Читать книгу DIAGNOSE F - Группа авторов - Страница 11

Isabell Hemmrich: Ein ganz normaler Tag

Оглавление

Ich liege auf dem kalten Stahltisch. Ich bin nackt. Ich kann mich nicht bewegen. Sie sind da, um mich herum. Ich spüre ihre Anwesenheit, aber ich kann sie nicht sehen. Die Lampe blendet mich. Ich blinzele. Eine Träne rinnt mir aus dem Augenwinkel, läuft an der Schläfe hinab. Das Salz brennt auf meiner Haut, aber ich kann mich nicht kratzen.

Das passiert gar nicht wirklich, sage ich mir. Du träumst. Du musst nur aufwachen und alles ist wieder gut. Als könne er meine Gedanken lesen, fasst einer von ihnen nach meinem Kopf. Kann er meine Gedanken lesen?

Ich spüre die ledrige Haut an meiner Stirn. Sie ist viel zu warm, wie bei einem Menschen, der hohes Fieber hat. Und eigenartig weich und nachgiebig. Wie Gelatine. Als säßen keine Knochen unter der Oberfläche. Unmöglich, sich sowas einzubilden. Ich träume nicht. Das hier passiert wirklich.

Noch mehr Hände. An meinem Bauch. Auf meinen Brüsten. Zwischen meinen Beinen. Sie betasten mich, aber nicht auf die Art. Nicht, wie es ein Mann tun würde. Ein Liebhaber. Oder ein Triebtäter. Eher wie ein Arzt. Routiniert. Zielstrebig. Emotionslos.

Die Lampe wird gedreht. Jetzt kann ich die Umrisse ihrer Köpfe sehen. Diese seltsam aufgeblähten, birnenförmigen Köpfe mit den riesigen Augen. Insektenaugen, wie schillernde Discokugeln. Einer nähert sich meinem Unterleib. Er hat etwas in der Hand. Die Hand ist viel zu schmal.

Ich sehe das Aufblitzen der Nadel. Nein! Bitte nicht! Bitte, bitte, bitte, ich will jetzt aufwachen! Die Hohlspritze durchsticht meine Bauchdecke. Es tut so weh! Immer tiefer dringt der Fremdkörper in meinen Nabel ein. Es brennt wie Feuer. Scharfes, kaltes Feuer. Mir wird schlecht. Ich muss mich übergeben. Jetzt … wird … alles … schwarz …

Ich setze mich auf. Mein Puls rast, mein Herz hämmert schmerzhaft schnell gegen meine Rippen. Ich bin in Schweiß gebadet. Meine Brust ist ganz eng. Ich weiß zwar, dass ich jetzt wach bin, aber der Albtraum hält mich immer noch in seinen Klauen. Nein, kein Albtraum. Die Erinnerung. O Gott, hört das denn nie auf?

Jede verdammte Nacht dasselbe. Jede Nacht die gleiche Angst, die gleiche Hilflosigkeit, der gleiche Schmerz. Genau wie damals. Ich erleide alle Qualen erneut. Immer wieder.

Bestimmt sind die Schlaftabletten schuld daran, dass ich nicht eher aufwache. Aber ohne das Lendormin würde ich gar nicht schlafen. Es dauert jetzt sowieso immer länger, bis die Tablette wirkt. Wenn sie wirkt.

Am Anfang war eine halbe genug, dann eine ganze. Jetzt bin ich froh, wenn ich nach eineinhalb Tabletten ein paar Stunden Ruhe finde. Wobei – was heißt hier Ruhe? Im Schlaf durchlebe ich erneut, was die mir angetan haben. Jede. Verdammte. Nacht.

Ich schaue auf die Leuchtziffern des Digitalweckers: 4:37 Uhr. Scheiße. Noch nicht mal fünf Uhr morgens. Wie lange habe ich geschlafen? Um Mitternacht war ich noch wach, um 0:46 Uhr auch noch. Da habe ich das letzte Mal nach der Zeit gesehen. Vielleicht bin ich gegen eins eingeschlafen. Nicht mal vier Stunden!

