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Gabriel Marcel als Leser Rilkes von Gerald Stieg (Paris)

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Als 1969 Richard Wisser bei Gabriel Marcel um die Mitwirkung bei der Feier zu Heideggers 80. Geburtstag in Meßkirch anfragte, antwortete der französische Philosoph ausweichend:

Ich muss sagen, dass mich Ihr Brief einigermaßen in Verlegenheit bringt. Im Prinzip wäre ich natürlich bereit gewesen, an dieser Huldigung teilzunehmen. Doch gibt es folgende Schwierigkeit. Sie wissen wohl, dass ich über Heidegger ein satirisches Stück, Die Wacht am Sein, verfasst habe, das in Innsbruck aufgeführt wurde und dessen Übersetzung in einer Anthologie des zeitgenössischen Theaters erschienen ist. [In dieser Anthologie aus dem Jahr 1960 befindet sich Marcel in illustrer Gesellschaft: Cocteau, Anouilh, Julien Green, Romain Rolland und Montherlant.1] Würde ich keinerlei Anspielung darauf machen, würde ich den Anschein erwecken, das Stück zu verleugnen. Das will ich aber um keinen Preis; andererseits ist es natürlich schwierig, darüber zu sprechen, selbst um zu sagen – und das ist die Wahrheit –, dass sich mein Urteil über die von mir wirklich bewunderte Philosophie nicht in der im Stück geübten Kritik erschöpft. Es liegt bei Ihnen, zu entscheiden, ob unter diesen Bedingungen meine Teilnahme wünschenswert ist.2

Sie war es sichtlich nicht, Marcel kam eben so wenig wie Sartre oder Hannah Arendt. Entscheidend war wohl sein Postskriptum: „Ich muss hinzufügen, dass Heidegger das Stück kennt und dass es ihm – ich habe einige Zeugnisse dafür – einen recht unerquicklichen Eindruck gemacht hat“ (8. September 1969). 1967 habe ich diese vom französischen Kulturinstitut veranstaltete Aufführung, die in Gegenwart Gabriel Marcels stattfand, gesehen, und mich dabei köstlich unterhalten. (Ludwig von Ficker war kurz zuvor gestorben. Es ist anzunehmen, dass er bei dieser Gelegenheit Marcel wiederbegegnet wäre, den er bei einer Ebner-Feier 1965 kennengelernt hatte). Es wäre natürlich hochinteressant gewesen, wie Ficker, der in Sachen Trakldeutung Heidegger bedingungslos bewunderte, auf die Satire reagiert hätte. Doch die Begegnung Fickers mit dem Repräsentanten des französischen katholischen Existentialismus hat nicht stattgefunden.

Erst durch meine Arbeit an der Gesamtausgabe von Rilkes Lyrik in der Bibliothèque der Pléiade (Paris: Gallimard 1997) bin ich flüchtig mit dem französischen Original in Berührung gekommen, das den Titel La dimension Florestan trägt und 1958 in einem Pariser Verlag erschienen ist.3 Doch erst vor einem Jahr habe ich begonnen, mich ausführlicher mit Gabriel Marcels Schriften zu Rilke zu beschäftigen, als einem nicht unbedeutenden, aber heute nahezu vergessenen Moment der Rilke-Rezeption in Frankreich, bei der Heidegger eine entscheidende Rolle gespielt hat. Diese Rezeption hat zwei völlig verschiedene Gesichter: ein satirisches in der Wacht am Sein, noch verschärft durch den begleitenden Essay Le crépuscule du sens commun (wörtlich Der Untergang des gesunden Menschenverstandes, in der deutschen Übersetzung ergab das den Titel Der Untergang der Weisheit),4 und ein philosophisch-theologisches in dem Buch Homo Viator aus dem Jahr 1944, das ein ausführliches Kapitel über Rilke, témoin du spirituel (Rilke als Zeuge der Spiritualität/Geistigkeit) enthält.5 Entgegen der Gepflogenheit, das Drama mit dem Satyrspiel enden zu lassen, wende ich mich zunächst der komischen Seite der Rezeption zu. Der Anstoß zur Wacht am Sein war der Rilke-Kultus in Paris, dessen Höhepunkt eine Ausstellung zum 30. Todestag 1956 darstellte. Rilke-Zelebrationen in Krypten bei Kerzenlicht waren auch danach noch lange Mode und wurden von bedeutenden Schauspielern getragen. Parallel zum Rilke-Kultus installierte sich eine Heidegger-Idolatrie, die nach wie vor andauert und merkwürdigerweise die üblichen politischen und ideologischen Grenzen überschreitet. Es gab zwar schon früh die kluge Dekonstruktion von Heideggers Sprache durch Robert Minder in dem Essay Die Sprache von Meßkirch, später Pierre Bourdieus Anti-Heidegger (Die politische Ontologie Heideggers), dann das bedeutende, aber sichtlich wirkungslose sprachkritische Buch Le langage Heidegger von Henri Meschonnic und vor kurzem die Reflexionen über Heidegger et la langue allemande von Georges-Arthur Goldschmidt, dem Kafka- und Handke-Übersetzer. Goldschmidt musste es sich gefallen lassen, von einem der Übersetzer von Sein und Zeit des „Hasses auf das Denken“ bezichtigt, ja als „hysterisch heideggerfeindlicher Faschist“ diffamiert zu werden. Ein anderer Heideggerianer warf ihm vor, die nazistische Judenriecherei durch eine gegen Heidegger gerichtete Naziriecherei ersetzt zu haben. Ein Zeugnis unter vielen für die oft raue Tonart, wenn es um Heidegger geht. Auf der anderen Seite findet man als Argument gegen den Philosophen einen Heidegger mit Hitlerschnurrbart und den Gruß „Heil Heidegger!“

