt Riley, einen Internetblog über persönliche Gefühle und Erfahrungen zu verfassen, der sehr erfolgreich ist und eine große Leser*innenschaft anzieht. Ein*e anonyme*r Leser*in droht allerdings damit, Rileys Identität zu enthüllen. Daraufhin ist Riley gezwungen, sich zu entscheiden, den Blog aufzugeben, um in der Anonymität zu verbleiben, oder die Risiken einzugehen, die ein Coming-Out mit sich bringt.

Im Gegensatz zu den anderen Romanen wird in Symptons of Being Human zu keiner Zeit über das biologische Geschlecht Rileys gesprochen. Ebenso werden aus Rileys Erzählsicht keinerlei Pronomina verwendet, die den Leser*innen diesbezüglich einen Hinweis geben könnten. Auch aus dem Namen, der sowohl für Jungen als auch für Mädchen verwendet werden kann, lassen sich keine Schlussfolgerungen ziehen, die sich in ein binäres Gendersystem einfach einordnen lassen. Die sich ergebende Verunsicherung, keine eindeutige Kategorisierung vornehmen zu können, wird im Roman selbst in Kommentaren der Mitschüler*innen deutlich, die Riley in herablassender Weise mit dem sächlichen Pronomen it bezeichnen.1

[…] two of the girls look up and notice me. I glance away but I feel their eyes on me, scrutinizing, categorizing. I’ve been through this before, and it shouldn’t get to me – but today, it does. […]

“Oh my god,” one of the girls says, and my head involuntarily turns to look at her. She’s got long brunette hair and a small, perfect nose. “Holy shit, you guys.” She lowers her voice to a stage whisper, but I can still hear what she says:

“Is that a girl, or a guy?” […]

“Yeah, but look what it’s wearing.”

It. She called me it.

(Symptoms of Being Human: 5, unsere Hervorhebungen)

Dieser Abschnitt zeigt, wie die gesellschaftliche Erwartungshaltung an das Bild einer jungen Frau herangetragen wird, die sich – auch in Rileys Wahrnehmung – durch langes Haar und ebenmäßige Gesichtszüge auszeichnet. Zugleich reflektiert er das menschliche Verlangen, Kategorien zu bilden. „Is that a girl, or a guy?“ ist dabei die Grundfrage nach dem biologischen Geschlecht einer Person, die in einer heteronormativen Gesellschaftsordnung immer wieder in dieser Binarität gestellt wird und damit genau diese Ordnung perpetuiert. Die Leser*innen können die Unzulänglichkeit der Frage im Falle Rileys sehr gut nachvollziehen, während sie zugleich mit ihrer eigenen gesellschaftlichen Prägung konfrontiert werden, wissen zu wollen, ob es sich um einen männlichen oder weiblichen Charakter handelt. Durch die Einnahme und Reflexion von Rileys Perspektive können sowohl die eigene Haltung als auch der Wunsch nach einer kategorialen (Ein-)Ordnung (und möglicherweise Hierarchisierung) der Geschlechter kritisch hinterfragt werden, vor allem, da der Roman die Frage nach Rileys biologischem Geschlecht nie aufklärt. Zugleich kann in diesem Zusammenhang die Frage diskutiert werden, warum die Bezeichnung von Riley als it noch beleidigender erscheint als eine falsche Zuordnung als he oder she. Welches Pronomen ist zu verwenden, wenn Unsicherheit darüber besteht, wie eine Person zu bezeichnen ist?2

