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Der optimierte Mensch – ein Gespräch

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Michael Köhlmeier:

Der Eine, der Ewige – Gott – stand auf seiner Erde und zog einen Kreis um sich, so weit sein Auge reichte. Im Umkreis eines Blickfeldes, dort sollte der Garten Eden sein, das Paradies. Wissen Sie, parallel zur Bibel gibt es sehr viele Geschichten, die sind zur gleichen Zeit entstanden wie die Bibel und sind in diese nicht aufgenommen worden. Sie sind teilweise vor der Bibel entstanden, sie sind teilweise erst viel später dazu erzählt worden – vielleicht auch um Widersprüche zu erklären, zum Beispiel einen Widerspruch gleich am Anfang der Bibel, wo es heißt: Am ersten Tag schuf Gott das Licht, aber am dritten Tag erst die Sonne. Das war ein Widerspruch, das muss man erklären. Ich erzähle Ihnen etwas, was nicht unbedingt in der offiziellen Bibel steht, aber ihr dennoch folgt. Also am Anfang stand Gott da und er hat nicht die Erde erschaffen oder die ganze Welt erschaffen, sondern er hat das Chaos, das vor ihm war, geordnet – das Tohuwabohu oder wie Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzen: Irrsal und Wirrsal hat er geordnet. Aber er hat auch die Ambition gehabt etwas Eigenes zu schaffen, nämlich den Menschen. Für den wollte er eine Heimat und das wäre der Garten Eden gewesen, das Paradies. Und er stand da und hat diesen Garten geschaffen – wunderbar schön, aber es war dunkel. Es konnte ihn niemand sehen. Da hatte er seinen Liebling, seinen Vize, seinen Stellvertreter gebeten, diesen Garten Eden zu beleuchten: Helel ben Schachar, den Sohn der Morgenröte, oder die Lateiner sagen „derjenige der das Licht trägt“, der Lichtträger, nämlich eben Luzifer – Lux ist das Licht, fer tragen. Ihn hat er gebeten, er soll diesen Garten Eden beleuchten, damit man ihn sieht. Und Luzifer, Helel ben Schachar, stellt sich in die Fußstapfen Gottes, sendet sein Licht aus und sieht wie unglaublich schön das ist, was Gott geschaffen hat. Da hat ihn der Neid erfasst. Er hat an sich hinabgeblickt und hat gesehen, dass seine Füße nur um ganz klein wenig kleiner sind als die Fußstapfen Gottes. Dann hat er sich gedacht: „Wenn ich einen Überraschungsangriff starte, vielleicht gelingt es mir.“ Er hat ausgerufen: „Ich bin wie Gott!“ Und da stand dann ein anderer da mit einem Flammenschwert in der Hand und der hat gesagt: „Wer ist wie Gott?“ – ein Engel – und er hat sich damit selbst den Namen gegeben: Michael. Michael heißt „Wer ist wie Gott?“ Ich weiß das, ich hab’ viel mit meiner Mutter darüber diskutiert. Gott hat Michael den Befehl gegeben, „Helel ben Schachar“, den Luzifer, zu bestrafen. Michael hat mit ihm gerungen und hat ihn in die Hölle geworfen. Das heißt, erst durch den Fall des Luzifer ist die Hölle entstanden, aber bevor er gefallen ist, hat Luzifer sich noch am Himmel anklammern wollen und hat einen Fetzen vom lebendigen Himmel gerissen, mit hinunter in die Hölle. Das kann man auch sehen, das sieht man immer noch, in sternenklaren Nächten kann man das sehen. Das ist die Milchstraße, dieser Fetzen. Wie gesagt, das hat er mitgerissen in die Hölle und das garantiert ihm, dass er jederzeit – nicht für lange Zeit, immer nur so für sehr, sehr kurze (Wir wissen, wie’s in der Apokalypse des Johannes heißt: Der Teufel hat wenig Zeit und er weiß es.) – kann er aber ab und zu Gott besuchen, oben im Himmel, weil er dieses Pfand hat vom Himmel. Wie es beim „Faust“ heißt: „Ab und zu spricht er mit dem Alten gern.“ Weil hätt’ er das nicht mitgemacht, könnte man den Faust ... Wir hätten auch nicht das Buch Hiob. Das beginnt auch damit, dass der Teufel in den Himmel geht, um Gott zu sprechen.

Nun war’s wieder dunkel im Paradies und nun hat Gott eben die Sonne geschaffen. Damit ist auch dieser Widerspruch geklärt, verstehen Sie? Das wird ja damit geklärt. Da sind wir wieder eben. An Gottes Wort kann man nichts ändern, man muss das interpretieren und jetzt wissen wir, wie das war.

Nun ist Gott an die eigentliche Arbeit gegangen und wollte sein Geschöpf machen, den Adam. Er hat von der Erde genommen und von allen Stellen der Welt hat er Erde genommen, hat sie zusammengeknetet, hat drauf gespuckt ein bisschen, hat so rumgeknetet und so und dann ist der Adam gekommen. Gott hatte von Anfang an die Ambition, ein Geschöpf zu machen, das ist wie er. Nämlich nach seinem Ebenbild. Hat er gemacht. Und nun waren da die himmlischen Heerscharen. Es gibt auch wieder eine Erklärung, woher die kommen. Das werd’ ich Ihnen heute sparen. Nehmen Sie einfach an, so wie in der Bibel, die sind da, diese himmlischen Heerscharen. Und der Adam, der war fertig, war wie Gottes Ebenbild. Er hat genau gleich ausgesehen, wie er. Hat große Verwirrung gestiftet unter den himmlischen Heerscharen, weil die sich gedacht haben: „Ist da ein zweiter Gott entstanden? Ist da ein zweiter da?“ Und wie’s halt so üblich ist, ein Drittel der himmlischen Heerscharen hat sich gleich auf die Seite des neuen Gottes gehauen. Ein Drittel hat gesagt: „Nein wir bleiben tapfer beim alten Gott.“ Und ein Drittel – ich nehm’ an, das war ein bissl mehr als ein Drittel – hat sich gedacht: „Warten wir mal ab, was kommt.“ Und Michael, der inzwischen auch schon zum Berater Gottes avanciert ist, hat gesagt: „Du musst ihn ein bisschen ablehmen. Also nicht ‚ablehmen‘, weil aus Lehm, also ein bisschen kleiner machen, ein bisschen hässlicher musst du ihn machen.“ Damit der Unterschied klar ist – Gottes Ebenbild – ich mein’, das wissen wir selber auch, wenn wir am Morgen in den Spiegel schauen – wir wissen, wir sind Gottes Ebenbild, und da kommen uns manchmal Zweifel. Aber Sie müssen das so sehen: In homöopathischer Form sind wir Gottes Ebenbild.

Also ich erzähl’ Ihnen eine kurze Geschichte. Nur damit Sie das auch verstehen. Ich muss so anfangen: Wer war die schönste Frau des Altertums? Also Sie wissen ja aus dem Homer, die schönste Frau des Altertums war die Helena. Für sie ist ein großer Krieg geführt worden, der trojanische Krieg – für diese Frau, für diese unglaubliche Schönheit. Jetzt haben Männer, das waren nur Männer, die sich darüber Gedanken gemacht haben über diese Schönheit der Frauen, die haben rausgekriegt, dass sich die Helena zur Sara, also der Frau des Abraham, verhalten hat, wie zu – also die Helena war im Vergleich zu Sara ein Äffchen, also so viel schöner war die Sara im Vergleich zur Helena. Und als die Sara 100 Jahre alt war, ist der Pharao noch fast verrückt geworden vor Begehren und vor Liebe in diese Sara. Sie können sich vorstellen, wie schön die war, aber im Vergleich zur Eva hat die Sara ausgesehen wie ein Äffchen. Und jetzt, jetzt sag ich was, das kommt nicht von mir, ich würd’ mich da vollkommen raushalten. Im Vergleich zu Adam hat Eva ausgesehen wie ein Äffchen. Und im Vergleich zu Gott hat Adam ausgesehen wie ein Äffchen. So sehen sie also ungefähr die Abstufung, homöopathisch gesehen sind wir also noch das Ebenbild Gottes.

Gott hat also den Adam ein bisschen hässlicher gemacht, kleiner gemacht, damit er unterscheidbar ist von ihm selbst. Und für ihn hat er eben diesen Garten Eden gebaut gehabt und dann hat er, als dann Adam in der vorläufigen Form fertig war, das heißt, er hat ihn eigentlich deoptimiert, wenn ich jetzt auf unser Tagesthema komme. Er hat ihn deoptimiert, den Adam, und er hat zu den himmlischen Heerscharen gesagt: „So nun kniet euch nieder vor dem Adam und erweist ihm Reverenz. Er ist also mein Ebenbild und jetzt kniet euch nieder.“ Die Engel haben geschaut, was machen die Offiziere? Also die Erzengel, die haben genickt und dann haben sie sich niedergekniet – bis auf einen. Samael, der hat gesagt: „Ja, du hast schon mehr oder weniger immer rumgemacht, vielleicht ist der immer noch nicht ganz fertig, vielleicht gibt’s noch Korrekturbedarf. Wollen wir nicht abwarten, bis er endgültig ist?“ Und Gott hat zu ihm gesagt: „Was willst du?“ Und Samael hat gesagt: „Ja schau, ich bin aus Licht gemacht, aus Ewigkeit und er ist aus Dreck gemacht, aus Lehm, aus Dreck.“ „Also gut, was willst du?“ „Ja, ich werde mich niederknien, wenn er besser ist als ich, wenn er mehr weiß als ich.“ Und Gott sagt: „Gut, dann wollen wir das doch testen. Ich hab schon die Tiere erschaffen und ich allein weiß, wie die Tiere heißen. Und jetzt machen wir es so: Ich führ’ euch drei Tiere vor, dir, Adam und dir, Samael. Und wer von euch die Namen der Tiere weiß, da können wir es dann testen, wer klüger ist. Und du, Samael, wenn du unterliegst, brauchst du dich nicht hinzuknien vor Adam, weil dann folgst du dem Luzifer, dem Helel ben Schachar, nach in die Hölle.“ Da hat sich der Samael wahrscheinlich schon gedacht: „Ich hab’ mich zu weit hinausgelehnt.“ Aber man konnt’s nicht mehr rückgängig machen.