Auch Karl Kraus spielte in der Diskussion um Heidegger eine Rolle: der Philosoph Jacques Bouveresse, Professor am Collège de France und Vertreter der österreichischen philosophischen Tradition (Bolzano, Wittgenstein, Musil), hat sich dazu so geäußert: „Niemand wagt Heidegger gegenüber den notwendigen Schritt der Übersetzung ins Banale. Was Karl Kraus 1934 in ‚Dritte Walpurgisnacht‘ getan hat, nämlich die Übersetzung der Rektoratsrede in die Sprache der nationalsozialistischen Gewalttätigkeit, ließe sich auf den Großteil der Texte Heideggers anwenden.“6 Kraus hatte den Denker Heidegger unter die „Worthelfer der Gewalt“ eingereiht. Im Gegensatz zu Bouveresse sah Derrida in Heidegger den Denker, der es uns ermöglicht, das Wesen des Nationalsozialismus zu denken.

Gabriel Marcels Komödie, die bewusst in der Tradition Molières (Les précieuses ridicules und Les femmes savantes) steht, hat zwei Hauptgestalten, eine auf der Bühne anwesende, den Professor Dolch, eine Karikatur Heideggers, der an der Spitze eines exklusiven Vereins zu Ehren des verstorbenen Dichters „Florestan“ steht, der in Wirklichkeit Gustav Affenreiter hieß und Rilke repräsentiert. Es geht im Wesentlichen um die Frage der Deutungshoheit in Sachen Rilke. Heidegger-Dolch beansprucht diese unter Mithilfe eines Kreises von Enthusiastinnen für sich allein, trifft aber auch auf Gegnerschaft. Florestans illegitime Tochter Verena, die sich selbst als „Florestan Redivivus“ bezeichnet, hat eben Dolch zum Beischlaf verführt und tut das der Florestan-Forschungs-Gesellschaft in Anwesenheit Dolchs so kund:

Ich bin Florestan Redivivus. Er ist es, der sich Ihnen hingegeben hat. Als Retourkutsche für die Kommentare, unter denen Sie ihn vergraben haben; denn Ihr Verdienst war es, das was für die Meisten sonnenklar war, für alle unverständlich zu machen. (Heiterkeit). Aber alles in allem muss Ihnen Florestan dankbar sein, denn verstehen heißt schänden, heißt beleidigen. […] Gewiss, ich bringe Ihnen den Skandal, ich bin der Skandal. Ich habe Sie aus der luftleeren Sakristei herausgeholt, in der Sie sich wie eine Ratte in ihrem Käse eingeschlossen hatten. (Unerhört! Welche Frechheit, arme Mutter!) Heute sind Sie noch einigermaßen salonfähig. Doch in ein, zwei Jahren werden Sie nichts mehr sein als ein Herr Professor (auf Deutsch). Werden Sie was! Setzen Sie die Kühnheit Ihres Vokabulars in die Tat um! DIE ENTSCHEIDUNG! (153) [Bei Marcel ist noch keine Spur der späteren Versuche, Heideggers Vokabular mit der LTI oder Carl Schmitts Dezisionismus zu assoziieren.]

Auf diesen Angriff antwortet Dolch: „Ich entscheide…, dass nichts geschehen ist. Ich sehe Sie zum ersten Mal, Sie sind nicht Florestans Tochter“. Der positivistische Philologe Schattengraber wagt den Einwurf: „Und die Tatsachen?“ Dolch antwortet: „Nahrung für Koprophagen. Ihr seid alle Mistkäfer.“ Der katholische Priester (Père Plantille) wagt einen neuen Einwurf: „Ich bin bestürzt über Ihre Worte. Was wird da aus der Wahrheit?“, worauf Dolch dekretiert: „Ich bin es, der die Wahrheit stiftet.“ (153–154) (Fast gleichzeitig mit Marcel hat Robert Minder in einer Rezension von Karl Kraus’ Beim Wort genommen geschrieben: „Kraus hat nichts von der archaischen Magie Heideggers, dem Böhmeschen Taumel vor dem WORT, das sich in seiner ursprünglichen Reinheit enthüllt und in feurigen Lettern auf den Gesetzestafeln von Todtnauberg, dem neuen Berg Sinai einschreibt.“7) Bei Marcel ruft der Priester aus: „Großer Gott! Welche Häresie!“ Dolch: „Habe ich mich denn je als Katholik ausgegeben? Trotzdem, Frau Elise, empfehle ich Ihnen, diese schamlose Kreatur in einem unserer ausgezeichneten bayrischen Klöster einzuschließen. Was die Disziplin angeht, hat die Kirche ihre guten Seiten.“ Die Szene schließt mit den Worten des Paters: „Diese Huldigung ist eine Beleidigung.“ (155)

