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Jugend(kultur) und ländliche Heimat

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Um die Frage nach Heimatkonstruktionen zu beantworten, schien uns die Fokussierung auf Jugendliche und ihre Szenen besonders vielversprechend. Denn diese stellen posttraditionale Vergemeinschaftungsformen dar, die eine eigene Kultur entwickeln und dadurch gesellschaftlichen Tendenzen zur Individualisierung mit Zugehörigkeits- und Identifikationsangeboten begegnen – mit anderen Worten: Jugendlichen eine (kollektive) Heimat geben oder zumindest temporär ein Ort sein können, der Heimat ganz bestimmend mitprägt. Szenen sind in der Lage, besondere Bindeoder Absetzungskräfte zu entwickeln (vgl. z.B. Hitzler/Niederbacher 2010). Sie werden häufig entweder als Anlass genommen, in der Provinz zu bleiben, weil sie etwas bieten, das in der Stadt oder anderswo nicht einholbar zu sein scheint, oder aber als etwas identifiziert, das gerade nicht in der Provinz, dafür aber in der Stadt vorzufinden ist, weswegen die alte Heimat verlassen werden muss.

Die Entwicklungen der permanenten Mobilität und die Notwendigkeit, die Heimat zu verlassen, eine neue zu suchen oder gar „mehr-heimig“ zu sein, betreffen insbesondere junge Menschen, die nicht nur von den Effekten der „zweiten Moderne“ stärker betroffen, sondern zusätzlich unter Bedingungen der umfassenden Mediatisierung und Glokalisierung aufgewachsen sind: So wird durch Internet und (digitale) Medien für die Einzelnen nicht nur ein enormes Spektrum soziokultureller Möglichkeiten, Handlungs- und Identifikationsangebote immer transparenter und potenziell verfügbarer, sondern darüber hinaus werden diese Angebote stärker für kulturelle Prozesse der selektiven Aneignung und Neukontextualisierung zugänglich. Das Verfügbarkeitsangebot bewirkt, dass der Reiz steigt, etwas und „sich“ jenseits der Heimat auszuprobieren. Das Kursieren kultureller Angebote bewirkt kulturelle Transformationsprozesse, bei denen das vormals geografisch und kulturell Entfernte oder „Fremde“ immer schneller in die „eigene“ Kultur integriert werden kann (und muss!). Dadurch wird „Heimat“ als Sinnhorizont des Kontinuierlichen und Vertrauten zunehmend fluider und permanent revisionsbedürftig.

Aktuelle Veränderungen, die „die Jugend“ in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, treten in den Städten zwar stärker sichtbar zutage, prägen längst aber auch die Lebenswirklichkeiten auf dem Lande. So klagen Freiwillige Feuerwehren, Karnevals- und Schützenvereine, aber auch kirchliche und andere Jugendgruppen und -verbände vielerorts über Nachwuchsmangel. Selbst Jugendliche, die gerne in Landgemeinden leben, schließen sich nicht mehr automatisch den Jugendgruppen und Vereinen ihrer Eltern und Großeltern an, sondern sie prüfen kritisch: Was bringt MIR das, wenn ich mich dort engagiere? Selbstverständlich prägen die (großstädtischen) Jugendkulturen – und eben die via World Wide Web verbreiteten Informationen – auch Jugendliche auf dem Land. Was für (eher) großstädtische Jugendkulturen schon immer galt, überträgt sich nun also auf die Vereine und Organisationen in den Landgemeinden. Die Jugendlichen dort fordern dies explizit eher selten – sie stimmen „mit den Füßen“ ab und bleiben den Angeboten, die nicht zu ihnen passen, einfach fern. Landgemeinden und dort beheimatete Organisationen werden sich gegenüber den Bedürfnissen der jugendkulturell geprägten Jugendlichen öffnen müssen, wollen sie nicht zur jugendfreien Zone werden. Das bedeutet neue Herausforderungen auch für die Jugendarbeit auf dem Land – nicht zuletzt, damit aus dem „Ich bin dann mal weg“ vieler Jugendlicher vielleicht ein „Ich bleib erst mal hier“ oder „Ich komme gerne zurück“ wird. – Dies ist eine Erkenntnis aus der Online-Befragung im Kontext des WIR-Projektes, die Benjamin Ollendorf, Susanne Borkowski und Günter Mey in diesem Band vorstellen.

Das Verhältnis von Jugendlichen zur „Heimat“ ist durch gesellschaftliche, mediale und globale Entwicklungen beeinflusst, die Menschen geografische und geistige Mobilität abverlangen. Der Einfluss dieser Rahmenfaktoren auf die Vorstellungen von Heimat ist sicher hoch. Dennoch gehen wir nicht davon aus, dass diese Faktoren zu einer Homogenisierung von Heimatvorstellungen führen. Vielmehr unterhalten Menschen konstant „intime“ Beziehungen zu Landstrichen, Dörfern, Stadtvierteln, Städten etc., weil diesen etwas Besonderes oder Einzigartiges zugeschrieben wird. Anzunehmen ist, dass Menschen in Franken beispielsweise Heimatkonzepte haben, die mit lokalspezifischen Narrativen über die Region oder besondere Orte korrespondieren, die sich von Narrativen und Orten in der ostdeutschen Altmark unterscheiden.

„Heimat“ stellt also keine individuelle Zuschreibung dar, sondern ist vielmehr eine Konstruktion, die konkret mit einem Raum oder einer Region verknüpft wird und in die Strukturen hineinwirken, die (lokal) überindividuell geteilt werden und es möglicherweise rechtfertigen, von einem Heimatkonzept der Jugendlichen in Franken oder dem Ruhrgebiet zu sprechen. Wie diese Vorstellungen im Einzelnen zu beschreiben sind, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sie aufweisen – all dies galt es herauszufinden.

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