Bald ist das letzte Zehnerpäckchen leer, was mache ich dann? Doktor Meier schreibt mir nicht schon wieder welche auf. Und die Rezeptfreien aus der Apotheke wirken nicht. Davon bekomme ich nur so ein ekelhaftes, taubes Gefühl in den Gliedmaßen. Die schmecken auch so bitter, dass ich sie kaum runterkriege.

Die Lendormin sind geschmacksneutral, fast ein bisschen süßlich. Wenn ich die jemandem in den Drink mischen würde, würde der das garantiert nicht merken. Eine Eins-a-Vergewaltigungsdroge sozusagen.

Ich hatte immer Angst vor Rohypnol-Panschern, hab mein Glas nie aus den Augen gelassen. Hat mir aber auch nix gebracht. Jetzt wär’s mir auch egal. Aber ich gehe ohnehin nicht mehr aus.

Mein Herz hat sich jetzt einigermaßen beruhigt, aber ich spüre immer noch diesen Druck auf der Brust, diese Beklemmung. Ich muss pinkeln. Im Wohnzimmer flimmert der Fernsehbildschirm.

Mein Nachthemd klebt mir am Körper. Ich ziehe es hoch, um meinen Bauch zu betrachten. Warum der Nabel? Damit man hinterher keine Narben sieht? Ich spüre ganz genau, wo die Nadel in mich eingedrungen ist. Mein Fleisch erinnert sich. Ich frage mich, ob man etwas erkennen könnte. Auf dem Ultraschall. Beim Röntgen. Oder sorgen sie dafür, dass keine Beweise zurückbleiben?

Ich habe nie versucht, es herauszufinden. Was soll ich der Ärztin sagen? Ich wurde von Aliens entführt, würden Sie bitte mal nachsehen, ob die außerirdische Kanüle, die sie mir in den Bauch gejagt haben, einen Stichkanal hinterlassen hat? Nächste Ausfahrt Klapse. So blöd bin ich nicht.

Ich kauere mich über die Schüssel und versuche, irgendwie mit dem Urinstrahl zu treffen, ohne eine Riesensauerei anzurichten. Zum Glück habe ich Übung darin. Trotzdem beneide ich die Männer. Der Toilettensitz ist so kalt auf der Haut. So kalt wie der Metalltisch. Ich will das nicht wieder spüren. Nie mehr.

Die Ringe unter meinen Augen sind so dunkel, dass man meinen könnte, ich hätte mich geprügelt. Die übrige Haut ist dafür umso bleicher. Meine Augen waren früher mal haselnussbraun. Jetzt ist die Iris so stumpf, dass die Farbe an vertrockneten Hundekot erinnert. Ekelhaft.

Ich spucke die Zahnpasta aus und spüle mit Wasser nach. Vielleicht sollte ich nochmal zu Doktor Özogul gehen. Der war immer so nett. So wie ich aussehe, nimmt der mir meine Schlafprobleme auch garantiert ab. Natürlich sage ich ihm nicht, warum ich nicht schlafen kann. Vielleicht sage ich, mein Freund hat mich verlassen. Oder, dass mein Vater gestorben ist. Kann der das irgendwie nachprüfen?

Ich darf nur nicht zu gierig rüberkommen. Eher widerwillig. Ja, wenn Sie meinen, dann versuche ich es halt mit Tabletten. So in der Art.

Jetzt erstmal Kaffee. Ich gebe doppelt so viel Pulver in die Tasse wie empfohlen. Werfe drei Zuckerwürfel hinterher. Das brodelnde Wasser verbindet beides in Sekundenschnelle zu einer unauflöslichen Einheit. Wenn ich überhaupt noch irgendwas genießen kann, dann das Gefühl, wie die dunkle, heiße Brühe durch meine Speiseröhre schwappt und sich das Koffein in meinen Nervenbahnen verteilt.