Diese Passage ist aufschlussreicher für Marcels Haltung als die Parodie der Sprache Heideggers vom Typ „Die Birne birnt…“, obwohl Marcel ausgehend von der Tautologie „Das Ding dinget“ den „gesunden Hausverstand“ sprachlicher Natur gegen die Hybris des Philosophen und seiner Nachahmer verteidigt. Besonders amüsant ist dabei, dass der Enthusiasmus für die sprachlichen Neuerungen auf Widerstand trifft. Florestans Frau versucht ein „La pêche pèche…“: „Der Pfirsich pfirsicht“, was aber auch bedeuten kann „Der Pfirsich sündigt“. Dolch reagiert auf diese „Impertinenz“ so:

Ich gebe darüber hinaus zu bedenken, dass der Pfirsich wie vielleicht auch die Marille eine exotische, unserem Boden und unserer Sprache fremde Frucht ist und darum in einem viel geringeren Grad als die Birne, der Apfel, vielleicht auch die Pflaume … diese Wesenhaftigkeit, diese Dingheit besitzt, an der mir als Ontologisten besonders gelegen ist. Das sind Import- oder Lehnfrüchte. Die Sprache ruft es in Erinnerung oder kündigt es an. Denken wir daran, dass wir immer von der Sprache zur Sache gehen müssen. Denn die Sprache ist wie ein Tabernakel, in dem die Wesenheiten aufbewahrt sind. (80)

Man begreift, dass Heidegger die Komödie „unerquicklich“ gefunden hat, während die „Mistkäfer“, zu denen ich mich zählen muss, gelacht haben. Es bleibt noch zu bedenken, dass Gabriel Marcel 1958 das seit 1987 zentrale Thema des Kampfs um Heidegger in Frankreich gänzlich ausklammert, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Heideggers Denken zum Nationalsozialismus. Ihm geht es nur um die Verteidigung der Vernunft und eines katholischen Realismus. Die Schlussszene ist dafür exemplarisch: Die kultische Dimension Florestans, die von der Florestan Forschungsgesellschaft gepflegt wurde, wird durch ein Paar Patschen entmystifiziert, die Frau Melitta, seine Witwe, für Florestan gestickt hat und mit denen sie jetzt ihre kalten Füße wärmen will. Die Patschen und die Dimension Florestan sind für den Philologen inkompatibel. Der Pater erklärt jedoch: „Sogar in dieser Gesellschaft hat sich wahre Zärtlichkeit inkarniert, nämlich in den Patschen. Dagegen finde ich in der anderen Dimension nichts als Eitelkeit und Wahn. […] Der gesunde Menschenverstand und die Liebe lassen sich nicht ungestraft trennen.“ Frau Melitta behauptet: „Florestan hat nie etwas anderes gesagt.“ Der Pater hat das skeptische letzte Wort: „Vielleicht, vielleicht, gnädige Frau, aber ich werde heute Abend für die unsterbliche Seele Gustav Affenreiters beten.“ (158)

