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5. Diskussion im Rahmen eines kritischen Fremdsprachenunterrichts und einer Kritischen Fremdsprachendidaktik
ОглавлениеDiese hier anekdotisch geschilderte Emotionalität ist einer der Gründe, warum wir die Diskussion von Jugendliteratur mit Transgender-Themen für besonders geeignet im Kontext eines kritischen Fremdsprachenunterrichts und einer darauf ausgerichteten Lehrer*innenbildung halten. Gender ist – neben class und race – eine der zentralen Kategorien der Cultural Studies und aus der Perspektive der kritischen Pädagogik explizit als eine derjenigen genannt worden, für welche die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen zu überdenken und zu transformieren sind (vgl. Abschnitt 3). Mit ihrem thematischen Fokus gehört Transgender-Literatur zu den risikoreicheren PARSNIP-Themen, aber sie hat dafür eine deutlich größere Chance, gesellschaftlich relevant oder persönlich bedeutsam zu sein. Auch dafür scheint uns die Vehemenz der studentischen Reaktionen einen Beleg zu liefern – wenngleich an dieser Stelle die kritische Arbeit erst ihren Ausgangspunkt nimmt. Anhand der Romane lassen sich sowohl gender- als auch literaturbezogene Normvorstellungen aufarbeiten und neu perspektivieren: Die Studierenden (bzw. im schulischen Kontext: die Schüler*innen) bringen ihre impliziten Geschlechternormen zum Ausdruck, wie sie – auch in den Bildungsinstitutionen Universität und Schule – gesellschaftlich vermittelt und perpetuiert werden. Gesamtgesellschaftliche Hierarchien und Machtgefüge werden dort reproduziert und beeinflussen die Handlungen und Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen. Im Rahmen eines kritischen Bildungsansatzes können sich die Lernenden dieser Mechanismen bewusst werden und sie zugunsten einer größeren Akzeptanz und Diversität aufbrechen (vgl. auch Mihan 2018: 214). Zugleich bringen die Studierenden bzw. Schüler*innen zum Ausdruck, wessen Stimme sie für repräsentationswürdig halten bzw. wer aus ihrer Sicht wessen Geschichte mit welcher literarischen Stimme erzählen darf. Auch hier beeinflussen gesamtgesellschaftliche Hierarchien und Machtgefüge ihre Wahrnehmung und Positionierung. Im Rahmen eines kritischen Ansatzes lassen sich die Limitationen von Standpunkten erkennen, denen zufolge literarische Darstellungen auf direkten persönlichen Erfahrungen gründen müssen. Ebenso lässt sich das ‚Prinzip der Vielstimmigkeit‘ (Gutenberg 2013: 113) würdigen, das sich beispielsweise auch in unerwarteten Text-Autor*innen-Beziehungen ausdrückt. Mit der Thematisierung von möglichen Konsequenzen oder Effekten, wenn beispielsweise The Art of Being Normal nicht erzählt worden wäre, lässt sich auch die Frage der gesellschaftlichen und/oder politischen Wirksamkeit von Literatur und deren Beeinflussung von öffentlichen Diskursen relativ niederschwellig und ohne größere literaturgeschichtliche Zusammenhänge diskutieren (vgl. Abschnitt 2).