Ohne dieses allmorgendliche Ritual wäre ich zu überhaupt nichts mehr fähig. Manchmal gönne ich mir am Nachmittag eine zweite Dosis. Aber das geht nicht zu oft, weil ich sonst Herzrasen kriege. Und Sodbrennen. Essen kann ich jetzt noch nichts. Dafür liegt mir die Nacht noch zu sehr im Magen.

Ich setze mich an den Computer. Bevor ich mich an den Werbetext für das Hotel Rheingold mache, überprüfe ich das Internet auf Meldungen über sie. Nichts Neues. Ich sehe die Chatrooms durch. Manchmal ist der Drang, mich auch dort einzuloggen, beinahe übermächtig. Mich jemandem mitzuteilen. Aber ich will keiner von denen sein. Von diesen Ufo-Spinnern, die über geheime Regierungsprojekte und feindliche Reptiloiden faseln.

Was bei denen wohl schiefgelaufen ist? Ich meine: Glauben die den ganzen Mist wirklich oder sind die krankhaft geltungssüchtig? Würde mich interessieren, was Doktor Meier denen für eine Diagnose stellen würde. Schizophrenie? Eine Psychose?

Laut Wikipedia bezeichnet Letzteres einen Symptomkomplex, der Wahnvorstellungen, Realitätsverlust und Halluzinationen umfasst. Das passt. Eine akute Psychose ist heilbar, eine chronische bleibt ein Leben lang bestehen und endet schlussendlich in einer Demenzerkrankung. Oje, oje. Da habe ich ja richtig Glück, dass ich mir meine Entführung nicht bloß einbilde. Wobei Glück natürlich auch wieder so ein relativer Begriff ist. Jetzt aber an die Arbeit!

Meine Augen brennen. Die Zeilen auf dem Bildschirm verschwimmen. Verdammt. Jetzt verliert das Koffein schon wieder an Wirkung. So wird das nix. Wie soll ich den Leuten Lust auf den Spa-Bereich der Lohengrin-Therme machen, wenn sich mein Schädel anfühlt, als würde er bersten? Der Druck hinter meinen Augäpfeln ist so groß, dass ich meine, gleich springen sie mir aus den Höhlen. Ich kann so nicht arbeiten.

Aber wenn ich mich jetzt hinlege, komme ich vor heute Abend nicht mehr aus den Federn. Und dann liege ich wieder die ganze Nacht wach. Trotz der Tabletten. Kann mir bis zum Morgengrauen Wiederholungen von Die Trovatos und Berlin – Tag und Nacht angucken.

Früher hätte ich mir lieber eine Gabel ins Auge gerammt, als mir so einen Mist anzuschauen. Aber auf was Anspruchsvolleres kann ich mich nicht konzentrieren. Und ohne Fernseher halte ich es nachts nicht mehr aus. Trash-TV ist immer noch besser, als in der Dunkelheit zu liegen und darauf zu lauschen, ob sie wiederkommen.

Früher dachte ich immer, wenn es eine Art höher entwickelte Intelligenz gäbe, die uns aus dem All beobachtet, dann hätten die der Menschheit schon längst den Garaus gemacht. So als intergalaktische Schädlingsbekämpfungsmaßnahme gewissermaßen.

Stattdessen Untersuchungen. Warum? Aus kranker Neugier? Oder steckt ein Grund dahinter? Das frage ich mich: Was die von mir wollen. Aber ich frage mich nicht mehr, warum es gerade mich getroffen hat.

Manche von den Spinnern behaupten, dass wir etwas Besonderes sind. Beneidenswerte Auserwählte. Ich sehe nicht ein, was daran beneidenswert sein soll, der Willkür dieser hässlichen, kleinen Monster ausgeliefert zu sein. Nackt und bewegungsunfähig. Von ihren widerlichen Wabbelhänden betatscht zu werden. Sich nicht wehren zu können, wenn sie einen mit ihren ekelhaften Instrumenten vergewaltigen.