Gabriel Marcel hat sein Stück mit einem erklärenden Nachwort und dem Abdruck seines Vortrags über den Untergang des gesunden Menschenverstandes aus dem Jahre 1954 versehen. Er insistiert auf dem theatralischen Charakter seiner Personen, zögert aber nicht zuzugeben, bewusst Heideggers Sprache im Namen Molières zum Ziel seiner „grausamen Kritik“ gemacht zu haben. In Sachen Rilke geht es ihm nicht um Rilkes Werk, sondern um die absurde „Idolatrie“, die mit dem Dichter als Religionsersatz getrieben werde. Heideggers Sprache und erst recht ihre Imitation bei seinen (französischen) Schülern ist für ihn ebenso wie der Dichterkult ein Symptom des Verlusts des „gesunden Menschenverstandes“, der in der französischen Tradition in der Literatur (Molière als absolutes Vorbild) wie in der Philosophie (von Descartes bis Bergson) immer als Korrektiv gegen das „Unverständliche“ (abscons) (162–163) am Werk gewesen sei. Marcel bekennt auch, dass er seine Komödie ursprünglich auf Deutsch gedacht habe und dass ihr wahrer Titel das Wortspiel mit der Wacht am Rhein gewesen sei. (159) Damit hat er den wunden Punkt Heideggers getroffen, der zugleich seinen Ruhm begründete: Dieses Denken ist essentiell an die deutsche Sprache gebunden und im Prinzip unübersetzbar (wie die Lyrik). Man bedenke, dass Sein und Zeit von 1927 erst 1985 vollständig ins Französische übersetzt wurde, zunächst in einer vom Verlag Gallimard nicht autorisierten Raubübersetzung, dann in einer offiziellen, allgemein als unleserlich und unbrauchbar kritisierten. Bemerkenswert daran ist, dass das größte philosophische Buch des 20. Jahrhunderts 60 Jahre lang nur auf Deutsch vollständig zugänglich war, sprich dass die Heidegger-Schüler in Frankreich die deutsche Sprache beherrschen mussten. Heidegger hat das selbst mit Befriedigung festgestellt: „Wenn die Franzosen denken, denken sie deutsch“8 (sprich Heidegger). Denn denken kann man ohnehin nur in zwei Sprachen: griechisch und deutsch. Gabriel Marcel hat diese Herausforderung sehr wohl gespürt, aber gleichzeitig die Philosophie und die hegemoniale Position Heideggers im Feld des Denkens nicht wirklich in Frage gestellt. Diese Infragestellung ist erst erfolgt, als man entdeckte, dass es eine gewisse Synchronie zwischen der Sprache Heideggers und der LTI gab. (Die auf dieser Tatsache fußenden Komödien sind eher in der österreichischen Literatur bei Bernhard und Jelinek zu finden). Man kann sich schwer die Fehden vorstellen, die in Frankreich für oder gegen Heidegger ausgetragen werden.

Hier eine kleine Seitenbemerkung zum genius loci des Brenner-Archivs: Im Gegensatz zu Marcel ist Ludwig von Ficker in die Heidegger-Falle gegangen (vor allem auf Grund der Trakl-Deutung und des Feldwegs), obwohl klarsichtige Korrespondenten, allen voran Ruth Horwitz, die Ehrlichkeit des Philosophen mit guten, nämlich Kraus’schen Argumenten in Zweifel gezogen hatten.9 Mir bleibt rätselhaft, wie Ficker das Unternehmen des Brenner in eine essentielle Beziehung zu Heidegger bringen konnte, wo doch alles sie trennt, außer der Sakralisierung Trakls. Das ist umso erstaunlicher, als Theodor Haecker im Brenner 1932 die absolute Gegenposition zu Heidegger im Namen Vergils eingenommen hatte. (Ruth Horwitz beruft sich u.a. auf ein Gespräch ihres Vaters mit Haecker, um den gängigen Einwurf zu entkräften, dass man 1933 „nicht wissen konnte“.)10

In der Wacht am Sein hat der katholische Priester das letzte Wort. Gabriel Marcel war 1929 zum Katholizismus konvertiert und wurde zu einem herausragenden Vertreter des „katholischen Existenzialismus“, der sich in seinen Essays unentwegt mit führenden Vertretern der französischen Philosophie auseinandersetzte, allen voran Sartre und Camus. In der Wacht am Sein versucht am Beginn der junge Franzose Denis bis zum Professor vorzudringen, wird aber abgewimmelt. (Heidegger ist auf einem Waldspaziergang). Er provoziert die Sekretärin und den katholischen Priester, der hinter dem „Seyn“ ein Pseudonym Gottes sieht, folgendermaßen: „Sie werden mich nicht daran hindern, dass sich die Avantgarde der jungen französischen Philosophie um den Professor Dolch als den bekanntesten Vorkämpfer des zeitgenössischen Atheismus schart.“ (11) Eine kaum verdeckte Anspielung auf Sartres Das Sein und das Nichts.