Und Gott führt das erste Tier vor, das ist so ein kleines Tier, das hoppelt so daher. Hat zwei lange Ohren, hat so einen buschigen kleinen Schwanz und es ist da und er wendet sich an den Samael: „Sag also Samael, was ist der Name dieses Tieres?“ Und der Samael, ganz Rationalist, zählt in einer hurtigen Geschwindigkeit alle Haare dieses Tieres zusammen, dividiert sie durch die Anzahl der Beine, durch die Anzahl der Augen und so weiter, und muss am Schluss sagen: „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie der Name dieses Tieres ist.“ „Gut, schau Adam“, sagt Gott. „Schau her, da ist dieses Tier. Siehst du, es ist so klein, hoppelt so daher, hat einen buschigen Schwanz, zwei lange Ohren. Adam, HASt du eine Ahnung, wie das Tier heißen könnte?“ Und der Adam sagt: „Es ist der HASe.“

„Ja“, sagt Gott. „Siehst du Samael. Haben wir noch zwei Tiere übrig.“ Das andere Tier ist ein Vogel eigentlich. Ein weißer Vogel, der schwimmt aber auf dem Wasser. Hat so einen langen Hals und so schön geschwungen, wie eine Zwei sieht der aus. Wieder berechnet der Samael und wieder weiß er’s nicht. Er sagt: „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht.“ „Gut“, sagt Gott, „Komm her!“ zu Adam. „Schau her, schau dir’s an, ja dann SCHWANt dir vielleicht, wie das Tier heißen könnte.“ Und Adam sagt: „Es ist der SCHWAN.“

Ja, und als nächstes kommt ein ganz winzig kleines Tier, das fliegt so und so und fliegt so hin und her. Dann fragt Gott wieder den Samael und der Samael weiß es nicht und Gott sagt zu Adam: „Adam, BIN ich zurecht der Meinung, dass du auch weißt, wie dieses Tier heißt?“ Und er sagt: „Es ist die BIENe.“

Na ja gut, nun wird Samael von Michael vor die Pforten des Paradieses geführt und Michael will ihn hinabstürzen in die Hölle und der Samael sagt: „Du hast doch gemerkt, er hat uns, er hat mich reingelegt. Wie soll das weitergehen? Wenn wir drei uns zusammentun, du Michael, Helel ben Schachar-Luzifer und ich, Samael – ein Triumvirat. Vielleicht ist das alles viel besser?“ Aber der Michael lässt sich nicht bestechen und stürzt den Samael in die Hölle hinab und Samael ist zu klein um in den Himmel zu greifen. Aber er greift zu den Flügeln des Michael und reißt ihm eine Feder aus. Das ermöglicht es dem Samael, jederzeit, wenn er will, auf die Erde zu kommen. In den Himmel nicht, er schafft es nicht, aber auf die Erde zu kommen – zu unserem Unglück, das dürfen wir nicht vergessen. So und nun, nun ist es also so weit, sind da die Widersprüche gelöst. So, wir sehen auch bei den himmlischen Heerscharen ist das nicht so unproblematisch. Und Gott sagt zu Adam: „Hör zu Adam, weil du schon angefangen hast den Tieren die Namen zu geben, dann führ’ das Werk zu Ende, benenn’ die Tiere.“ Ja, und der Adam sitzt da und benennt die Tiere: „Du bist der Hecht und du bist der Hirschkäfer und du bist der Specht.“ So geht das hin und her, ganz unsystematisch geht das hin und her. Und es dauert lang, mein Gott, das dauert lang. Es gibt so viele Tiere, das ist unbeschreiblich. Mein ältester Sohn ist Zoologe, was der mir erzählt, was es für Tiere gibt, von denen Sie gar keine Ahnung haben. Der Adam hat’s natürlich gewusst, er musste jedem einen Namen geben. Das geht so dahin und irgendwann kommt der Michael zum Gott und sagt: „Du, der ist nicht guter Stimmung. Der ist nicht gut gelaunt und schaut.“ Und der Adam, der sagt: „Es ist so langweilig und ich seh’ immer die Tiere kommen, immer zu zweit. Die sind immer zu zweit. Zwei Hirschkäfer, ein Hirschkäfer und eine Hirschkäferin, ein Hecht und eine Hechtin, einen Specht und eine Spechtin und die stehen in der unendlich langen Reihe an, denen ist aber nicht langweilig und dann sind sie irgendwann zu dritt. Ich möchte auch so eine haben.“ Gott sagt: „Nein, ich wollt’ dich einmalig erschaffen. Einmalig! Verstehst du, dass du etwas Einmaliges bist?“ „Ja, ich versteh’s“, sagt der Adam sehr schlecht gelaunt. Gott musste den Schlaf erfinden, damit er sich von seiner schlechten Laune erholt, der Adam. Und dann irgendwann einmal sagt der Michael: „Ich glaub du kommst nicht umhin, du musst ihm eine Frau geben.“ Wissen Sie, es gibt eine Menge von sogenannten Midraschim, das sind so Kommentare zur Bibel, die vor allem im Mittelalter geschrieben worden sind. Von Rabbinern, die halt so viele, viele Widersprüche erklären wollten und da gibt es Midraschim, in denen wird erzählt, dass es nicht nur eine Eva gegeben hat – wie in der Bibel – die aus der Rippe des Adam geschnitten worden ist, sondern, dass Gott mehrere Versuche gemacht hat. Es wird von der Lillith erzählt, die Vorläuferin von Eva. Eine Heilige aller Feministen, Feministinnen, Entschuldigung. Es wird auch von einer ersten Eva erzählt und dass unsere Eva, die wir kennen, eigentlich erst die zweite Eva ist. Ist eine weite Geschichte, aber irgendwann ist es Gott gelungen. Ich fand das ja immer so schön bei diesen Geschichten, dass auch er kein fertig Optimierter ist, also dass es auch er versucht hat. Er hat das das erste Mal gemacht. Man macht nicht jeden Tag eine Schöpfung, das passiert nur ein Mal. Dann hat er die Eva gemacht und dann, wo sie dann da ist – und Adam war sehr glücklich, dass er nicht mehr allein ist – da hat er die beiden durch den Garten Eden geführt. Sehr stolz. Wollte ihnen zeigen, wie schön das ist, was er für sie gemacht hat – das Paradies. So spiralenförmig von außen nach innen hat er sie geführt, weil der Höhepunkt war am Schluss: In der Mitte, genau in der Mitte, Sie erinnern sich daran, wo Gott gestanden ist, bisschen breitbeinig, wo Helel ben Schachar-Luzifer auch gestanden ist mit seinen Beinen. Aus diesen beiden Fußabdrücken ist ein Baum gewachsen. Ich hab’ mal so einen Baum gesehen, einen Olivenbaum, irgendwo in Italien und der hat unten zwei Stämme gehabt und so hat der ausgesehen, wie dieser Baum. Der ist da herausgewachsen. Und weil natürlich Gott das Prinzip des Guten ist und Luzifer das Prinzip des Bösen, war das dann eben der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Der ist gewachsen und Gott hat zu Adam und Eva gesagt: „Ihr dürft von allen Früchten des Gartens essen, nur von diesem nicht.“ Er hat ihnen keine Begründung genannt. Er hat ihnen nur gesagt, was folgen wird, wenn sie doch davon essen. „Solltet ihr doch davon essen, dann werdet ihr des Todes sterben.“ Und dann waren sie im Paradies so und das war schön so, mit den Tieren und so. Da war das Paradies. Das war immer gleich, jeden Tag, immer gleich. Sie sind spazieren gegangen, manchmal zusammen, manchmal getrennt. Die Eva, die hat’s immer hingezogen, zu dem Baum, die hat da geschaut und eines Tages war eine Schlange bei diesem Baum. Und diese Schlange – ich verrate es Ihnen – diese Schlange ist eben Samael, der mit Hilfe der Feder aus dem Flügel des Michael auf die Erde gekommen ist, sich aber in eine Schlange verwandelt hat, und die Schlange fragt die Eva: „Wie geht’s dir?“ Und die Eva die wusste mit der Frage nichts anzufangen. Weil ich meine, wenn ich Sie frage: „Wie geht’s dir?“ dann müssen Sie in der Lage sein, mindestens, wenigstens zwei Antworten als Möglichkeit zu haben, denn entweder es geht mir gut oder es geht mir schlecht. Nachdem es einem im Paradies aber nur gut gehen kann, ist diese Frage nicht verständlich für jemanden, der im Paradies wohnt. So hat die Schlange da die Eva in Gespräche verwickelt. Die war ganz verwirrt. „Warum isst du denn nicht von diesem Baum?“ Und Eva sagt: „Es ist verboten worden.“ „Ja warum denn?“ „Ja dann werden wir des Todes sterben.“ „Ja weißt du denn was der Tod ist?“ „Nein, das weiß ich nicht.“ „Du weißt es nicht? Vielleicht ist es überhaupt das Beste.“ Und er wickelt, also Samael, die Schlange, wickelt Eva in Widersprüche ein und schließlich kann sie nicht anders, sie greift und isst seine Frucht und Adam sieht das, hat dann auch Lust und greift auch zu und isst auch. Bald darauf hören sie die Schritte Gottes donnernd. Wumm. Sie verstecken sich und Gott ruft den Adam: „Wo bist du? Komm heraus.“ Adam will herauskommen, doch da sieht er, dass er nackt ist und hält sich da was vor seine Scham, tritt vor Gott und Gott sagt: „Was hast du da? Was tust du da? Was ist das da?“ Sagt er: „Weißt du, ich bedecke mich. Ich wollte nicht nackt vor dich hintreten.“ Und Gott sagt: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam?“

Gott hat nun gewusst, die Erkenntnis der Nacktheit kann nur erfolgen, weil er vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und da hat dann eben Gott wieder an Michael den Befehl gegeben – ich war mit meiner Mutter da in Konflikt, ich sag’s Ihnen ganz ehrlich. Ich hab gesagt: „Wieso hast du mich nach dem Rausschmeißer im Paradies genannt? Es hätte den Gabriel auch noch gegeben, wenn’s schon unbedingt ein Erzengel sein muss.“ Meine Mutter hat gesagt: „Das verstehst du dann, wenn du erwachsen bist.“ Ich hab’ dann vergessen, sie später zu fragen, als ich erwachsen war. Jedenfalls hat auch der Michael Adam und Eva aus dem Paradies hinausgeführt. Und draußen sind die Nächte kalt und die Tage sind heiß und Gott sagt zum Adam: „Du musst dein Brot im Schweiß deines Angesichtes essen.“ Und zu Eva sagt er: „Weil du das getan hast, musst du die Kinder in Schmerzen auf die Welt bringen.“ Das verstehen wir alles noch. Interessant ist, was er zur Schlange sagt. Er sagt zur Schlange: „Weil du die beiden verführt hast, sollst du von nun an im Staube kriechen.“ Haben Sie sich da nie gedacht, was hat die denn vorher getan? Also von nun an sollst du im Staube kriechen? Was war denn die vorher? Eben diese Frage haben sich auch die Rabbiner gestellt und da hab’ ich eine Stelle gefunden, wo ganz klar bewiesen wird: Die Schlange war vorher ein Kamel. Die war ein Kamel und Gott hat ihr die Beine abgeschnitten, hat ihr das Fell abgezogen, hat sie in die Länge gezogen, die Zunge genommen, auseinander gerissen, die Zunge gespalten und dann war sie eine Schlange. Anders ist das nicht zu erklären, die Frage. Ja, nun ist das Paradies zu Ende. Seitdem sind wir eben hier und nicht mehr im Paradies. Und nun bitte ich meinen Freund Konrad Paul Liessmann, sich die Gedanken drüber zu machen, die mir verwehrt sind, dass ich sie drüber mache, weil ich kann nur erzählen. Dankeschön!