Ja! Vergewaltigen. Oder wie soll ich das sonst nennen? Die haben mir eine Nadel in die Eingeweide gerammt, scheiße nochmal! Und wozu denn, bitteschön? Zu welchem Zweck machen die das? Das ist doch vollkommen sinnlos.

Sinnlos. Genauso sinnlos wie die Scham. Wofür soll ich mich schämen? Ich habe nichts falsch gemacht. Sagt auch Doktor Meier. Dass es nicht meine Schuld ist. Ich konnte nichts dagegen tun. Wie hätte ich es verhindern sollen, wo ich mich doch nicht mal rühren konnte?

Ich war so hilflos. Ich glaube, deshalb schäme ich mich. Weil ich denen ausgeliefert war. Weil ich keinerlei Einfluss darauf hatte, was mit mir passiert. Nicht mal über meinen eigenen Körper hatte ich noch die Kontrolle. Was bleibt dann noch von einem übrig?

Natürlich schäme ich mich auch, weil es einfach nur verrückt ist, was mir da passiert ist. Wie gesagt, ich bin keiner von diesen Fanatikern. Kein Gläubiger, wie sich diese Para-Heinis selbst nennen. War ich nie. Ich würde mich im Gegenteil als rationalen Menschen bezeichnen. Ich glaube nicht an Übernatürliches. Weder an Geister, Yetis noch das Ungeheuer von Loch Ness. An solche Sachen habe ich nie geglaubt. Auch nicht an kleine grüne Männchen. Wieso eigentlich grün? Sie sind doch grau.

Ich weiß selbst, wie irrsinnig das alles klingt. Was heißt klingt? Es ist irrsinnig. Aber es ist trotzdem passiert. Einfach so. Ich habe nichts provoziert. Keine verrückten Drogenexperimente. Keine Hypnoseregressionstherapie. Ich denke mir das alles auch nicht aus, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Welche denn, bitteschön? Ich hab ja keinem davon erzählt. Nicht mal Doktor Meier. Habe mir ihm gegenüber was von sexuellem Missbrauch in der Kindheit zusammengereimt. Hat ja auch irgendwie Parallelen. Die Angst. Die Hilflosigkeit. Der Ekel. Die Wut. Die Scham.

Es sind jetzt dreihunderteinundvierzig Tage, acht Stunden und zwölf Minuten, seit sie mich geholt haben. Nein, nicht seit sie mich geholt haben. Seit ich auf dem Schlafzimmerboden aufgewacht bin mit einem mörderischen Ziehen im Unterleib und falsch zugeknöpfter Schlafanzugjacke. Dreihunderteinundvierzig Nächte mit der Angst, dass es wieder passiert.

Die Summe aller Gräuel. So hat mal irgendein Schriftsteller den Akt der Vergewaltigung genannt. Weiß nicht mehr, wo genau ich das gelesen habe. Schlimmer als Mord, weil das Opfer gezwungen ist, mit der Erinnerung an das Verbrechen zu leben. Doktor Meier benutzt nie das Wort Opfer. Er sagt, ich bin eine Überlebende.

Was er wohl sagen würde, wenn ich ihm die Wahrheit erzählen würde? Dass gar kein böser Onkel nachts in mein Kinderzimmer geschlichen ist. Dass überhaupt niemand geschlichen ist. Dass die einfach neben meinem Bett standen. Wie aus dem Nichts. Dass mir niemand den Mund zugehalten hat, damit ich nicht schreie. Weil ich gar nicht schreien konnte. Dass plötzlich alles schwarz wurde, und als ich aufgewacht bin, war da nur dieses grelle, gleißende Licht über mir. Das kalte Metall. Ihre Hände … Die Nadel …

Wahrscheinlich würde Doktor Meier sachlich bleiben, wie immer. Verständnisvoll. Mitfühlend. Aber hinter seiner professionellen Anteilnahme würde ich es in seinem Blick lesen: eine Verrückte! Nicht, dass er dieses Wort jemals benutzen würde. Das ist ja nicht mehr pc. Schon gar nicht in seinem Berufsstand.