Nun waren Rilke und Heidegger schon in den dreißiger Jahren zu Herausforderungen für die Theologen geworden. Dafür zeugt ganz besonders die monumentale Apokalypse der deutschen Seele des Jesuiten Hans Urs von Balthasar. Nach dem Krieg hat sich Romano Guardini intensiv mit Rilke auseinandergesetzt, ohne Heidegger direkt zu nennen. Karl Rahner, Heideggerschüler, hat sich mit Priester und Dichter unter ausdrücklichem Bezug auf die Duineser Elegien im Umkreis des Brenner an diesem Gespräch beteiligt. Ein seltsamer Nachzügler ist das Buch des Ex-Jesuiten Günther Schiwy Rilke und die Religion (2006). Die „Gleichung“ Heidegger-Rilke geht eindeutig auf eine nicht verbürgte Aussage des Philosophen zurück, die der französische Germanist Joseph-François Angelloz 1936 in seinem Rilkebuch in die Welt gesetzt hatte: Heidegger habe behauptet, die Duineser Elegien seien die poetische Variante seiner Philosophie, überhaupt glichen Rilke und Heidegger einander in der Frage des Todes.11 Heidegger war darüber sehr verärgert und hat Rilke in seinen Vorlesungen 1942–1943 aufs härteste kritisiert und einen Abgrund zwischen sich und dem Dichter konstatiert. Aber die apokryphe Behauptung tat ihre Wirkung: von Balthasar beruft sich auf sie und hat ihr ein ausführliches Kapitel unter dem Titel Rilke und Heidegger12 gewidmet, aber auch Gabriel Marcel und der abgefallene Priester Pierre Hadot, später Professor der Philosophie am Collège de France, denken daran, eine Dissertation über Rilke und Heidegger zu schreiben. Das Paar Heidegger-Rilke war sprichwörtlich geworden – Heidegger selbst sagte dazu verächtlich, dass „das gedankenlose Zusammenwerfen meines Denkens mit Rilkes Dichtung bereits zur Phrase geworden ist.“13 Zu dieser Dichtung bemerkt er abschätzig, sie „ist überhaupt nichts in einem Zeitalter, in dem nicht nur Sein oder Nichtsein eines Volkes zur Entscheidung steht, sondern all dem voraus das Wesen und die Wahrheit von Sein und Nichtsein selbst und schlechthin auf dem Spiele stehen“.14 1942! Doch die „Phrase“ hat ihre Wirkung getan und Rilke in ein theologisch-philosophisches Spannungsfeld gebracht, für das Marcels Homo Viator ein typisches Zeugnis ablegt.

Die folgenden Überlegungen ließen sich unter dem Obertitel „Die Pseudonyme Gottes“ zusammenfassen. Hans Urs von Balthasar hat Rilkes Dichtung als verkappte Theologie gelesen und damit ihren Konkurrenzcharakter zum Glauben diagnostiziert. Noch Rahners Priester und Dichter, der einige berühmte Verse der Duineser Elegien als Ausgangspunkt nimmt, ist im Grunde eine Apologie des priesterlichen Wortes gegen die poetische Chimäre.15 Dieses Misstrauen in die Legitimität und Wahrhaftigkeit der Poesie grundiert auch Guardinis Lektüre der Duineser Elegien, der eine unterirdische Beziehung zwischen Rilkes konsequentem und bindungslosem Individualismus und der Auslieferung an die totalitären Es-Mächte konstatiert. „Sein Leben war eine einzige Wanderung“.16 Er war, mit Marcel zu sprechen, der Guardinis Arbeiten kannte, ein Heilsverweigerer, ans Christentum in einer antithetischen Beziehung gebunden. (Es scheint mir hier erwähnenswert, dass Guardini 1939 unter dem Pseudonym Lucien Valdor auf Französisch das Buch Le chrétien devant le racisme veröffentlicht hat.)

Es ist hier nicht der Ort, einen Vergleich der Haltung Marcels mit Ludwig von Fickers Position der 1930er Jahre anzustellen, die im nicht erschienenen Brenner von 1938 durch den Reichsadler und das gemeinsame Requiem für Kraus und Dollfuß eindeutig bestimmt ist. Marcel führt im Homo Viator, der aus Beiträgen der Jahre 1941 bis 1944 besteht, einen philosophischen Krieg gegen den Nihilismus, den Individualismus, die technokratische Zivilisation, die Massenmedien und den Verfall sakraler Institutionen wie der Ehe. Auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Ich-Du-Philosophie Ebners ist gegeben. (1965 hat Marcel in Wien und Salzburg Vorträge über Ebner gehalten. Hans Rochelt hat energisch gegen die Vereinnahmung Ebners durch den „christlichen Existentialismus“ protestiert).17 Auf dieser Basis beruhen Marcels scharfe Kritiken an Sartre, Bataille und Camus. Es handelt sich konsequent um katholische heilsgeschichtliche Verurteilungen der „Verweigerer des Heils“. Diese Denkweisen sind für ihn entweder „faszinierendes perverses Spiel“ oder tiefergehend „die Vollendung eines Prozesses der Selbstzerstörung, der sich im Inneren einer verdammten Gesellschaft vollzieht, einer Menschheit, die mit ihren ontologischen Bindungen gebrochen hat – oder glaubt, mit ihnen gebrochen zu haben.“ Dieser „Narzissmus des Nichts“ ist zugleich Negierung Gottes und des Menschen.18