Konrad Paul Liessmann:

Ja, meine Damen und Herren, ich nehme an, dass Michael Köhlmeier diese Geschichte ausgewählt hat – er hat’s an einer Stelle angedeutet – weil sie mit diesem Tagungsthema zu tun hat: Die Optimierung des Menschen. Bevor ich versuche, aus dieser Geschichte vom Paradies, von der Erschaffung des Menschen, einige Überlegungen zu diesem Tagungsthema anzustellen, erlauben Sie mir am Ende dieser Erzählung anzuknüpfen. Die Frage: Was hat die Schlange eigentlich vorher gemacht und wie hat die Schlange vorher ausgesehen? Das ist ja eine Frage, die man gerade an diese Schöpfungsgeschichte, an die Genesis, prinzipiell stellen kann. Ich weiß nicht, ob Sie sich schon einmal diese Frage gestellt haben. Köhlmeier begann ja mit „Irgendwann einmal kommt Gott auf die Idee, ich schaff’ jetzt ein Paradies oder ich schaff’ ein Ebenbild von mir“. Man könnte auch fragen: Was hat Gott eigentlich vorher gemacht? Hat er überhaupt was gemacht? Ja offensichtlich nicht, sonst gäb’s ja noch unzählige andere Welten, von denen wir nichts wissen. Der heilige Augustinus hat diese Frage gekannt. Was hat Gott gemacht bevor er das Paradies und die Erde, den Kosmos, geschaffen hat? Und er hat auch eine Antwort darauf gefunden. Er sagte: „Bevor Gott Himmel und Erde geschaffen hat, hat er die Hölle für diejenigen geschaffen, die solche Fragen stellen.“

Das führt uns aber gleich wieder zurück, zu einigen wirklich interessanten Überlegungen, die man im Anschluss an diese Geschichte stellen kann. Denn es geht ja in der Tat ganz stark um die Frage: Wer darf legitime Fragen stellen? Was heißt es überhaupt, Fragen zu stellen an Gott? Luzifer und Samael scheitern, weil sie unzulässige Fragen stellen. Ich möchte mich jetzt konzentrieren, im Zusammenhang mit unserem Tagungsthema, auf eine Frage, die sich aus diesem Thema ja ergibt und die uns zurückführt auf diese natürlich biblische mythische Geschichte, die uns ein bisschen auch versucht zu erklären, wie’s um uns bestellt ist. Wenn wir von der Optimierung des Menschen sprechen, fragen wir natürlich nach der Verbesserung des Menschen. Man muss sich da natürlich die Frage stellen: Warum wollen wir uns eigentlich verbessern? Die Antwort kann nur sein: Weil wir nicht gut genug sind. Oder weil wir die Möglichkeit haben, uns zu verbessern. Dann kann man sich fragen: Warum und in welcher Weise sind wir nicht gut genug? Und dieser Sündenfall, dieses Paradies, diese Schöpfungsgeschichte, gibt uns eine Antwort in welcher Weise wir nicht gut genug sind. Wenn wir uns diese Geschichte jetzt nochmal vergegenwärtigen und versuchen, aus der Geschichte heraus jene Punkte zu benennen, in denen wir uns Menschen als defizitär, als nicht gut genug empfinden, dann werden Sie sofort sehen, dass das genau dieselben Punkte sind, über die Sie heute und morgen noch diskutieren werden. Nämlich genau über jene Gesichtspunkte, über jene Momente, über Dimensionen an uns, von denen wir glauben, wir könnten uns eigentlich verbessern. Das fängt damit an und das ist eigentlich jetzt nicht der biblische Text, sondern eine apokryphe Tradition, die Michael Köhlmeier ausgegraben und entdeckt hat, vielleicht auch selber etwas dazu beigetragen hat. Das ist ja die Souveränität des Dichters, dass er sich nicht immer an beweisbare Fakten halten muss. Der Dichter ist praktisch das Existenz gewordene postfaktische Wesen, weil heute so viel von postfaktischen Zeiten die Rede ist. Aber er hat eben diese Tradition wieder aufleben lassen, dass Gott den Menschen ursprünglich als wirklich Perfektes, als zweiten Gott geschaffen hat – praktisch wirklich als optimales Wesen – und dann von Michael darauf aufmerksam gemacht worden ist: Das geht nicht. Das kann nicht sein. Das führt zu Verwirrung. Da wirst du selbst in Frage gestellt werden. Mach ihn ein bisschen kleiner.

Es scheint so zu sein, als wüssten wir das intuitiv, dass uns jemand kleiner gemacht hat und dass wir eigentlich größer sein könnten. Dieser Satz, den auch Luzifer sagt „Eigentlich wäre ich wie Gott“ oder „Ich könnte sein wie Gott“, dieser Satz steckt sozusagen als Anspruch und als Frage immer schon ein bisschen in uns. Und das mag vielleicht sein, dass auch Adam und Eva im Paradies – bevor noch die Schlange mit ihrem Verführungswerk begonnen hat – allmählich auf diesen Gedanken gekommen sind. „Wir sind ein Ebenbild Gottes. Wir sind so nah. Uns unterscheidet nicht sehr viel.“ Gerade dieses Wenige, was Gott den Menschen kleiner gemacht hat, schwächer gemacht hat, unansehnlicher gemacht hat. Wenn wir nur ein bisschen an uns arbeiten würden, dann könnten wir doch werden wie Gott. Das heißt also, diese „Gottebenbildlichkeit“ ist nicht nur, wie das die Theologen interpretieren, der Auftrag des Menschen alles zu tun um gleichsam den Willen, die Gebote, die Gesetze Gottes zu erfüllen und ein gottgefälliges Leben zu führen, sondern da steckt auch ein Stachel drinnen. Wenn schon Ebenbild Gottes, warum nicht gleich ganz ein Gott sein? Und ich glaube, dass man mit guten Gründen sagen kann, dass eine ganze Reihe von wissenschaftlichen und technischen Anstrengungen natürlich darauf abzielt, diese Differenz zwischen Gott und seinem Geschöpf wieder auszugleichen. Auf der anderen Seite darf ich aber auch an der Stelle daran erinnern, dass wir auch in dem Sinne begonnen haben, Ebenbild Gottes zu werden oder uns Gott anzunähern, dass wir selber in den Status von einem schaffenden Gott getreten sind. Wir machen jetzt auch unsere eigenen Geschöpfe, die so sein sollen wie wir. Denken Sie an künstliche Intelligenzen, denken Sie an Roboter, denken Sie an hyperintelligente Algorithmen, die alles das können sollen und vielleicht besser können werden als wir es können, Autofahren zum Beispiel. Das ist heute in den Nachrichten zu hören gewesen, dass in Bälde, also im nächsten Jahr auf einigen österreichischen Autobahnen Versuchsstrecken eingerichtet werden für autonom fahrende Automobile. Sollten Sie also demnächst auf der Südautobahn einem Auto begegnen, in dem niemand mehr sitzt, erschrecken Sie nicht, das ist keine Geisterscheinung, sondern das ist tatsächlich eine technische Intelligenz, die hier autofährt und vielleicht besser autofährt als Sie. Sie werden sich natürlich irgendwann fragen müssen: Was tue ich dann eigentlich hier? So wie Gott von Michael plötzlich vor die Frage gestellt wurde: „Du, wenn du jemanden erschaffst, der zumindest genauso gut ist wie du, vielleicht sogar besser ist als du, was tust du dann eigentlich noch da? Eigentlich wäre es Zeit abzutreten.“ Und deshalb sollte man vielleicht diese Geschichte uns auch als Warnung gelten lassen, wenn wir schon etwas schaffen, was ähnlich ist wie wir – ähnlich intelligent, ähnlich dynamisch, ähnlich flexibel, ähnlich kreativ – sollten wir vielleicht nicht doch darauf achten, dass das immer ein bisschen kleiner ist als wir? Ein bisschen weniger intelligent, ein bisschen nicht ganz so wie wir? Denn ansonsten werden wir uns in Bälde die Frage stellen müssen: „Was tun wir eigentlich noch hier?“ Erste Lehre aus dieser Schöpfungsgeschichte.

Zweite Lehre: In welcher Hinsicht sind wir defizitär? Denn Adam und Eva im Paradies waren ja nahezu vollkommen. Sie hatten zumindest einige dieser Probleme, die wir haben, noch nicht. Diese Probleme haben sie bekommen dadurch, dass sie vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen gegessen haben. Ich frage mich jetzt nicht, was das bedeutet, in einer philosophischen oder theologischen Interpretation, sondern ich frage mich, was es bedeutet im Hinblick auf das Thema dieser Tagung. Denn durch dieses Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sind drei Dinge in das Leben dieser Menschen getreten, die uns bis heute beschäftigen und die die Grundlage dafür sind, warum wir überhaupt solche Optimierungs- und Perfektionierungskonzepte entwickelt haben.

Erster Grund: Sie essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen und das bedeutet natürlich – und deshalb sofort diese Reaktion von Adam: „Ich bin nackt! Ich erkenne mich plötzlich so, wie ich mich vorher nie gesehen habe. Ich sehe, ich bin ein Naturwesen. Ich sehe, ich habe einen Körper. Ich sehe, ich habe ein Geschlecht. Ich sehe, ich habe ein Begehren. Ich sehe, ich bin ein Tier und das will ich verbergen. Das soll nicht sein. Jetzt bedecke ich meine Blöße.“ Das heißt, wir haben tatsächlich durch das Essen dieser verbotenen Frucht natürlich ein Erkenntnisvermögen gewonnen, ein Erkenntnisvermögen, das dazu führt, dass wir jetzt in der Tat Dinge wissen, die die paradiesischen Bewohner nicht gewusst haben. Dass wir unterscheiden können zwischen Gut und Böse, ohne dass wir immer wüssten, was das Gute und das Böse ist, aber diese Differenz von Gut und Böse ist uns plötzlich klar. Das heißt, wir können erkennen, wir haben ein Wissen, wir haben dadurch ein Selbstbewusstsein gewonnen. Ja, wir sind in dieser Hinsicht tatsächlich geworden wie Gott. Denn vorher wusste nur Gott um diese Differenz des Guten und des Bösen. Allerdings nur in dieser Hinsicht. Denn in einer anderen Hinsicht haben wir alles verloren, was uns im Paradies ausgezeichnet hat, vor allem das ewige Leben. Denn die Strafe für das Essen vom Baum der Erkenntnis war natürlich der Tod. Und Michael Köhlmeier hat’s ja schön erzählt: Die Schlange konnte Eva verführen, weil im Paradies wird ja bekanntlich nicht gestorben, weil sonst wär’s kein Paradies. Das heißt, diese Drohung von Gott „Ihr werdet des Todes sterben“ in der Luther-Übersetzung musste irgendwie eine Irritation hervorrufen, aber keine wirkliche Betroffenheit. Ungefähr so, wer einem Kind gegenüber ein Verbot ausspricht und sagt: Aber, wenn du dieses Verbot übertrittst, dann wird XYZ passieren. Das Kind weiß nur, es wird was passieren, aber es weiß nicht, was passieren wird. Und geben Sie es zu, es gibt nichts Verlockenderes, als ein Verbot zu übertreten, bei dem ich nicht genau weiß, was passieren wird, wenn ich es übertrete. XYZ könnte ja auch eine Belohnung sein. Probieren wir es halt, probieren wir es halt. Und sie haben’s probiert und mussten erst dann erfahren, was es heißt zu sterben. Und dieses Sterben, dieser Tod, diese Sterblichkeit – und wir sind ja die einzigen Wesen, soweit wir wissen, die wissen, dass sie sterblich sind und um ihren Tod wissen – ist natürlich die tiefste Kränkung, die der Mensch hinnehmen musste und seitdem bedeutet sich selbst optimieren wollen natürlich immer auch: Wie kann ich dieser Sterblichkeit entgehen? Und zwar nicht nur metaphorisch, sondern tatsächlich. Medizin bedeutet, medizinische Wissenschaft bedeutet letztendlich zuerst Heilen von Krankheiten, dann Lebensverbesserung, dann Lebensverlängerung und irgendwann einmal haben wir die Fantasie, die Unsterblichkeit zu erlangen. Damit Sie nicht glauben, dass das nur eine Utopie ist: Der Google-Konzern, der Ihnen allen bekannt ist, weil Sie sich tagtäglich als Angestellte dieses Google-Konzerns sozusagen betätigen oder erweisen – immer dann, wenn Sie einen Suchbefehl in Google eingeben arbeiten Sie für diesen Konzern. Der Google-Konzern hat in den letzten Jahren sozusagen eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Forschungsinstituten und Wissenschaftern eingekauft und aufgekauft, die sich mit dieser Frage „Wie ist die Sterblichkeit des Menschen medizinisch, technisch, genetisch zu bekämpfen und aufzuheben?“ beschäftigen. Wir arbeiten daran, sozusagen nicht nur in einem ersten Schritt die Lebensverlängerung auszudehnen, sondern diese Unsterblichkeit zu gewinnen. Ob uns das je gelingen wird, bleibe mal dahingestellt. Aber Sie merken, welche starke Kraft hinter dieser Vorstellung steht, wir müssen diesen Makel der Sterblichkeit, der uns aus dem Paradies mitgegeben wurde, durch die Vertreibung aus dem Paradies auferlegt wurde, wir müssen diesen Makel irgendwie bekämpfen und wegbringen. Wirkliche Menschenoptimierung heißt auch unsterblich zu werden.