Schlafparalyse. Out-of-body experience. Hypnagoge Halluzinationen. Irgend so eine Erklärung würde er mir auftischen. Mich in wohlklingendes Fachchinesisch einlullen. Aber hinter seiner hohen Stirn mit dem zurückweichenden Haaransatz, hinter der Fassade von Verständnis und Mitgefühl, würde ein Stempel auf meine imaginäre Patientenakte niederknallen: bekloppt. In alarmroten Großbuchstaben.

Magensäure verbrennt mir die Schleimhäute. Steigt mir sengend die Speiseröhre herauf. Ich schmecke sie im Mund. Bitter und gallig. Ich muss was essen.

Wenn man die Sache mal rational betrachtet: Geschichten von kleinen, nichtmenschlichen Wesen hat es schon immer gegeben. Überall auf der Welt. Man denke nur an die Mythologie der Kelten: das Kleine Volk. Oder die isländischen Elfen. Das Wort Elfe bedeutet Lichtgestalt.

Das Licht in ihrem Operationssaal war so hell, so gleißend. So kalt …

Zwergenmärchen. Herr der Ringe. Ist es Zufall, dass Zwerge so oft meisterhafte Schmiede sind? Vielleicht konnten sich die Menschen früher nur so erklären, dass sie über fremdartiges Metall verfügen, das es auf der Erde nicht gibt? Glänzende Raumschiffe. Chirurgischer Stahl. Das kaltweiße Aufblitzen der Nadel …

Oder nehmen wir das Mittelalter: Inkuben. Sukkuben. Dämonen, die die Menschen nachts in ihren Schlafzimmern besuchen und zum Sex zwingen. Geschichten über den Hexenflug. Ja, selbst die Bibel berichtet von Ufo-Sichtungen und Entführungen: Hesekiels Thronwagen. Jakobs Leiter. Elias Himmelfahrt. Und was sind Engel anderes als außerirdische Lichtwesen …?

Chronisten zufolge flohen die Sachsen 775 bei der Sigiburg nahe Dortmund vor dem Heer Karls des Großen, weil sie zwei fliegende, feurige Schilde am Himmel sahen.

Ich muss weiterschreiben. Arbeiten. Geld verdienen. Ich habe verdammtes Glück, dass ich von zu Hause aus arbeiten kann. Nicht auszudenken, wenn ich mich jeden Tag ins Büro schleppen müsste. Aber ich kann mich so schlecht konzentrieren.

Doktor Meier hat mir Übungen empfohlen. Massenhaft Übungen: Über-Kreuz-Übungen, um das Zusammenspiel der Hirnhälften zu fördern. Meditationsübungen, um den präfrontalen Cortex zu stärken. Auf-dem-Kopf-Lesen. Spiegelverkehrt schreiben. In einer Fremdsprache denken. I was abducted by aliens and now my life is totally fucked up.

Nutzen Sie Ihren Aufenthalt im Hotel Rheingold, um auf Richard Wagners Spuren zu wandeln. Der Walk of Wagner führt Sie auf Ihrem Weg von der Villa Wahnfried zum Festspielhaus zu authentischen Wagner-Stätten … Der Walk of Wagner beginnt an Richard Wagners ehemaligem Wohnhaus, der Villa Wahnfried, in der das renommierte Richard-Wagner-Museum … Zu viel Wagner. Auf dem Walk of Wagner erwarten Sie Plastiken des renommierten Bildhauers Ottmar Hörl … Ach, scheiße!

Wen interessiert das denn? Meine Schädeldecke zerspringt gleich. Ich brauche ein Aspirin. Besser gleich zwei oder drei. Wird meinem Magen nicht gerade guttun, aber was soll’s? Schlucke ich halt nachher noch ein Rennie.