Im Vergleich zu Symptoms of Being Human handhaben die weiteren Romane die Verwendung der Pronomina auf andere Art und Weise. In George werden von Beginn an (also bereits vor dem Coming-Out) ausschließlich weibliche Pronomina benutzt. Das ist deswegen bedeutsam, weil beispielsweise in The Art of Being Normal das verwendete Personalpronomen dem jeweiligen sozial präsentierten Geschlecht entspricht: Solange David also äußerlich als Junge in Erscheinung tritt, werden männliche Pronomina verwendet; erst als die Transition zu Kate vollzogen ist, finden sich weibliche Pronomina (vgl. hierzu auch den kritischen Kommentar in Mihan 2018: 207). In If I Was Your Girl werden die Pronomina im traditionellen binären System und in Übereinstimmung mit der Geschlechtsidentität der Charaktere verwendet. Ein vergleichender Blick macht deutlich, dass es sich bei der Verwendung der Pronomina jeweils um Entscheidungen handelt, die sich insbesondere aus sprachideologischer Sicht (vgl. Abschnitt 2) diskutieren lassen: Welche gesellschaftlichen Überzeugungen werden mit dem Gebrauch männlicher und/oder weiblicher Pronomina bzw. mit dem Verzicht darauf vermittelt? Welche Machtstrukturen werden damit jeweils (re-)produziert oder kritisiert? Welche Identitätsentwürfe sind mit welchem Sprachgebrauch möglich?

Weiterhin können die jeweiligen Erzählstrukturen und -perspektiven Teil einer kritischen Sprachanalyse der Romane werden: So ist George der einzige der ausgewählten Romane, der von einem personalen Erzähler in der dritten Person erzählt wird. Die Ereignisse werden aus Sicht der Protagonistin dargestellt. Bei If I Was Your Girl und Symptons of Being Human handelt es sich um Ich-Erzählungen, die jeweils aus der persönlichen Perspektive von Amanda bzw. Riley erzählt werden. The Art of Being Normal ist insofern eine mehrperspektivische Narration, als dass sie abwechselnd von zwei Ich-Erzählern, nämlich von David/Kate bzw. Leo, erzählt wird. Welche Möglichkeiten und Grenzen der thematischen und sprachlichen Darstellung ergeben sich aus der jeweiligen Erzählperspektive? Welche ist am ehesten zur kritischen Reflexion gesellschaftlicher Machtverhältnisse geeignet?

Bedenkenswert ist darüber hinaus der (in den Printausgaben dokumentierte) biographische Kontext der Autor*innen. Während Alex Gino und Meredith Russo in den Nachworten zu ihren Erzählungen explizit auf ihre Identitäten als Transgender-Persönlichkeiten hinweisen, findet sich bei Jeff Garvin eine Anekdote über einen Gerichtsfall, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Toiletten Transgender-Jugendliche zu benutzen haben. Die Diskussion darüber wird als Ausgangspunkt für eine intensive thematische Recherche beschrieben. Zur Genderidentität des Autors finden sich an dieser Stelle keine Angaben.3 Lisa Williamson bezieht die Erfahrungen, die ihrem Roman zugrunde liegen, aus einer zweijährigen Tätigkeit beim Gender Identity Development Service (GIDS), einer Abteilung des National Health Service (NHS), die Jugendliche mit Herausforderungen in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität unterstützt. In unterschiedlichen Ausprägungen verarbeiten alle Autor*innen biographische Erfahrungen bzw. Erkenntnisse aus Beobachtungen oder Recherchen, die biographische Erfahrungen zur Grundlage haben. Lisa Williamson wäre im Vergleich zu Alex Gino und Meredith Russo als cisgender zu bezeichnen, während zu Jeff Garvin nur auf der Basis des Romans keine Aussage getroffen werden kann.

Dieser Hinweis ist deswegen wichtig, weil wir in unseren Seminaren wiederholt heftige Diskussionen der Studierenden darüber erlebt haben, welche*r Autor*in mit welcher Berechtigung wessen Stimme(n) hörbar macht. Die Studierenden haben sich teilweise mit großer Emotionalität und Vehemenz gegen Lisa Williamson als berechtigte oder glaubwürdige Autorin eines Romans mit Transgender-Charakteren ausgesprochen, während sie es gleichzeitig unproblematisch fanden, dass beispielsweise eine weibliche Autorin in einer Erzählung einem männlichen Charakter eine Stimme verleiht. Mit demselben Argumentationsansatz ließe sich die Legitimität von Jeff Garvin als Autor eines Romans mit einem genderfluiden Charakter anzweifeln. Zu dieser Frage kam im Kontext unserer Seminare allerdings bisher keine Diskussion auf, sodass wir diesbezüglich keine Beobachtungen wiedergeben können.

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