Zweiter Makel durch diese Vertreibung: Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot verdienen. Der Mensch ist dazu verurteilt zu arbeiten. Und das ist nicht angenehm. Das ist furchtbar im Grunde. Das ist schlimm, denn es bedeutet: Nichts ist uns von Natur aus gegeben, alles müssen wir uns erarbeiten. Und dass wir im Schweiße unseres Angesichtes uns etwas erarbeiten müssen deutet an, es ist anstrengend, es tut weh, es verschafft Leid, es ist schmerzhaft. Deshalb könnte man sagen, Optimierung des Menschen bedeutet, immer so an sich zu arbeiten, dass wir nicht mehr arbeiten müssen. Die gesamte Wissenschaft und Technik und zwar nicht erst seit der Neuzeit, sondern seit Menschen begonnen haben der Natur technisch zu begegnen, Natur technisch zu bearbeiten, die Arbeit durch Technik zu erleichtern, seit der Erfindung des Rades, seit der Erfindung des Feuers, seit der Erfindung des Pfluges, seit der Zähmung der ersten Tiere als Arbeitstiere, die uns Arbeit abnehmen – seitdem arbeiten wir daran, uns von der Arbeit zu befreien und uns dadurch selbst zu verbessern, also uns zu optimieren. Man könnte sagen, dass alle großen Erfinder, alle großen Techniker, alle diejenigen Genies, die wir heute bewundern, die Dinge erfunden haben, die uns Arbeit abnehmen, von den ersten Menschen, die das Feuer gezähmt haben bis zu den Erfindern der Dampfmaschine, des Benzinmotors und des Computers, eigentlich nur Wesen gewesen waren, die eigentlich faul sein wollten. Denn wer nicht faul sein will, hätte ja selbst aufs Feld gehen können und aufgraben können und Samen einsetzen können. Wozu ein Pflug? Wozu ein Ochse, der davor gespannt wird? Wer nicht faul ist, kann ja tatsächlich von Wien nach Linz zu Fuß gehen. Warum eine Eisenbahn? Warum ein Automobil? Aus Bequemlichkeit, und Bequemlichkeit ist auch eine andere Form der Selbstoptimierung. Deswegen verspricht uns der moderne Techniker nichts anderes pausenlos als Bequemlichkeit. Nichts sonst. Wir kommunizieren auf keiner höheren Ebene miteinander als früher, als man Rauchzeichen und Brieftauben hatte. Die Botschaften sind dieselben geblieben. Dich liebe ich, dich mag ich nicht, du gehst mir auf die Nerven, du gehst mir nicht aus dem Sinn, komm herein, wie auch immer. Mit dem Smartphone geht’s einfach leichter. Es geht schneller. Es ist nicht so mühsam wie Brieftauben abzurichten, Boten auf den Weg zu schicken oder Rauchzeichen in die Welt zu senden.

Dritter Makel: Unter Schmerzen wirst du deine Kinder gebären. Jetzt sind wir natürlich bei der Reproduktionsmedizin. Die wird Sie an diesen Tagen noch sehr beschäftigen. Diese Schmerzen des Gebärens, diese Frage der Zufälligkeit: Was ist das für ein Kind, das jetzt auf die Welt kommt? Diese Ausgeliefertheit einem Schicksal, das ich nicht beeinflussen kann. Wie wird das Kind werden? Wird es gesund sein? Wird es nicht gesund sein? Wird es ein Knabe sein? Wird es ein Mädchen sein? Wird es groß sein? Wird es klein sein? Wird es intelligent sein? Wird es weniger intelligent sein? Alles das ist unter diesem „unter Schmerzen wirst du gebären“ versammelt, und optimieren und sich selbst optimieren heißt genau diesem dritten biblischen Fluch entgehen zu wollen, etwas entgegenzusetzen und das heißt zu erst mal dafür zu sorgen, dass dieses Gebären nicht mehr so schmerzhaft ist. Wir haben schon eine ganze Reihe medizinischer Strategien entwickelt, um diesen Schmerzen zu entgehen. Das zweite, was damit verbunden ist, Kontrolle zu gewinnen über diesen gesamten Prozess der Reproduktion von der Empfängnis bis zur Geburt. Extrauterine Fertilisation, Präimplantationsdiagnostik, schauen, ob das Wesen, das hier auf die Welt kommt, genetisch tatsächlich optimal ist. Der nächste Schritt wird sein, einige Eigenschaften bestimmen zu können. Es ist heute überhaupt kein Thema mehr, dass man festlegen kann, soll’s ein Bub oder ein Mädchen werden. Es wird bald kein Thema mehr sein, dass man die Körpergröße festlegen kann, die körperliche Konstitution festlegen kann, es wird in naher Zukunft kein Thema mehr sein, dass man Intelligenz und bestimmte Krankheitsresistenz des Kindes, des zukünftigen Kindes, festlegen kann. Und die letzte Konsequenz wird natürlich sein, sich selbst reproduzieren zu können, das heißt Menschen schaffen zu können, ohne überhaupt den Umweg über diesen schmerzhaften Prozess von Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt gehen zu müssen, das heißt, das Wesen, das im Labor gezeugt wird, in einer künstlichen Gebärmutter hochgezogen wird und dann genetisch optimiert in eine neue paradiesische Welt entlassen wird. Ob das tatsächlich, ob diese Technologie der Selbstoptimierung und der Optimierung tatsächlich bedeutet, den Weg ins Paradies gefunden zu haben, darüber könnte man sehr, sehr lange diskutieren. Aber diese Vorstellung, dass Technik, Automatisierung, Maschinisierung, Mechanisierung, eine Möglichkeit ist, ins Paradies zurückzukommen, diese Vorstellung ist schon älter als unsere aktuellen Optimierungskonzepte. Einige von Ihnen kennen vielleicht diese wunderbare Novelle von Heinrich von Kleist über das Marionettentheater, wo’s genau um diese Frage geht, letztendlich. Gibt’s einen Weg zurück ins Paradies? Ich referiere jetzt nicht diese Geschichte. Ich kann nicht so gut Geschichten erzählen wie Michael Köhlmeier, aber ich referiere nur das Ergebnis dieser Novelle. Es lautet: Ja, es gäbe einen Weg zurück ins Paradies. Es gäbe vielleicht sogar zwei Wege zurück ins Paradies. Diese zwei Wege lauten: Entweder wir müssen wieder zu Tieren werden. Der Austritt aus dem Paradies, die Gewinnung von Selbstbewusstsein ist immer interpretiert worden als Heraustreten aus einer tierischen Existenzweise. Wenn wir wieder Tiere wären, nur noch unmittelbar leben, bewusstlos leben, dann ist das eine Art paradiesischer Zustand. Eine andere Möglichkeit beschreibt Kleist am Beginn des 19. Jahrhunderts. Diese andere Möglichkeit ist: Wir müssten zu Maschinen werden. Und Sie wissen, dass wir im Begriffe sind, die zweite Variante zu gehen. Ob das tatsächlich ein Paradies sein wird, das werden wahrscheinlich schon Ihre Kinder, aber ganz sicher Ihre Enkelkinder erleben.

Michael Köhlmeier:

Die nächste Geschichte, die ich erzählen möchte, ist aus dem Umfeld der antiken, aus der griechischen Mythologie, und zwar ist es die Geschichte von Daidalos. Daidalos ist, wie Sie wissen, der größte Erfinder des Altertums gewesen und dennoch war er ursprünglich kein Erfinder, sondern er war ein Künstler. Er war ein Bildhauer. Seine Ambition war eine ganz naturalistische. Er wollte Figurenmenschen erschaffen, die möglichst naturalistisch aussehen – wie wirkliche Menschen. Und er hat es gemacht und er konnte das vorzüglich. Er war von seiner ganzen Technik her der beste Bildhauer seiner Zeit. Er hat die Figuren in Athen auf den Marktplatz gestellt und die Leute sind gekommen und waren voll Bewunderung, haben diese Figuren angeschaut und haben gesagt: „Das ist unglaublich. Die sehen wirklich fast aus wie Menschen.“ Und dieses „fast“ das hat den Daidalos innerlich gequält in seiner Künstlerseele. Er hat gesagt: „Was muss ich machen, damit ich dieses „fast“ eliminiere? Damit sie sagen, die sehen aus wie Menschen?“ Er hat gearbeitet und hat drüber nachgedacht und hat festgestellt, woran es liegt. Sie müssen sich bewegen. Er hat – und damit knüpfe ich an das letzte an, was Konrad Paul Liessmann gesagt hat – er hat praktisch Maschinen gebaut. Er hat seine Figuren so gebaut, damit sie sich bewegen können auf dem Marktplatz. Und was geschah? Es geschah gar nichts. Die haben nicht ausgesehen wie Menschen oder die Athener haben nicht gesagt: „Die sehen aus wie Menschen.“ Sondern sie haben einfach akzeptiert, es sind welche. Und da waren halt welche da und es ist kein Kommentar drüber abgegeben worden. Die sind nicht mehr als Kunstwerke, nicht mehr als Artefakte festgestellt worden, sondern die haben sich gedacht: „Da sind halt irgendwelche Leute da.“ Das hat ihn zutiefst frustriert, den Daidalos. Weil er hat die höchste Kunst geschaffen und sie ist in keiner Weise mehr anerkannt worden. Dann hat er gedacht: „Nein, mit der Kunst lass ich’s.“ Pallas Athene, die Göttin, die über solche Männer die Hand gehalten hat, über die Klugen, die hat ihm geraten: „Lass es sein. Lass die Kunst sein. Konzentrier’ dich ganz auf die Erfindungen.“ Und er hat große Erfindungen gemacht. Und er war ein guter Lehrer.

