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Vorwort: Wegmarken der evidenzbasierten und reflektierten logopädischen Praxis

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Logopädisches Handeln ist so komplex wie vielfältig. Anforderungen an die Kompetenzen von Logopädinnen und Logopäden entwickeln sich mit den durchgreifenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen stetig weiter, sei es bspw. durch die Veränderung der Altersstruktur, durch die Digitalisierung, ein erweitertes Verständnis von Gesundheit und Krankheit oder auch höhere Ansprüche an Qualität und Wirtschaftlichkeit. Um dieser Komplexität und Dynamik fachlich gerecht werden zu können, bedarf es eines akademisch fundierten und in reflektierter Praxis gründenden systematischen logopädischen Handlungswissens.

Oft wird im Rahmen von Systematisierungen des therapeutischen Handelns das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher begründeter Theorie und praktischem Behandlungsprozess noch als ein Gegenüber mit einer dazwischenliegenden Distanz konzipiert, die es zu »überbrücken« gilt. So wird aus der akademischen Perspektive heraus bspw. häufig noch die »Theorieferne« der logopädischen Versorgungspraxis moniert. Diese Sichtweise ist zwar einerseits richtig. Theoriebildung, Evidenzbasierung und Forschung der Logopädie sind – zumal im deutschsprachigen Raum – nach wie vor stark unterrepräsentiert und müssen im Zuge von Professionalisierung und Akademisierung weiter vorangetrieben werden.

Dies darf aber andererseits nicht zu einer Entfernung oder gar Entfremdung zwischen der Logopädie als angewandter Gesundheitswissenschaft und der gelebten Versorgungspraxis führen. Denn der umgekehrte Vorwurf der »Praxisferne« akademischer Logopädie darf durchaus auch in den Raum gestellt werden, wenn sich die Logopädie als Wissenschaft – oft aus einem vermeintlichen Legitimationsdruck gegenüber der klassischen Medizin heraus – noch zu sehr an den sog. Goldstandards der Evidenzbasierten Medizin (EBM) und ihren Evidenzhierarchien ausrichtet. Wobei der Begriff »Hierarchie« in der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen medizinischen und anderen Gesundheitsberufen übrigens immer durchaus eine gewisse Konnotation hat – aber dies nur en passant.

Theorie und Praxis werden im vorliegenden Band ausdrücklich nicht dichotom verstanden. Wie im weiteren Verlauf zu sehen sein wird, stehen sie sich im konkreten Behandlungsprozess nicht voneinander getrennt gegenüber, sondern sind vielmehr die zwei Seiten ein und derselben Medaille. In der Fallarbeit müssen das theoretisch begründete Fachwissen (also die externe Evidenz) und die aus therapeutischer Erfahrung geschöpfte reflektierte Praxis (also die interne Evidenz) gleichwertig in einem »Handlungswissen« zueinander finden. Dieses Handlungswissen wiederum bildet den Kern einer Fallkompetenz, die es ermöglicht, jeder zu behandelnden Person mit ihren sowohl verallgemeinerbaren wie aber auch vor allem mit ihren einmaligen Charakteristiken zu begegnen. Dabei sind immer dort, wo die Fallarbeit im hermeneutischen Sinne gelingt, die biopsychosoziale Gesamtschau der Lebenswirklichkeit, das wissenschaftlich fundierte theoretische Wissen und die aus der praktischen Arbeit geschöpfte Erfahrung gleichwertige Elemente einer Evidenzbasierten Praxis (EBP). Logopädisches Handlungswissen bildet dabei den Kern der EBP.

Um nicht missverstanden zu werden, in forschungszentrierten und theoriebildenden Kontexten kann die Aufspaltung der Elemente der EBP in einerseits Theorie und andererseits Praxis sinnvoll oder sogar methodisch notwendig sein. Dort, wo es jedoch um die ganz konkrete reflektierte Fallarbeit und -kompetenz geht, ist eine solche Aufspaltung u. U. sogar hinderlich. Die Metapher von Theorie und Praxis als den zwei Seiten einer Medaille ließe sich insofern noch weiter fassen: Stellen wir uns den Prozess der gelingenden EBP als eine Art Möbiusband vor, dessen zwei Seiten im Verlauf ineinander übergehen. Im Rahmen der Fallorientierung wären Theorie und Praxis dann eben diese zwei Seiten, die im Behandlungsverlauf häufig kaum voneinander zu differenzieren sind.

Das Bild vom Möbiusband soll die Komplexität der hermeneutischen Fallorientierung und ihre Bedeutung betonen. Diese Relevanz der Einzelfallorientierung wird auch in der angewandten Gesundheitsforschung immer deutlicher, wenn in Kritik und Erweiterung der tradierten EBM Evidenzhierarchien abgeflacht werden und u. a. einer methodisch ausgereiften Einzelfallforschung mehr Gewicht gegeben wird. Auch in der Forschung finden akademische Theorie/-bildung und kritisch reflektierte Praxis – ganz im Sinne der EBP – somit immer enger zueinander.

Durch die grundlegende Systematisierung von Handlungswissen, einschließlich der darauf bezogenen Beispiele aus der Versorgungspraxis, legen die vorliegenden Beiträge ihre jeweils eigenen Wegmarken zu einer originären logopädischen EBP. Den weiteren Weg dorthin können die Logopädie als angewandte Gesundheitswissenschaft und die kritisch reflektierte Versorgungspraxis nur gemeinsam gehen.

Sascha Sommer

Systematische Fallarbeit in der Logopädie

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