Zugleich ist aber auch die Frage nach einer Bevormundung unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen aufzugreifen. Dieser Punkt ist möglicherweise ein blinder Fleck oder zumindest eine Ungenauigkeit einer kritischen Pädagogik oder eines kritischen Ansatzes für den Fremdsprachenunterricht: Wie genau, d.h. auf welcher Basis und aus wessen Perspektive, wird gesellschaftliche Benachteiligung bestimmt, gegen die mit einer kritischen Haltung angearbeitet werden soll? Wie werden Themen, die aus kritischer Perspektive grundsätzlich legitimiert scheinen, im Einzelnen ausgewählt oder hierarchisiert? Sind transgender-bezogene Gegenstände beispielsweise wichtiger als traditionelle Gleichstellungsthemen, weil Erstere binäre Heteronormativitätsvorstellungen überwinden, Letztere aber nicht? Darüber hinaus sind grundsätzliche kritische Einschätzungen gegenüber dem Ansatz einer kritischen Pädagogik (und in der Folge Kritischen Fremdsprachendidaktik) zu bedenken, die sich zum einen darauf beziehen, dass gesellschaftliche Strukturen trotz dieses Bildungsansatzes nur geringfügig verändert werden. Zum anderen beziehen sie sich auf Inkonsistenzen und Inkohärenzen des Ansatzes selbst, d.h. “[…] it is based on post-modern notions of knowledge, yet makes universal claims; it speaks a language of care, but adopts a totalitarian view of society […]” (Sowden 2008: 284). Während also allen gesellschaftlich vertretenen Stimmen eine prinzipielle Gleichwertigkeit eingeräumt wird, bedeutet deren Thematisierung im Unterricht nicht, dass damit automatisch Ungleichheiten überwunden werden. Vielmehr lassen sich auch in einem kritischen Ansatz systemstabilisierende Tendenzen ausmachen.
Diese Diskussion soll hier nicht vertieft werden. Für grundsätzliche Legitimation von Transgender-Themen im Rahmen einer heteronormativitätskritischen Haltung sei verwiesen auf Mihan (2018) oder auch schon Decke-Cornill (2004). Letztere (ebd.: 200) betont, dass die Nichtberücksichtigung von Texten außerhalb der heterosexuellen Matrix bedeuten würde, den Lernenden kulturelles Wissen vorzuenthalten, sie der Möglichkeit kritischer Reflexionen zu berauben, die Legitimität nicht normativer Identitätsentwürfe und Verhaltensweisen zu verleugnen und damit zu bestehenden Marginalisierungs- und Verleugnungsmechanismen beizutragen. Das Argument ähnelt Faircloughs (1992: 6) Annahme, dass die Vernachlässigung einer kritischen Komponente der sprachlichen Bildung gleichbedeutend mit einer Fehlfunktion des Bildungsangebots sei: „People cannot be effective citizens in a democratic society if their education cuts them off from critical consciousness of key elements within their physical or social environment.“
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist daher die Betrachtung dessen, was Pavlenko (2014: 59) „development of voice and authoritative means of self-expression“ nennt, die unmittelbar mit dem Gedanken der Ermächtigung und in der Folge mit sozialer Transformation (vgl. Abschnitt 3) verbunden sind. Zum einen erlaubt die Perspektivierung von Themen, wie sie in den ausgewählten Romanen vorgenommen wird, den Rezipient*innen eine neue individuelle wie soziale Positionierung, zum anderen stattet der dort modellhaft repräsentierte Sprachgebrauch die Leser*in/Lerner*in mit neuen Ausdrucksmöglichkeiten (auch in der Fremdsprache) aus. Eine differenzierte Betrachtung macht allerdings deutlich, dass ein Teil der Romane zwar das binäre Gendersystem kritisiert, zugleich aber gesellschaftlichen Konventionen und dem damit verbundenen etablierten Sprachgebrauch (z.B. männliche vs. weibliche Pronomina) erliegt. Sowohl If I Was Your Girl als auch The Art of Being Normal verfolgen in gewisser Weise das Narrativ des Boy Meets Girl bzw. Girl Meets Boy, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, da zunächst eine*r der Partner*innen eine Transition vollzogen hat. Allerdings reproduzieren die Darstellungen der jeweiligen Beziehungen vielfach Stereotype und perpetuieren so Verhältnisse, die das Weibliche als das schwache und passive Geschlecht darstellen. Die in der Sprache eingeschriebene Binarität ermöglicht somit zwar die Darstellung von Transition, aber nicht die Überwindung einer Zweiteilung an sich.