Mysteriöse Kreatur am Strand angespült. Ein See-Alien? Nein, das Ding, das da am australischen Leighton Beach angeschwemmt wurde, ist keiner von denen. So sehen sie nicht aus. Das ist nur eine verweste Robbe, von der die Fische ein paar Teile abgebissen haben.

Schon komisch: Seit den Vierzigerjahren sehen die Leute überall Außerirdische. Roswell. Der Gorman Dogfight. Betty und Barney Hill. Dann natürlich die Filme: Kampf der Welten. Unheimliche Begegnung der dritten Art. E. T. Muss wohl irgendwie einen Nerv getroffen haben, das Thema.

Erst Filme. Dann Fernsehserien. Star Trek. Akte X. Nicht zu vergessen: das Merchandising. Massenhaft liebenswert-niedliche oder abstoßend-grässliche Alien-Püppchen zum In-die-Vitrine-Stellen. Gummimasken mit riesigen schwarzen Augen. Zum Kotzen! Wenn die wüssten, wie es sich anfühlt, von solchen Augen angestarrt zu werden. Wie sie sich einem in die Seele bohren und man jegliche Kontrolle …

Außerirdische sind überall. In den Schaufenstern. Im TV. Auf T-Shirts. In Büchern. Es gibt Fachzeitschriften über Präastronautik und kleine Plastikfiguren mit winzigen Organen zum Autopsie-Spielen fürs Kinderzimmer. Sie stieren einem von graffitibeschmierten U-Bahn-Tunnels und Baseballmützen entgegen. Aber keiner glaubt an sie. Nur diese Spinner aus den Foren. Und ich.

Gibt es in Australien überhaupt Robben? Mal googeln. Australische Tierwelt. 15 Tiere, die es sonst nur in Zoos gibt. Koalas. Kängurus. Klar, kennt jeder. Gefährliche Tiere in Australien. Brown snakes. Würfelquallen. Angst vor Spinnen und Insekten? Sydney-Trichternetzspinne. Gespenstschrecke. Australische Riesenmantis …

O Gott! Diese Augen! Eine grüne Gottesanbeterin. Auch die Augen mit den stecknadelkopfgroßen Pupillen sind grün. Aber sonst … Genau wie bei ihnen. Riesige Insektenaugen, seelenlos, gefühllos – o Scheiße! Mir wird schlecht. So schlecht … Krieg keine Luft mehr. So übel … Kann nicht atmen … O Gott!

Ich sehe meinen Laptop. Den Schreibtisch. Die Topfpflanze. Ich höre das Summen des Modems. Das Ticken der Wanduhr. Die Fernsehstimmen im Hintergrund. Ich spüre die Tischplatte unter meinen Händen. Die Sessellehne im Rücken. Den Boden unter den Füßen.

Ich sehe den Bildschirm. Ich sehe die Topfpflanze, eine Grünlilie. Ich höre ein Auto unten auf der Straße. Die Wanduhr. Ich spüre die Maserung der Schreibtischplatte unter den Fingerspitzen. Den Stoffbezug der Armstützen an den Ellenbogen. Ich sehe meine leere Kaffeetasse. Ich höre, wie jemand hupt. Ich spüre das glatte Porzellan der Tasse in meiner Handfläche.

5–4–3–2–1. Hat mir Doktor Meier beigebracht. Eine Stabilisierungstechnik für Traumatisierte: bewusste Wahrnehmung der Außenwelt, um dem Abdriften in Flashbacks entgegenzusteuern, sich durch die Konzentration auf unmittelbare Sinneseindrücke wieder in der Gegenwart zu verankern. Reorientierung, wie Meier dazu sagt.

Es hilft. Ich kann wieder atmen. Bin wieder im Hier und Jetzt. Nicht mehr bei denen. Langsam beruhigt sich mein Herzschlag wieder. Ein klein wenig zumindest. Meine Hände sind schweißnass. Ich wische sie an meiner Hose trocken. Fühle den Jeansstoff unter den Handballen. Rau. Vertraut. Gut.