Sein bester Schüler war sein Neffe Perdix. Der war so gut. Ein wirklich guter Lehrer hat ja immer die Ambition, einen Schüler heranzubilden, von dem er eines Tages sagt: „Der wird besser als ich.“ So ein guter Lehrer war Daidalos nicht. Sondern er hat voll Neid auf diesen jungen Perdix geblickt, der die Wasserwaage erfunden hat. Stellen Sie sich vor, der den Zirkel erfunden hat, der die Säge erfunden hat. Das waren so große Erfindungen, dass er eben sehr sehr neidisch geworden ist. Eines Tages führte Daidalos seinen Neffen Perdix auf den Felsen, wo das Meer ist, und sie unterhalten sich und so und Daidalos gibt dem Perdix einen Stoß und der Perdix stürzt von dem Felsen hinab ins Meer. Pallas Athene hat ihn noch gerettet und hat ihn im Flug noch in ein Rebhuhn verwandelt, den Perdix. Aber sie hat die Hand abgezogen von Daidalos, sie wollte nicht mehr seine Schutzgöttin sein und in Athen ist er angeklagt worden, des Mordes. Er ist geflohen aus Athen und hat um politisches Asyl angesucht auf Kreta.

Nun war der Ruf des Daidalos schon ein weltweiter und der König von Kreta, Minos, der hat ihm dieses Asyl gerne gewährt. Hat er sich gedacht: „So einen Erfinder, den kann ich hier gut brauchen.“ Und er ist in den Dienst des Minos getreten. Eines Tages spazierte der Daidalos da in Gedanken versunken am Meer entlang in Kreta, im Exil, und da begegnet ihm eine Frau. Er sieht, diese Frau ist voll heller Verzweiflung und er spricht mit ihr und sie stellt sich vor, sie ist nämlich die Königin von Kreta, Pasiphaë, die Frau des Königs. Sie erzählt dem Daidalos ihre Verzweiflung und das ist eine furchtbare Geschichte. Eine schreckliche Geschichte. Ich muss ein bisschen ausholen.

Der Minos ist ja der Sohn des Zeus. Seine Mutter ist Europa, übrigens. Eine asiatische Königstochter, die Zeus ver- und entführt hat. Zuerst ent- und dann verführt hat, nach Kreta mitgenommen hat. Und als Sohn des Zeus hat Minos einen großen Fehler begangen. Der hat nämlich gesagt: „Ich bete nur meinen Vater an. Ich opfere nur meinem Vater.“ Der Fehler bestand darin, dass er König einer Insel war. Es ist nicht so günstig, als König einer Insel dem Gott des Meeres, dem Poseidon, dem Bruder des Zeus, nicht ebenso zu opfern. Und er hat den Poseidon ganz ignoriert. Das hat den Poseidon, den Gott des Meeres, erzürnt und er hat gesagt: „Wieso? Er ist Bewohner einer Insel. Ich bin der Herr des Meeres, der soll mir auch irgendwie ...“ Und er hat Klage geführt bei seinem Bruder Zeus und der Zeus hat mit Minos gesprochen. „Kannst du ihm nicht irgendwie ein bisschen entgegenkommen, meinem Bruder?“ Er hat auch mit dem Poseidon gesprochen, hat gesagt: „Wirf ihm ein Hölzchen. Schick ihm doch einen Stier, den er opfern kann.“ Das ist ja schon demütigend genug für den Poseidon, selber die Opfergabe zu schicken, die man ihm darbringen soll. Er hat ihm einen weißen herrlichen Stier geschickt, der aus dem Meer herausgekommen ist, mit diamantenen Hörnern. Das war eben das, dass er diesen Stier opfern soll und Minos sah diesen Stier des Poseidon und hat sich gedacht: „Das ist so ein schöner Stier, den opfere ich nicht. Den nehme ich in meinen Stall, und da hab ich so einen alten Ochsen drin und den werd’ ich dem Poseidon opfern.“ Er hat also den Gott betrogen. Das hat den Poseidon unglaublich geärgert und er hat Zwiesprache gehalten mit Aphrodite, der Göttin der Liebe. Hat gesagt: „Was soll ich tun?“ Die Aphrodite, die hatte einen sehr, sehr bösen Plan, die hat in das Herz der Pasiphaë – der Frau des Minos – eine Gier, eine sexuelle Gier gepflanzt und zwar nicht eine Gier nach einem Menschen, sondern nach diesem Stier. Pasiphaë war verzweifelt, dass sie diesen Stier da so geliebt hat, dass sie diesen Stier so begehrt hat, aber sie wusste nicht, wie das gehen soll. Die Antiken und die Griechen die waren da ziemlich ..., die haben solche Dinge durchaus ausgesprochen. Da ging sie am Strand spazieren und war voll Verzweiflung und trifft auf den Ingenieur, auf den Erfinder und sagt: „Was soll ich tun?“ Und er sagt: „Ja, technisches Problem. Erfinden wir eine Lösung.“ Wie halt Ingenieure sind. Und der Daidalos hat eine Kuh gebaut aus Holz, die innen hohl war. Er hat gesagt: „Da legst du dich rein und dann kommt der Stier.“ Das hat Pasiphaë getan und so hat der Stier sie bestiegen, sie wurde schwanger und hat den Minotaurus zur Welt gebracht.

Der Minotaurus ist ein Mischwesen, ein Knabe mit einem Stierkopf – halb Stier, halb Knabe. Ein gefährliches Wesen, das sich von Menschen ernährt hat. Was soll man mit so einem Ding tun? Ich mein’, der Minos hätte es gern erschlagen. Aber gleichzeitig hat er sich gedacht: „Nein, nein! Das kann ich irgendwie nicht, dann erzürn’ ich den Poseidon noch mehr.“ Und mit diesem Problem ist er zu wem gegangen? Zum Ingenieur, zum Erfinder, zu Daidalos. Und Daidalos hat gesagt: „Ja, Probleme sind dazu da, dass man sie löst.“ Und er hat ein Labyrinth gebaut, ein ganz kompliziertes Labyrinth. In der Mitte dieses Labyrinths, dort ist Minotaurus. Das war zu dieser Zeit, als Kreta Krieg geführt hat gegen Athen. Kreta hat diesen Krieg gewonnen und hat den Athenern eine Strafe auferlegt, nämlich sie müssen alle Jahre zwölf Jungfrauen und zwölf Jungmänner stellen, der Insel Kreta. Mit diesen Jungfrauen und Jungmännern wurde eben der Minotaurus in seinem Gefängnis, in diesem Labyrinth, gefüttert. Das war der Tribut, den Athen an die Insel Kreta zahlen musste. Es war sehr schmerzlich für die Athener und es war sehr schmerzlich für den König der Athener, für Aigeus. Und es war sehr schmerzlich für den Sohn des Aigeus, nämlich Theseus.

Und Theseus sagt zu seinem Vater: „Ich möchte zu diesen Jungmännern gehören. Schick mich nach Kreta, schick mich dorthin! Ich werde den Minotaurus töten.“ Er hat ein Schiff bestiegen mit den anderen und ist nach Kreta gefahren. Er wollte in das Labyrinth und wollte gegen den Minotaurus kämpfen. Dann hatte die Tochter des Minos, eine der Töchter, nämlich Ariadne, hat zu ihm gesagt: „Das kannst du nicht. Du wirst nie mehr aus dem Labyrinth herausfinden.“ Das ist ein Problem. Wie kommt man in ein Labyrinth hinein? Das ist kein Problem, aber wie kommt man wieder heraus? Das ist ein Problem. Wen fragt man, wenn man ein Problem hat? Den Ingenieur. Und sie haben den Daidalos gefragt: „Wie komm ich rein und wieder raus?“ Daidalos hat gesagt: „Ganz einfach, nimm ein Wollknäuel, bindet es am Anfang des Labyrinths an und dann geh’ in das Labyrinth hinein. Wie du den Minotaurus besiegst, das ist deine Angelegenheit, aber heraus kommst du, in dem du dem Wollknäuel, dem Faden wieder folgst.“ Das ist der Ariadnefaden, der Faden der Ariadne. Und so ist Theseus in das Labyrinth, hat den Minotaurus erschlagen und kam wieder heraus auf diese Art und Weise und kam zurück nach Athen. Nun war natürlich der Minos, als er das gesehen hat, dass da der Daidalos praktisch jedem seine Dienste anbietet, da war er sehr zornig auf den Daidalos und hat gesagt: „Na gut, als Strafe …“ – inzwischen hat der Daidalos auf der Insel auch ein bürgerliches Leben angefangen, hat geheiratet, einen Sohn bekommen, Ikaros – „… als Strafe wirst du in dein eigenes Labyrinth versetzt. Du, zusammen mit deinem Sohn Ikaros.“ Und da waren sie drin. Jetzt würde man meinen, für den Erfinder des Labyrinths ist das leicht, wieder heraus zu kommen. Aber das war so unglaublich gut und Daidalos hat das Labyrinth immer nur von außen gesehen, dass selbst er nicht den Weg zurückgefunden hat. Nun hat er selber ein Problem gehabt. Er saß da drin, mit seinem Sohn in diesem Labyrinth. Wie da rauskommen? Aber er hat an sich selber die Frage gestellt: „Was tut man?“ Und der Ingenieur in ihm hat ihm die Antwort gegeben. Er hat nämlich die Vögel beobachtet und viele dieser Vögel sind gekommen und haben sich dann von den Überresten, was der Minotaurus übergelassen hat, haben sie sich ernährt und haben ihre Federn da liegen gelassen.

Und er hat diese Federn genommen und hat die Flügel der Vögel genau beobachtet und hat sich selber Flügel gebaut aus diesen Federn und hat diese Federn verbunden mit Wachs. Er hat zwei Paar Flügel gebaut, für sich und seinen Sohn Ikaros. Er hat ihm genau erzählt, seinem Sohn, wie er zu tun hat, dass sie fliegen. Und er hat zu Ikaros noch gesagt: „Pass auf, flieg nicht zu tief! Sonst kann’s sein, dass deine Flügel mit dem Meer in Berührung kommen. Dann werden sie zu schwer, dann wirst du ertrinken. Aber flieg nicht zu hoch, weil die Sonne dann zu heiß ist und das Wachs zu schmelzen beginnt. Dann wirst du abstürzen.“ So haben sie dann das Labyrinth verlassen, aber den Ikarus, den hat es so gefreut, dass er so fliegen kann, ist so hoch hinausgeflogen und die Sonne hat das Wachs geschmolzen und er ist abgestürzt.