Diese Überwindung denkt der Roman Symptoms of Being Human deutlich weiter. Als Ich-Erzähler*in stellt Riley binäre Geschlechterrollen immer wieder in Frage. Die Einsicht in Rileys individuelle Gefühlswelt – beispielsweise anhand der Blogposts, die Riley unter dem Pseudonym Alix veröffentlicht – bietet hierfür Reflexionsräume. Riley erklärt im allerersten Post metaphorisch, was es bedeutet, genderfluid zu sein, und welcher Stigmatisierung man sich ausgesetzt sieht:
Anyway, it’s not that simple. The world isn’t binary. Everything isn’t black or white, yes or no. Sometimes it’s not a switch, it’s a dial. And it’s not even a dial you can get your hands on; it turns without your permission or approval.
“Okay,” people say, “but you were born one way or the other. Like, biologically. Anatomically.”
As if they have a right to know! As if, since I’ve so rudely failed to make it obvious, I ought to wear a sign.
Well it’s none of their damn business.
You think I am unaware that my gender isn’t immediately apparent to you? You think I didn’t choose these clothes and this haircut specifically to avoid being stuffed into one pigeonhole or another?
I’m gender fluid. Not stupid.
/rant1
(Symptoms of Being Human: 28)
Mit starker Stimme werden hier eine binäre Geschlechterordnung und -identität in Frage gestellt. Dabei beansprucht Riley keine Deutungshoheit in Genderfragen, denn auf die Definition, was es heißt, genderfluid zu sein, folgt der Satz: „I know it’s not like that for all gender fluid people – but that’s the best way I can describe how it is for me“ (ebd.: 29). Diese Darstellung kann als Aufruf zur Toleranz von Individualität und gegen ein vereinfachendes kollektivierendes und kategoriales Denken gelesen werden. Sie ist damit mehr als nur vereinbar mit der Hoffnungsbezogenheit kritischer pädagogischer Ansätze (vgl. Abschnitt 3).
Rileys Geschichte bietet auch deswegen großes Identifikationspotenzial, weil die Leser*innen gemeinsam mit der Hauptperson den Weg des Erwachsenwerdens erleben. Riley ist eben nicht reduziert darauf, genderfluid zu sein. Im Gegenteil, der Fokus der Erzählung liegt auf den Höhen und Tiefen der jugendlichen Entwicklungsphase: zum ersten Mal verliebt sein, die Schule überstehen, neue Freunde finden, Hochgefühle oder tiefe Zweifel erleben. Gleichzeitig aber fordert Rileys fluide Geschlechtsidentität zur kritischen Reflexion eigener Handlungen auf, welche besonders effektiv sein kann, wenn eine Identifikation mit der Hauptfigur stattfindet. Habe ich mich vielleicht meinen Mitschüler*innen gegenüber (unwillentlich) fehlverhalten, wie Rileys Mitschüler*innen es taten? Falle ich selbst (unbewusst) in binäre Zuschreibungen zurück, die meine Mitschüler*innen verletzen können? Solche Fragen sind unmittelbar anschlussfähig an Prozesse des empowerment und dem kritischen Hinterfragen gesellschaftlicher Normen.
Weiterhin diskussionswürdig ist die Frage, inwiefern die Aktualität der ausgewählten Romane zu einem kritischen Fremdsprachenunterricht beitragen kann. In Symptoms of Being Human stechen hier beispielsweise die prominente Rolle des Blogs hervor, die Jugendsprache Rileys und zahlreiche popkulturelle Referenzen (z.B. auf Star Wars). Sicherlich tragen diese zur Zugänglichkeit des Romans und einem erhöhten Identifikationspotenzial mit der Hauptfigur bei, vielmehr stehen unserer Ansicht nach jedoch die allgegenwärtigen anthropologischen Grundfragen – wie der Titel des Romans besagt, die Symptome des Menschseins – im Vordergrund. Auch der politische Fokus des Romans durch die Rolle von Rileys Vater als Kongressabgeordneter hat zwar in Zeiten Trumps und gesellschaftlicher Polarisierung einen besonderen Stellenwert, auch diesem Thema wohnt jedoch große Zeitlosigkeit inne.