Die Nächte sind schlimm. Aber die Flashbacks sind die Hölle. Warum tun die mir das an? Kranke kleine graue Wichser. Ich hasse sie. Auserwählt – am Arsch!

Mich hasse ich auch. Meinen Körper. So hilflos. Nutzlos. Wertlos. Konnte mich nicht bewegen. Die haben mich angefasst. Überall. Ich bin besudelt. Dreckig. Ich würde mir am liebsten die Haut abziehen. Abziehen und verbrennen.

Es tut mir leid. Doktor Meier sagt, ich soll lieb zu mir sein. Meine Haut kann nichts dafür. Mein Körper ist nicht schuld an dem, was die mit ihm gemacht haben. Ich bin nicht schuld. Ich bin unschuldig. Ich kann nichts dafür. Ich kann überhaupt nichts dafür, verdammt. Ich weiß das. Aber ich hasse mich trotzdem.

Und ich schäme mich so. Das vor allem. Es ist eine Sache, zu wissen, dass die Scham unbegründet ist. Natürlich weiß ich das. Ich. Konnte. Nichts. Dafür. Eine andere Sache aber, eine ganz andere, ist es, das auch zu fühlen.

Die haben mich erniedrigt. Gedemütigt. Benutzt haben sie mich. Die haben mich benutzt! Nicht als Sexualobjekt, wie etwas Begehrenswertes, sondern wie … wie Vieh. Als Laborratte. Die haben mich nicht als Mensch wahrgenommen. Oder doch? Sind wir Menschen für sie das, was für uns Labortiere sind? Dann gnade Gott uns allen.

Nach den Flashbacks bin ich immer hellwach. Das Adrenalin schießt noch durch meine Adern, putscht mich auf. Mein Puls ist zu schnell. Hat mir auch Doktor Meier gezeigt: Pulsmessen.

Ist gar nicht so einfach wie in den Filmen. Ich habe meine Finger früher mittig auf die Pulsadern gepresst. Dabei muss man unterhalb des Daumens fühlen. Arteria radialis. Nicht zu fest drücken. Dann dreißig Sekunden lang zählen. Dabei komme ich oft raus. Anschließend mal zwei und das ergibt den Puls pro Minute. Siebenundsechzig Schläge habe ich gezählt, mal zwei … hundertvierunddreißig.

Ich muss mich beruhigen. Ich gehe zum Fenster. Öffne es. Schaue runter auf die Straße. Die parkenden Autos. Eine Frau führt ihren Hund Gassi. Ein Shih-Tzu. Oder ein Havaneser. So was Wuscheliges halt. Pinkelt an die Laterne. Der Hund, nicht die Frau. Haha. Ich kann ja richtig witzig sein. Dann ist ja alles nur halb so schlimm, oder?

Die Luft ist angenehm kühl. Klärt meine Gedanken. Ich wüsste gern, ob das irgendwann aufhört. Nicht nur die Flashbacks. Nicht nur dieser Ekel vor mir selbst. Das alles. Die durchwachten Nächte. Die Konzentrationsschwäche. Die ganze unnütze Grübelei. Grübele ich gerade darüber nach, ob die Grübelei aufhört?

Ich frage mich, ob ich mich jemals wieder auf eine Toilette setzen kann. Oder mich im Winter am Treppengeländer der U-Bahn-Unterführung festhalten. Vermeidungsstrategie nennt man das, was ich mache beziehungsweise nicht mache. Habe ich gelesen. Doktor Meier kann ich ja nichts davon erzählen. Von dem Metalltisch. Verträgt sich nicht mit der Böser-Onkel-Story.

Ich glaube, ich gehe mal wieder zurück an den Computer. Sonst wird dieser Scheißwerbetext nie fertig.