Der Daidalos hat’s geschafft, er hat sich irgendwo versteckt. Bei einem anderen König ist er in Dienst getreten, der hatte Kinder. Die wollten schöne Puppen haben. Dann hat er sich erinnert, wie das war und dann hat er ihnen so kleine Maschinen gebaut. Aber der Minos wollte ihn wieder zurückhaben und der Minos hat gewusst, den lockt nur eine Aufgabe. Er hat in die Welt hinausposaunt: „Wem es gelingt, einen Faden durch ein Tritonshorn, also durch eine Muschel zu ziehen, einen Faden durch alle diese Kammern dieses Horns zu ziehen, den werde ich groß belohnen.“ Er hat gewusst, es gibt nur einen, der das kann – und wahrscheinlich wird das der Daidalos sein. Der hat das auch gekonnt, der Daidalos. Wie hat er das gemacht? Der hat eine Ameise genommen und hat an ihr Hinterbein einen dünnen Faden gebunden, hat am Ende des Tritonshorns ein bisschen Honig hingeschmiert und so ist sie durchgegangen, durch das ganze Tritonshorn. Am Schluss hat er’s dann machen können. Allerdings ist es ihm nicht gelungen, dem Minos, den Daidalos einzufangen. Der ist dann irgendwo anders hingegangen, seine Spur verliert sich. Manche behaupten er sei nach Ägypten ins Exil gezogen. Manche behaupten, bis heute könne man in Ägypten bestaunen, was er dort gebaut hat, der Daidalos.

Konrad Paul Liessmann:

Ja, meine Damen und Herren, diese antiken Mythologien, diese antiken Geschichten haben immer wieder Interpretationen nach sich gezogen und man könnte sagen, jede Zeit kann diese Geschichten neu interpretieren, aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen. Diese Daidalos-Geschichte ist natürlich immer tradiert worden und auch in der bildenden Kunst behandelt worden, aber meistens nur unter einem Gesichtspunkt, nämlich dem Flug des Ikaros. Also diesem Absturz des Ikaros. Und darüber hat man vielleicht vergessen – gerade aus unserer Perspektive, aus der Perspektive der wissenschaftlich-technischen Zivilisation – wie viele interessante Aspekte eigentlich diese alte Geschichte, dieser Mythos darüber hinaus noch für uns bereithält. Wenn man vielleicht im 18. Jahrhundert, im 15. Jahrhundert, in der Spätantike oder auch noch im 19. Jahrhundert diese Aspekte nicht sehen musste, weil man in diesen Zeiten die Probleme, die wir heute haben, eben nicht kannte.

Zum Beispiel, ich fang’ wieder mit einer ersten Anekdote an, die Michael Köhlmeier erzählt hat, dass Daidalos als Künstler begonnen hat, der tatsächlich Kunstwerke schaffen wollte, die ununterscheidbar vom Menschen sind. Wir wissen, dass natürlich immer wieder Künstler versucht haben, den Menschen so darzustellen als Kunstwerk, dass er aussieht wie. Aber auch noch der genialste Maler, wir wissen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nur ein Gemälde ist, auch wenn’s tatsächlich – heute würde man sagen, aussieht wie eine Fotografie – aber es ist nicht der Mensch. Der genialste Bildhauer kann natürlich Menschen so schaffen, dass sie verwechselbar erscheinen bis zu dem Moment wo man draufkommt: Aber der steht dort. Der kann sich nicht bewegen. Der spricht nicht. Das ist also doch nur eine Statue und kein wirklicher Mensch. Heute wissen wir, dass viele Computerpioniere und Roboteringenieure daran arbeiten, Roboter zu bauen, die tatsächlich verwechselbar mit einem Menschen sind und es ist ein altes Problem, das wir, seit wir den Computer erfunden haben, vor uns hertragen und vor uns herschieben: Wie gehen wir mit künstlichen Intelligenzen um, die aussehen wie Menschen, sich verhalten wie Menschen, sprechen wie Menschen, aber keine Menschen sind? Das, könnte man sagen, ist das Daidalos-Problem.

Sie kennen ihn vielleicht, es gibt einen japanischen Ingenieur, der ein Duplikat von sich selbst gemacht hat – einen Roboter, der genauso aussieht wie dieser Ingenieur, der sprechen kann, der etliche Vorträge dieses Ingenieurs einprogrammiert hat und wenn er eingeladen wird zu einem Kongress, stellt er immer die Kongressverantwortlichen vor die Wahl: Soll ich kommen oder soll mein Roboter kommen? Und alle wollen den Roboter haben. Keiner will mehr den Menschen haben, denn der hält denselben Vortrag, der kann auch rudimentär kommunizieren, der kann die Hand geben und es ist eine Maschine, die aussieht wie ein Mensch. Faszinierend! Es sind ganz wesentliche Aspekte in dieser Daidalos-Geschichte schon dringesteckt. Wie werden wir mit Wesen umgehen, die künstliche Wesen sind, aber tatsächlich menschliche Verhaltensweisen haben? Und es gibt – Sie werden vielleicht lachen – aber das hat mit diesen Optimierungsfragen natürlich zu tun, es gibt in meiner Disziplin, in der Philosophie, seit einem Jahr eine sehr ernsthafte Diskussion: Wie weit müssen künstliche Intelligenzen entwickelt sein, dass wir gar nicht umhinkönnen, ihnen Menschenrechte zu verleihen? Das heißt, wir debattieren heute nicht mehr nur über Menschenrechte für Menschenaffen, sondern Menschenrechte für artificial intelligence. Wo ist der Punkt? Wann sind sie ununterscheidbar? Wann kann ich eine Maschine nicht mehr als Maschine, sondern muss ich sie als menschliches Wesen mit seinen eigenen Interessen behandeln? Dann wäre es also eine Art von Mord, einen Computer von der Steckdose zu nehmen. Das ist das Eine.

Das Zweite, was gerade auch mit der Geschichte dieses Ortes zu tun hat: Daidalos war offensichtlich wirklich der erste Prototyp dieses – Michael Köhlmeier hat’s angedeutet – gewissenlosen Ingenieurs. Gewissenlos deshalb, weil er alles nur unter dem Aspekt eines technischen Problems gesehen hat. Egal welche Aufgabe ihm gestellt wird, er sieht sie nur unter der Perspektive: Lässt sie sich technisch lösen? Ob diese Aufgabe selber moralisch gerechtfertigt, politisch erwünscht oder unerwünscht, irgendwelche ethischen Dimensionen hat, die vielleicht diskutierbar sind, hat ihn nicht interessiert. Eine Königin will sich mit einem Stier vereinen, was das für den Mann bedeutet, was das für das Königreich bedeutet, was das für den Stier bedeutet, das interessiert ihn überhaupt nicht. Ihn interessiert nur: Lässt sich dieses Problem technisch lösen? Und er hat – wie Köhlmeier erzählt hat – eine technische Lösung gefunden. Diese technische Lösung hat aber ziemlich viele Probleme mit sich gebracht, weil Minotaurus Menschen gefressen hat. Derjenige, der dieses Problem verursacht hat, nämlich der Ingenieur Daidalos, war auch derjenige, der dieses Problem wieder gelöst hat, nämlich durch das Labyrinth. Für ein politisches Problem eine technische Lösung.

Und sie wissen, dass das, was auf Schloss Hartheim hier passiert ist, diese Euthanasieprogramme der Nationalsozialisten, nicht möglich gewesen wäre ohne Ärzte, ohne Ingenieure, ohne Techniker, die sich nicht gefragt haben: „Wie legitim ist das, was ich hier tue?“ Sondern, die es nur als technisches Problem gesehen haben und die natürlich dann nach dem Ende des sogenannten Dritten Reiches gar keine Probleme hatten, ihre technische Intelligenz einem anderen Herrn anzudienen. Derselbe Mann, der für die Nazis die ersten sprengstofftragenden Raketen gebaut hatte, mit der zum Beispiel englische Städte angegriffen worden sind, derselbe Mann hat die Raketen gebaut, die die ersten Amerikaner zum Mond gebracht haben, Wernher von Braun. Ein später Nachfahre des Daidalos.

Stichwort: Raketenbau. Das ist sozusagen das Dritte, für das Daidalos berühmt geworden ist: Der erste Mensch, der fliegen konnte. Auch hier war’s für ihn nicht eine Utopie, die er realisiert hat, sondern er musste ein Problem lösen. Nämlich das Problem, wie kommt er jetzt aus dem von ihm selbst gebauten Labyrinth raus. Beachten Sie die unglaublich starke Symbolkraft dieses Bildes: Die Technik, die uns in ein Problem hineinstürzt, aus dem uns nur Technik wieder befreien kann. Seien wir uns ehrlich, die meisten Probleme, die wir heute auf der Welt haben – nicht alle, aber doch sehr viele – sind Resultat von Technik. Warum haben wir zum Beispiel ein Klimaproblem? Weil wir aufgrund unserer Technologien, Verbrennungsmotoren, Industrieanlagen das Klima nachhaltig negativ beeinflusst haben. Wie werden wir dieses Problem lösen? Na durch Technologie natürlich! Förderung von Elektromobilität, Erfindung erneuerbarer Technologien, und und und. Durch „Nicht-Technik“ ein Problem zu lösen, auf die Idee kämen wir ja gar nicht mehr. Und eben das Einfachste, um die Erderwärmung einzudämmen wäre einfach, wir verzichten auf ’s Autofahren. Das geht natürlich nicht. Das wäre sozusagen Lösung eines technischen Problems durch „Nicht-Technik“. Nein, wir verlangen andere Technologien: Zuerst einmal bessere Überwachung des Straßenverkehrs, dann emissionsfreiere Verbrennungsmotoren, dann genaue energieeffiziente Kontrollen, Tempo 100, Tempo 80, wenn eine zu große CO2-Konzentration, Schadstoffkonzentration oder Feinstaubkonzentration ist und letzten Endes einen anderen Typ von Mobilitätstechnologie, zuerst Elektromotoren, dann vielleicht Magnetschwebebahn.