Man hat Marcel nicht ganz zu Unrecht eine gewisse Sympathie für das Régime des Maréchal Pétain nachgesagt, das dem katholischen Ständestaat in manchem verwandt war, wenn man den Anspruch auf einen korporatistisch organisierten „katholischen Sozialstaat“ mit besonderer Berücksichtigung des Bauernstandes betont. Sein Vortrag über das Geheimnis der Familie ist nicht nur theologischer, sondern eindeutig politischer Natur. Bei seiner Verteidigung der Werthierarchie bezieht er sich u.a. auf Theodor Haecker und Charles Péguy, der die Familienväter als die wahren Helden und Abenteurer der Moderne gefeiert hatte. Rilke kann in dieser Frage nur als unsteter erotischer Wanderer figurieren. (Péguy war im vorletzten Brenner vertreten. Friedrich Heer hat einen Vergleich zwischen Brenner und Péguys Cahiers de la Quinzaine gezogen und bedauert, dass dem Brenner eine Breitenwirkung von der Art Péguys versagt geblieben ist.)19 In den dreißiger Jahren war Marcel überdies überzeugter Monarchist. Trotzdem wurde er nach der Befreiung entgegen den Einwänden Aragons in den Organismus aufgenommen, der sich mit der „Säuberung“ (épuration) der der Kollaboration verdächtigten Intellektuellen befasste. In diesem Kontext, in dem kaum von Literatur die Rede war – sieht man von einer Bemerkung über Kafka in der Auseinandersetzung mit Camus’ Mythos des Sisyphus ab –, wirken die zwei Vorträge über Rilke als Zeuge der Spiritualität aus dem Jahre 1944 auf den ersten Blick wie Fremdkörper. Im Vorwort zur Neuausgabe von 1963 hat sie Marcel so gerechtfertigt: es gehe ihm im Gegensatz etwa zum Gigantismus der „Religion der Technik“ um das Weiterbestehen des „authentisch Sakralen“, das ohne Bindung an „eine übermenschliche Ordnung“ und ohne Hoffnung nicht denkbar ist. Zu diesen ewigen sakralen Werten gehört auch der „Orphismus, den zu verkennen, nicht ungestraft bleiben kann...“ In einer Ruinenlandschaft sammeln sich dem menschlichen Räsonnement und Irrsinn kaum wahrnehmbar die Gegenkräfte:

Der gekoppelte Sinn von Tod und Auferstehung, der die Sonette an Orpheus wie ein Atem aus anderen Welten durchzieht, ist im Grunde eine Frömmigkeit gegenüber den Seelen und Dingen, deren Geheimnis wir meiner Meinung nach heute wiederentdecken müssen. Das Echo dieser Frömmigkeit möchte ich hörbar machen in einer Zeit der Verallgemeinerung des Sakrilegs, in der die stärksten Geister Frankreichs seit zwanzig Jahren sich in der Tat vorzustellen scheinen, dass die Blasphemie […] der Eckstein einer Philosophie und einer Politik werden könne. Verderbliche Illusion, die nicht nur der Glaube, sondern vor allem das Denken unermüdlich auflösen müssen.20

Der „Entzauberung der Welt“ durch die technische und wissenschaftliche Rationalität wird die Hoffnung auf eine Sakralisierung entgegengesetzt. Ein unerschöpfliches europäisches Thema seit der Aufklärung. Welche Rolle spielen Rilke und Heidegger für Marcel in diesem Prozess?

Gabriel Marcel ist noch von Angelloz’ Behauptung überzeugt, „der Philosoph Heidegger habe, als er die Elegien kennenlernte, behauptet, Rilke habe in poetischer Sprache dieselben Ideen ausgedrückt wie er in seinem großen Werk ‚Sein und Zeit‘“.21 Marcel ist skeptisch, zieht aber eine Parallele zwischen Heideggers Kritik des alltäglichen Geredes und dem Anspruch des Dichters, durch sein Sagen die wahre Existenz der Dinge zu garantieren. Er fügt aber, darin durchaus dem Geist seiner Komödie folgend, hinzu, dass Heidegger unfähig sei, zwischen einem guten und einem schlechten Alltäglichen zu unterscheiden. Doch der entscheidende Unterschied liegt für ihn in der Auffassung des Todes. Er zitiert auf Deutsch Heideggers „Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst“ und grenzt es scharf gegen Rilkes „Doppelbereich“, also die Ununterscheidbarkeit von Tod und Leben ab, in der er eine Variante des christlichen Jenseits zu sehen vermeint. Er gesteht zu, dass er sich damit im Reich des reinen Mythos bewegt, der für ihn jedoch erfahrungsgesättigt ist. Und er stellt die Frage, die unentwegt an Rilkes Dichtung gestellt wurde und weiterhin wird: Handelt es sich um artistische Exerzitien im Geist des l’art pour l’art (Mallarmé, Valéry) oder gar um bloße Hirngespinste (Gefasel)? Marcel hält dieser Deutung Rilkes Selbstauslegungen in seinen Briefen entgegen und betont die „paränetische Tragweite“ der Dichtung. Anders gesagt: Er liest Rilkes Dichtung als Zuspruch und Ermahnung religiöser Natur. Ohne zu ahnen, was Heidegger in dieser Zeit (1942/1943) wirklich von Rilke denkt, kommt er – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen – zu einem vergleichbaren Schluss: Heidegger hat den Begriff des „Offenen“ (aletheia/Unverborgenheit bei ihm) als das „tief unwahre Wort“ bezeichnet, das das „völlige Gegenteil“ seines eigenen Denkens darstelle. Es geht dabei im Wesentlichen um folgende Verse aus der 8. Elegie: „Mit allen Augen sieht die Kreatur / das Offene […] das freie Tier hat seinen Untergang stets hinter sich und vor sich Gott, und wenn es geht, so geht’s in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen“ (Vers 1–13). Die Anklage lautet: „verunglücktes Christentum“, vor allem aber „biologische Metaphysik“, „völlige Seinsvergessenheit, die der Psychoanalyse zugrunde liegt“, „Nietzsche und Schopenhauer“. Rilke leugne die einzigartige Position des geschichtlichen Menschen, vermenschliche Tier und Pflanze und vertiere den Menschen.22 Erstaunlich ist folgende Parallele: Marcel schlägt vor, den schwer übersetzbaren Begriff des „Offenen“ durch „le large“, d.h. das offene Meer zu ersetzten.23 Heidegger kommt ebenfalls zum Vergleich mit dem „offenen Meer“: „Das Grenzenlose im Ganzen lässt sich nach einer ungefähren Art zu reden auch ‚Gott‘ nennen.“ (Was Rilke unter Gott oder Göttern versteht, ist eher eine poetische als eine theologische Frage). Heidegger fährt fort: „So fällt in dieser Elegie das Wort: ‚das freie Tier / hat seinen Untergang stets hinter sich / und vor sich Gott, und wenn es geht, so geht’s / in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.‘“ Marcel hat die negative Möglichkeit ins Auge gefasst, es könne sich um „Gefasel“ handeln. Heidegger ist kategorisch: „Das klingt alles sehr befremdlich und ist doch nur eine dichterische Gestaltung der biologischen Popularmetaphysik des ausgehenden 19. Jahrhunderts“.24 Ein philosophisches Volkslied? (Nach 1945 hat er seine Meinung radikal geändert).