Wie auch immer: Nur Technik löst unsere durch Technik erzeugten Probleme. Das ist unser Glaube und das könnte man das „Daidalos-Prinzip“ der modernen Welt nennen. Dabei haben wir eines vergessen: Nämlich genau diese Leere, die man in dieser Fluggeschichte, in der Erfindung des „Fliegen-könnens“ durch technische Möglichkeiten sehen könnte, die uns dieser antike Mythos nahelegt: Nämlich so klug war Daidalos, dass er wusste, man darf die technische Lösungskapazität, die seine Erfindungskraft, seine geniale Ingenieurskraft, den Menschen zur Verfügung stellt, nicht überreizen. Denn das, was er zu Ikaros, seinem Sohn sagt, widerspiegelt eigentlich eine alte antike Tugend, der sich Daidalos in diesem Moment noch verpflichtet fühlte, nicht weil er ein guter Mensch sein wollte, er war kein guter Mensch, er war ein gewissenloser, egoistischer, neidvoller und geldgieriger Ingenieur. Überhaupt diese Ingenieure ... Aber er wusste, dass Technik selber ihre Grenzen in sich trägt. Und deshalb diese Ermahnung an Ikaros: „Pass auf, wir werden fliegen können, aber nur innerhalb bestimmter Grenzen. Dem Wasser darfst du nicht zu nahe kommen und der Sonne darfst du nicht zu nahe kommen. Denn ansonsten wird unsere Technik versagen. Halte die rechte Mitte zwischen der Meeresoberfläche und der Sonne. Achte darauf, diese Mitte, dieses rechte Maß nicht zu verlassen.“

Das rechte Maß, das war der Inbegriff der antiken Tugendlehre. Ikarus hält sich nicht daran, er wird übermütig, und er wird übermütig aus Lust an dem, was ihm durch Technik möglich geworden war. Man könnte sagen, die große Mahnung, die dieser Mythos einer in die Technik verliebten und ganz auf Technologie setzenden Zivilisation gerichtet hat, die er uns hinterlassen hat, könnte lauten: Technik, ja, aber hüten wir uns vor Menschen, die aus Lust an dieser Technik jedes Maß und jedes Ziel verlieren, denn dann werden wir so wie Ikarus abstürzen. Wenn Sie in den Folgetagen Vorträge hören werden über die technischen Möglichkeiten, wie der Mensch mit sich selbst umgehen wird können, denken Sie auch hin und wieder an diese Daidalos-Mahnung, an Ikaros. Was es bedeuten würde, sich hemmungslos einer durch Technik möglich gemachten Lust – in dem Fall an der Selbstoptimierung oder vermeintlichen Selbstoptimierung des Menschen – hinzugeben und nicht zu bedenken, wo könnten hier die Grenzen liegen, die uns aufzeigen oder jenen Moment aufzeigen, in dem das was technisch möglich ist und was gut ist für den Menschen, als Erleichterung für Menschen, als Verbesserung des Menschen vorstellbar ist, in das Gegenteil umschlägt und in die Selbstdestruktion, vielleicht nicht des Menschen aber zumindest des Menschlichen, wenn ich es als Humanes denke, führen könnte.

Wir hätten jetzt die Möglichkeit, das damit bewenden zu lassen oder noch eine kleine Draufgabe zu geben. Michael, die Kurzversion.

Michael Köhlmeier:

Das ist natürlich bekanntlich eine pur rhetorische Frage. Dieses Publikum möchte ich einmal sehen, die dann sagen: „Lassen wir’s.“

Aber gut, ich will Ihnen eine kurze Geschichte aus dem – ich sag’ jetzt ein Wort, das der Bischof sicher nicht gerne hören wird1 – aus dem Bereich der christlichen Mythologie erzählen. Sie entstammt nämlich aus den Heiligengeschichten, die Geschichte vom heiligen Ägidius.

Der heilige Ägidius war ein sehr verzärteltes Kind, ist in Athen aufgewachsen, war in sehr wohlhabendem Haushalt aufgewachsen, hat eine sehr liebende Mutter gehabt, eine überaus liebende Mutter, die ihre ganze Sorge nur ihrem Kind, dem kleinen Ägidius gewidmet hat. Wenn der nur ein bisschen geweint hat, weil ihn ein Gräslein gestreift hat und wenn ein Häuchlein ihn getroffen hat, dann hat er schon gehustet. Und in der Nacht ist er aufgewacht, wenn nur eine Eule am Horizont vorbeigeflogen ist. Die musste noch gar keinen Laut von sich gegeben haben. Die Mutter saß immer neben ihm und hat gehorcht, hat ihm einen Spiegel auf den Mund gehalten, ob er noch atmet. Sie hat ihm nur lauwarme Speisen zu essen gegeben und wenn ihm eine Geschichte vorgelesen oder erzählt wurde, hat sie darauf geachtet, dass die Geschichte ja nicht zu lang und auf jeden Fall nicht grausam ist. So ist er aufgewachsen, dieser Ägidius, beschützt und ohne an der Welt, wie sie ist, teilhaben zu können.

Und dann war er ein junger Mann und er hatte einen Traum, eines Nachts. Er hatte einen Traum, der heilige Petrus nimmt ihn an der Hand und sagt: „Komm Ägidius, ich zeig’ dir die Hölle!“ Und er hat ihn in die Hölle geführt. An der Hand des Petrus ist er gegangen in diesem Traum und furchtbare Dinge hat er gesehen – wir wissen das alles aus Dantes Göttlicher Komödie. In diesem Inferno hat er gesehen, da wurden Mägen von Gefolterten mit flüssigem Blei aufgefüllt und Fledermäuse haben die Augen ausgesaugt und glühende Nadeln wurden in das Rückenmark gesteckt und unter der Haut sind Käfer gekrabbelt und sie haben gesehen, dass Helden der Antike, wie Odysseus, in Feuerhörnern gebrannt haben und die, die Zeit ihres Lebens viel gelogen haben, die standen bis hierher in Eis und Schlangen haben sich um ihre Körper gewunden. Und da gehen sie und sie schauen das alles an und dann denkt Ägidius: „Es ist so komisch, wenn man da geht. Es ist so ... Der Boden ist irgendwie so weich, so eigenartig. Petrus, sag mal, was ist denn mit diesem Boden hier?“ Und der Petrus sagt: „Ja, am Boden, das sind die Körper der Weichlinge, die liegen hier. Die Wege in der Hölle sind gepflastert mit den Weichlingen.“ Und dann ist der Ägidius aufgewacht und hat sich gedacht: „Ui, zu denen werde ich dann gehören, eines Tages. Ich will aber nicht das Pflaster abgeben in der Hölle.“ Und er hat sich dann gedacht: „So, ich muss dem gegensteuern. Ich muss etwas tun.“

Er hat zuerst zu seiner Mutter gesagt: „So, ich verlasse dich.“ Die hat geweint und sich vor ihn hingeworfen, er ist über sie drübergestiegen und hat gesagt: „Zeig mir deine Tränen nicht so, sonst werd’ ich weich.“ Und er ist gegangen. Sein feines Gewand, das nur aus feiner Seide und Samt bestand hat er von sich gerissen, hat sich den rohesten Kartoffelsack ausgesucht, hat drei Löcher hineingerissen, für den Hals und für die beiden Arme – hat sich das härene Gewand angezogen, ohne Schuhe ist er hinausgegangen. Draußen war es glühend heiß. Er hätte im Schatten gehen können – nein, er ist in der Sonne gegangen. Er hätte auf dem weichen Rasen gehen können – nein, er ist auf dem Splittboden gegangen und am Abend waren seine Füße schon wund und blutig, das war ihm egal. Er hätte sich hinlegen können auf das Moos, am Wegesrand – nein, er hat den Kopf auf einen Stein gebettet. So hat er sich abhärten wollen. Im Winter ist er barfuß gegangen, im Gegenteil, er hat sein Gewand ausgezogen, hat den Schnee umarmt und hat gesagt: „Bruder Schnee, ich wärme dich.“ So hat er gelebt. Er hat sich ernährt von dem, was die Würmer übriggelassen haben. Er hat sich ernährt von dem, was die Bäume übriggelassen haben, was abgefallen ist. Er hat Wasser getrunken, fauliges Wasser, das in den Baumstümpfen drin war. So hat er gelebt, ist immer schwächer geworden und wäre auch sehr sehr bald dahingeschieden, in dieser Radikalität, dass er nur ja nicht der Pflasterstein in der Hölle wird, und da ist eines Tages ein Reh, eine Rehkuh erschienen und diese Rehkuh hat mit ihm gesprochen, denn er selbst hat schon ausgesehen wie ein Tier. Die Rehkuh hat zu ihm gesagt: „Bitte trink meine Milch, mein Junges ist getötet worden von einem Wolf, dass mein Euter nicht platzt, trink meine Milch.“ Und er hat die auch verstanden. Er war selber schon ein Tier, und die Rehkuh hat gesagt: „Wir alle sind doch Tiere.“ Und er hat gesagt: „Ich kann deine Milch nicht trinken, das kann ich nicht tun, weil das würd’ mir so wahnsinnig gut schmecken, das will ich nicht und dann werd’ ich wieder ein Weichling. Ich möchte lieber das faulige Wasser trinken.“ Und sie hat gesagt: „Aber schau, ja wenn du trinkst von mir, dann kann es sein, dass du einfach länger lebst.“ „Aber ich will nicht“, sagt er. Dann hat sie ihn überredet: „Wenn du länger lebst, dann kannst du auch länger dulden. Verstehst du?“ Das hat er dann eingesehen, hat er sich gedacht: „Das ist gut, weil wenn ich jetzt nicht trinke, werde ich bald sterben. Mein Dulderleben wird relativ kurz gewesen sein und dann werde ich vielleicht doch noch ein Pflasterstein in der Hölle.“ Und er hat getrunken von der Milch der Rehkuh. Die hat ihm unglaublich gut geschmeckt, er hat sich sofort verboten weiterzutrinken, aber es hat immerhin bewirkt, dass er lebt. Immer wieder hat er von dieser Milch getrunken und so hat er leben können. Er hat immer zu Gott gebetet, er möge ihm doch alle Qualen schicken, die er sich nur einfallen lassen kann. Ein bisschen bibelbelesen war er und hat gesagt: „Bitte mach aus mir doch einen zweiten Hiob und ich werde dafür sorgen, dass ich lange lebe, indem ich immer ein bisschen von der Milch trinke.“ Und so ist es gewesen. Er hat ausgesehen wie ein Tier, hat in einem hohlen Baum gelebt, zusammen mit dieser Rehkuh.

Eines Tages kam König Wamba. König Wamba war ein sehr sehr frommer König, der aber gerne auf die Jagd ging. Und der König Wamba ist hinter der Rehkuh her, die hat ihm gefallen. Er hat gesagt: „Die schieß ich!“ Die Rehkuh läuft dahin, läuft zu diesem hohlen Baum, in dem der Ägidius haust und der Ägidius kommt heraus und stellt sich vor seine Rehkuh hin und schreit den König Wamba an: „Wir alle sind Tiere und wenn du schon schießt, dann schieß auf mich und nicht auf dieses Reh, das ich beschützen möchte, weil es mir mein Leben gerettet hat.“ Der König Wamba hat ihn angeschaut und gesagt: „Ja, der sagt es ja selber – wir alle sind Tiere. Der sieht auch aus wie ein Tier. Das kann zwar reden …“ Aber das war zu einer Zeit, da ist das durchaus vorgekommen, dass Tiere reden konnten und Menschen das verstanden haben und er sagt: „Wenn der das selber schon sagt, ich soll auf ihn schießen, dann tu ich’s doch.“ Und er hat auf den Ägidius geschossen, der König Wamba. Ägidius ist niedergebrochen, lag da, schwer verwundet und hat ihn hier getroffen und der König Wamba hat gesagt: „Schauen wir uns das Tier doch mal näher an.“ Und hat zu seinen Leuten gesagt: „Rasiert den doch mal. Tut mal die Haare weg, dass man sieht wie das aussieht, dieses Tier.“ Er hat gesehen, das ist ein Mensch. Er hat gesehen, das ist ein Einsiedler – und Einsiedler waren hoch im Kurs, die haben sehr viel gegolten, ein heiliges Leben geführt. Das war dem König Wamba ganz furchtbar, dass er diesen verletzt hat. Er hat gesagt: „Komm mit in mein Schloss, ich werde dich baden und werde dich kleiden in den feinsten Kleidern, ich werde die besten Ärzte zu dir schicken.“ „Nein, das will ich nicht!“, sagte Ägidius. „Du musst mir eines versprechen, meine Wunden sollen nicht behandelt werden. Im Gegenteil, tu noch ein bisschen Salz rein, damit’s ja weh tut, weil ich möchte nicht als Pflasterstein in der Hölle enden.“ Und dem Wamba war das, wie gesagt, gar nicht recht, aber er hat ihn bewundert und er hat gesagt: „Lassen wir doch ein Kloster für dich errichten, dass du wenigstens nicht in diesem hohlen Baum wohnen musst.“ „Nein, das will ich nicht. Du kannst ruhig ein Kloster errichten, aber neben meinem Baum“, sagt Ägidius. Ägidius ist standhaft geblieben und der König Wamba der hat Krieg geführt unter dem Namen des Ägidius und hat gewonnen und das waren die Wunder, die notwendig sind. Der Herr Bischof wird’s Ihnen sicher erklären. Um heilig zu werden da braucht’s zwei Dinge: Entweder man ist Märtyrer oder man hat ein Wunder. Ägidius ist sehr alt geworden – ich mach’s ein bisschen kürzer – ist sehr sehr alt geworden, hat viel viel Zeit gehabt, Gott hat ihm viel Zeit gegeben, um viel viel Schmerzen zu ertragen, um ganz hart zu werden und am Ende dann hat Gott ein Einsehen gehabt. Er hat ihn zu sich genommen und hat dem Papst gesagt: „Komm, sprich ihn heilig, damit eine Ruh’ ist.“ Und das hat der Papst gemacht und deshalb haben wir in dieser Erzählform, in dieser Fassung einen heiligen Ägidius.

Konrad Paul Liessmann:

Nachdem, wie Sie wissen, Gott auch durch die Dichter spricht, wird das schon die authentische Fassung sein, die Michael Köhlmeier jetzt erzählt hat, auch wenn vielleicht der Herr Bischof etwas anderes behaupten wollte, was ich mir nicht vorstellen kann. Diese Ägidius-Geschichte, so einfach sie zu sein scheint, eine mittelalterliche Heiligenlegende, so einfach sie zu sein scheint, ist mittlerweile wirklich zu einer meiner Lieblingsgeschichten geworden, weil sie so vielfältige Deutungen zulässt. Ich erwähne nur einige Aspekte, um dann darauf zu kommen, warum wir sie hier am Beginn dieser Tagung über die Optimierung des Menschen gestellt haben. Auf den ersten Blick scheint das ja gar nichts damit zu tun zu haben. Dieser Ägidius oder diese Geschichte von Ägidius hat aber – abgesehen mal davon – eine ganze Reihe von Elementen, die man durchaus als modern bezeichnen könnte. Erinnern Sie sich daran, dass Ägidius als total behütetes Kind aufwächst. Er ist sozusagen schon in den Genuss der modernen Pädagogik gekommen. Kinder müssen behütet aufwachsen. Nur keine Gefahr. Sie wissen: Schutzhelmpflicht für Sandkasten ist heute en vogue. Nur keine Gefahr, nur nichts, das das Kind verunsichern könnte. Am meisten hat mich berührt, dieser Befehl an die Amme: Geschichten erzählen ja, aber sie dürfen nicht allzu lang sein. Und sie wissen ja, die Konzentrationsfähigkeit des Menschen liegt ungefähr bei drei Minuten, also Kurzgeschichten. Das zweite ist, sie dürfen nicht grausam sein und sie dürfen ihn innerlich nicht erschüttern. Vielleicht haben Sie das schon gelesen oder gehört, dass amerikanische Studenten und Studentinnen zurzeit fordern, dass sie bitte verschont bleiben sollen von Texten wie Homers Illias oder Shakespeares Tragödien, Goethes Werther, weil das lauter Geschichten sind, die erstens zu lang sind – die Illias kann ja kaum noch wer lesen. Die zweitens grausam sind – denken Sie an Shakespeares Tragödien. Ständig wird wer ermordet oder hingerichtet oder es passiert Ehebruch oder was auch immer. Und die jemanden erschüttern könnten. Goethes Werther begeht aus verzweifelter Liebe Selbstmord und das jetzt am Nachtkastl einer jungen College-Studentin, die vielleicht unglücklich verliebt ist, könnte katastrophale Folgen haben. Und die verlangen tatsächlich sichere Räume, so wie Ägidius, oder die Mutter von Ägidius, sichere Räume, wo sie vor solchen emotionalen Erschütterungen durch Geschichten verschont bleiben.

Vielleicht gilt das, was für Ägidius gilt, auch für diese moderne Studentengeneration. Wir ziehen hier eigentlich Weichlinge heran und mit Weichlingen, mit den Körpern der Weichlinge ist die Hölle gepflastert. Das sollten wir uns merken. Gleichzeitig steckt darin aber was ganz ganz Fatales. Nämlich genau die Fatalität, auf die Ägidius verfallen ist. Wenn ich kein Weichling sein will – er hat sich ja nicht Geschichten zu Gemüte geführt, die ihn erschüttern hätten können, sondern die These vertreten, dann muss ich mir selbst gegenüber hart werden – dann muss ich meinem Körper etwas abverlangen, dann muss ich mir selbst Qualen zufügen. Und dieses „sich selbst Qualen zufügen“ hat wieder zwei Seiten. Das ist eine ziemlich ambivalente Geschichte. Nämlich die eine Seite, dass er da sagt: „Ich muss mir selbst Qualen zufügen. Ich darf niemand anderem Qualen zufügen. Zum Beispiel der Natur nicht, ich esse kein Fleisch. Ich pflücke nicht mal Äpfel von den Bäumen, sondern ich ernähre mich wie ein Frutarier.“ Und der Frutarier ist die Speerspitze moderner Ernährung – moralisch gesehen. Er ist nicht nur Vegetarier, also er isst nicht nur kein Fleisch, er ist nicht nur vegan, das heißt, er isst nichts wo nur nicht so irgendwie Tiere mit im Spiel sein könnten, sondern er will auch die Natur nicht vergewaltigen. Er isst nur das, was die Natur freiwillig gibt. Nämlich Fallobst und Wasser. Viel mehr gibt uns die Natur von sich aus nicht. Und das macht er.

Auf der anderen Seite bedeutet das natürlich die Qual dem eigenen Körper gegenüber. Sich selbst solchen Qualen auszusetzen. Da könnte man sich fragen: „War das ein Masochist? Oder ging’s ihm um was anderes?“ Theologisch könnte man sagen, ging’s ihm natürlich darum, die Leiden Christi zu reproduzieren. Selbst auch so zu leiden wie der Erlöser gelitten hat. Unter einer moderneren Perspektive könnte man sagen, ging’s aber auch um was Anderes. Nämlich genau darum, herauszufinden, wie viel Leid, wie viel Schmerz kann ich mir selber zumuten, wie viel halte ich aus. Und jedes Mal, wenn er gemerkt hat: „Ja, das halte ich noch aus“, die Kälte des Schnees, die Hitze der Steine, die Entbehrungen, die ich mir auferlege, die Schlaflosigkeit, der ich mich überantworte, weil ich dem süßen Schlaf widerstehen will. Jedes Mal, wenn er die Erfahrung gemacht hat: „Ja, das halte ich aus“, mag vielleicht so etwas wie ein kleines Triumphgefühl in ihm hochgekommen sein, trotz aller Schmerzen, trotz aller Qualen, trotz aller Entbehrungen. Meine Behauptung besteht nun darin zu sagen, dieses kleine Triumphgefühl, das den Ägidius angesichts dieser schmerzhaften Selbsterfahrungen befallen haben mag, ähnelt dem Triumphgefühl des modernen Menschen, der seinen Körper optimieren will. Ägidius war vielleicht der erste und vielleicht das Vorbild für den – so könnte man sagen – modernen Extremsportler, der herausfinden will, wie viel Leid, wie viel Schmerz halte ich eigentlich aus. Sie wissen, dieses Ägidius-Phänomen oder man könnte von einem Ägidius-Komplex sprechen, ist in diesen Breiten hier mittlerweile zu einem Massenphänomen geworden. Nicht, dass alle wieder in die Einsiedelei gehen, aber fast alle versuchen wenigstens einmal in ihrem Leben einen Triathlon zu bestreiten. Drei Kilometer schwimmen – schon mal ziemlich anstrengend – 180 Kilometer mit dem Rad fahren, da geht man an die Grenze und dann noch 42 Kilometer laufen. Womöglich bei sengender Hitze über glühenden Asphalt, wenn es der legendäre Hawaii-Triathlon ist. Was motiviert einen Menschen, das zu tun, wenn nicht der Gedanke: Wenn ich mich quäle, mache ich etwas Gutes. Das ist sozusagen das säkularisierte theologische Programm, das immer in uns steckt. Wenn ich mich quäle, mache ich etwas Gutes und wenn ich diese Qualen aushalte, wenn ich, was jeder zeitgenössische Triathlet sagen wird von sich, mich überwunden habe – manche verwenden sogar noch das christologisch angehauchte Wort vom inneren Schweinehund, der jetzt überwunden werden musste – wenn ich das ausgehalten habe, wenn ich diesen Schmerzen standgehalten habe, dann habe ich für mich etwas gewonnen. Vielleicht nicht die Erlösung, aber doch das gute Gefühl: Ich hab’ mich nicht gehenlassen, ich hab’ mich überwunden, ich bin – wie die moderne Formulierung lautet und das hat direkt mit unserem Optimierungssymposium zu tun – ich bin an meine Grenzen gelangt. Grenzen ausloten. Wie weit kann ich gehen? Was kann ich ertragen und wie kann ich meinen Körper so formen, so trainieren, so gestalten, dass er das aushält, dass er an diese Grenzen gehen kann, das sind die Fragen, die wir uns heute stellen und die schon in diesem Ägidius drinnen stecken. Deshalb geht’s bei Ägidius nicht um einen Heiligen, der einen Märtyrertod stirbt, der für seinen Glauben Zeugnis ablegt, sondern es geht um einen ganz seltsamen Heiligen, denn um denjenigen, der heilig werden will, in dem er in einer ganz bestimmten Art und Weise seinen Körper und seine Leidensfähigkeit diesem Körper gegenüber optimiert. Und man möge es mir jetzt nicht wirklich als Blasphemie auslegen, wenn ich sage: Wäre ich Gott gewesen, hätte ich dem Papst nicht geraten Ägidius heilig zu sprechen. Danke!

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1 Hier ist der Linzer Diözesanbischof Dr. Manfred Scheuer angesprochen, der bei der Eröffnungsveranstaltung anwesend war.

Optimierung des Menschen

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