Der Großteil von Marcels Auseinandersetzung mit dem Dichter bleibt ohne Bezug auf Heidegger und beschränkt sich auf ein weitgehend chronologisch geordnetes „direktes“ Gespräch mit den Gedichten Rilkes, seinen Tagebüchern und Briefen, soweit sie 1944 zugänglich waren. Leider sind ihm die Christus-Visionen unbekannt gewesen, erst recht aber Lou Andreas-Salomés Essay Jesus der Jude und Rilkes Reaktion darauf. Michael Georg Conrad, dem Rilke einige Visionen gezeigt hatte, empfahl ihm die Lektüre des Essays, der 1896 in der Neuen Rundschau erschienen war. Rilke war fasziniert. Hier seine Reaktion, mit der übrigens die Liebesbeziehung einsetzt: „und endlich wars wie ein Jubel in mir, das, was meine Traumepen in Visionen geben, mit der gigantischen Wucht einer heiligen Überzeugung so meisterhaft ausgesprochen zu finden. […] durch die schonungslose Kraft Ihrer Worte empfing mein Werk in meinem Gefühl eine Weihe, eine Sanktion.“25

Der kurze, sicher von Nietzsche beeinflusste Text beginnt mit der Feststellung, dass jede Religion Menschenwerk sei, jeder Gott eine historische Konstruktion. Die große Frage ist, warum dieses Menschenwerk über seinen Schöpfer hinauswachsen und ihn sich unterwerfen konnte. Jesus wird zunächst als ein von Gott verlassener jüdischer Prophet gesehen, der einsehen muss, dass Gott seinen Vertrag mit dem jüdischen Volk nicht einhält und der darum elend scheitert. Doch dieser gescheiterte Jude trifft auf die vom Griechentum vorbereitete Jenseitssehnsucht und wird darum zum Schöpfer einer neuen Weltreligion. In den Christus-Visionen, in denen er völlig vermenschlicht ist (z.B. in der erotischen Beziehung zu Maria Magdalena), findet sich die Szene „Judenfriedhof “. Jesus, „der arme Jude, nicht der Erlöser“, besucht das Grab des Rabbi Löw und rechnet mit seinem „greisen Gott Jehovah“ ab, der ihn missbraucht habe. Die Abrechnung geht bis zur Leugnung des Vaters: „das große ‚Er‘“ existiert nicht, der Himmel ist „leer“: „So warst du niemals – oder warst nicht mehr“.26 In den Neuen Gedichten radikalisierte Rilke im Gedicht Der Ölbaumgarten dieses Bekenntnis: „Ich bin allein mit aller Menschen Gram, / den ich durch Dich zu lindern unternahm, / der Du nicht bist. O namenlose Scham… / Später erzählte man: ein Engel kam –.“27 Damit wird nach dem alttestamentarischen greisen Gott auch das Euangelion geleugnet.

Für Marcel ist begreiflicherweise Ausgangspunkt seiner Reflexionen das Stundenbuch, und sofort wehrt er sich gegen die literarische Deutung, dass der werdende, von den Werkleuten geschaffene Gott ein Symbol für das zu vollendende Kunstwerk sei. Immerhin hat Rilke sehr früh und sehr konsequent „Gott das älteste und reparaturbedürftigste Kunstwerk“ genannt. Doch Marcel nimmt den Gott des Stundenbuchs ernst, denn er anerkennt den Sockel des Russlanderlebnisses als authentisch „erfahren“, ebenso die Figur des Heiligen Franziskus im Buch von der Armut und vom Tode. Die Abwehr der pur ästhetischen Deutung von Rilkes Dichtung beruht für Marcel auf „großartigen, nahezu unerforschlichen Grundlagen“.28 Er ist sich aber auch bewusst, dass Rilkes Tendenz zur Grenzüberschreitung etwas „Unbegrenztes, ja Unbestimmtes und eben dadurch Ambivalentes“ an sich habe. Doch stimmt er voll und ganz mit Rilkes Formel überein, die Hans Urs von Balthasar zum Zentrum seines Kapitels über Rilke und Heidegger gemacht hatte, nämlich: „Gott und Tod waren nun draußen, waren das Andere“, und als Konsequenz daraus „beschleunigte sich der kleinere Kreislauf des nur Hiesigen immer mehr, der sogenannte Fortschritt wurde zum Ereignis einer in sich befangenen Welt, die vergaß, daß sie, wie sie sich auch anstellte, durch den Tod und durch Gott von vorneherein und endgültig übertroffen war.“29 Im Stundenbuch holte der Dichter Gott und Tod zurück in die Dichtung. Wie „ambivalent“ es aber dabei zuging, mögen drei radikal divergierende Interpretationen zeigen: die nihilistische Variante Paul de Mans, der in diesen Gedichten nichts sieht als euphonischen Logozentrismus ohne Inhalt, die nazistische Verirrung, hier den deutschen Gott beschworen zu sehen, schließlich den konservativen Aufruf zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Arthur Adamows „Adaptation“ von 1941, in der die priesterliche, soldatische und künstlerische Existenz verherrlicht werden. Im Grunde ist in der Tat fast jede Lektüre inklusive der erotischen (Lou als Gottheit) möglich. Diese Indetermination, die jeder dogmatischen Festlegung entgehen will, hat beim katholischen Interpreten die logische Folge, überall bei Rilke nach Zeichen zu suchen, die seine Dichtung doch noch als Vorhof zum Christentum erscheinen lassen. Und das trotz Rilkes wiederholten extrem heftigen Angriffen auf Christus als Vermittler und trotz der systematischen Bejahung des Hiesigen und seiner sakralsten Form, der Sexualität. Marcel behandelt, obwohl er sich dieser Diesseitsbejahung bewusst ist, die Dichtung als Erfahrung der Transzendenz, von der es nur ein Schritt zum Glauben sei. Auch in diesem Punkt trifft er sich mit Heidegger, der in der poetischen Sakralisierung säkularisiertes, „verunglücktes Christentum“ sah, das gewissermaßen einer therapeutischen Sorge bedürfe, sogar gegen Rilkes bewusste Bekenntnisse gerichtet.

Marcel weiß, dass die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus für seine religiöse Hinterfragung Rilkes bedeutender sind als die Neuen Gedichte oder der Malte-Roman. Lou Andreas-Salomé hat Rilke nach der Abfassung der ersten beiden Elegien darauf hingewiesen, dass die frühen Christus-Visionen und die Elegien denselben religiösen Ur-Grund hatten. (Rilke hat sich nicht gescheut, den Entstehungsort Duino als „mein Patmos“ zu bezeichnen.) In den Sonetten an Orpheus sah Marcel, wie schon erwähnt, hohe Zeugnisse für die Existenz des „Geistes“, der Spiritualität, und im singenden Haupt des getöteten Orpheus eine symbolische Parallele zu Christi Tod und Auferstehung. Es ist hier daran zu erinnern, dass die Vorträge im Jänner und Februar 1944 gehalten wurden und Marcel sich gezwungen sah, Rilkes Dichtung wenigstens indirekt auf die geschichtliche Situation zu beziehen, d.h. auf ein Europa, das eine einzige Wunde geworden war. Der „verlorene Gott“, der durch die reißende Feindschaft „verteilte Gott“ ist zwar für ein christliches Verständnis nichts weiter als das mythologische und deformierende Spiegelbild einer authentischen sakralen Wahrheit, doch, sagt Marcel, „es scheint mir, dass dieses Bild eines zerstreuten Gottes für uns Franzosen und Europäer von 1944 die erschütterndste Bedeutung hat: das Schauspiel einer aus den Fugen geratenen Welt fordert uns auf, das Menschliche und Göttliche wieder zusammenzufügen.“30 Auf Rilkes Erfahrung dieser Zerreißung durch den Ersten Weltkrieg, die sich im Zweiten gesteigert wiederholte, antwortet Marcel mit der heilsgeschichtlichen Hoffnung auf Verwandlung, auf eine nicht nietzscheanische „Morgenröte“ für den Homo Viator.

Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945

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