Ich bin plötzlich so müde. Meine Gedanken kreisen. Kann kaum noch die Augen offen halten. Ich muss schlafen gehen. Habe mir ein extrabreites Sofa gekauft. Das Bett ist auf dem Sperrmüll gelandet. Dort habe ich mich nicht mehr wohlgefühlt, ausgeliefert irgendwie. Noch so eine Vermeidungsstrategie

Es ist erst 19:28 Uhr. Das wird wieder eine beschissene Nacht werden. Eine beschissene Nacht nach einem ganz normalen Tag. In der Hölle.

Ich schlüpfe in mein Nachthemd. Ich trage keine Schlafanzüge mehr. Kann ich nicht. Ich würde immer an die Knöpfe denken. An den dritten Knopf von oben im vierten Loch. Und an den Knopf ganz unten, der keinen Platz zum Reinschlüpfen mehr gefunden hat. An die Falte zwischen Knopf zwei und Knopf drei, wo sich der Stoff aufbläht wie ein Segel.

Durchs All reisen, aber ein einfaches Pyjamaoberteil nicht zuknöpfen können. Das sind mir die Richtigen. Ganz schön schlampig, solche Beweise zu hinterlassen. Oder war das Absicht? Wollen die vielleicht, dass ich mich erinnere? Um mir zu sagen, dass das nicht alles war? Dass sie wieder kommen? Ich darf jetzt nicht an sowas denken.

Mir ist so komisch. Ich bin so müde, dass ich kaum die Augen aufhalten kann. Andererseits kribbelt alles in mir, als würden Ameisen durch meine Blutbahn kriechen. Ich vibriere geradezu vor Unruhe. Das ist nicht normal. Scheiße, das ist nicht normal! Es ist wie damals …

Beruhig dich! Ich denke an Doktor Meier. 5–4–3–2–1.

Ich sehe das bläuliche Flimmern des Fernsehers. Das Fußende der Couch. Die Leuchtziffern des Weckers. Den Umriss des Fensters. Das Licht der Straßenlaterne davor. Ich höre die Fernsehstimmen. Das Brummen des Kühlschranks aus der Küche. Das Ticken der Wanduhr. Ein Auto fährt vorbei. Hupen.

Ich spüre das Sitzpolster an meinem Rücken. Das Kopfkissen an meiner Wange. Das Gewicht der Daunendecke. Die glatte Oberfläche des Nachttischchens unter meinen Fingerspitzen. Das Wasserglas. Ich sehe das Fernsehflimmern. Das Fensterkreuz. Das Laternenlicht. Die Sofalehne.

Ich höre … nichts. Nichts! Es ist totenstill. Der Fernseher flimmert nicht mehr. Nur noch ein starrer blauer Schein wie vom Testbild fällt durch die Tür.

Die Atmosphäre im Zimmer ist plötzlich dichter. Eine seltsame Schwere liegt in der Luft. Drückt nach unten. Wie vor einem Gewitter. Meine Haut juckt. Überall.

Nein! Nein!! Bitte nicht. Nicht nochmal. Nicht nochmal, bitte! Jemand steht neben mir. O Gott!! Sie sind da. Wie aus dem Nichts. Bin wie gelähmt. Kann nicht schreien. Geht weg! Bitte! Geht weg!

Einer von ihnen kommt näher. Nicht! Weg, bitte geh weg! Sein Gesicht ist so nah. Die Augen. So groß. So dunkel. Kann nicht wegsehen. Er starrt mich an. Starrt in mich hinein. Diese Augen. Saugen mich auf wie schwarze Löcher. So dunkel. So tief … Ich versinke …

Licht. Hell. Gleißend. Wie beim letzten Mal. Aber ich liege nicht. Kein Stahltisch. Ich stehe. Bin angezogen. Kaltes Metall unter meinen nackten Fußsohlen. Ich blinzele. Blinzele nochmal. Meine Sicht klärt sich.

Da sind sie. Es sind so viele. Sie reichen mir nicht mal bis zur Brust. Da ist auch der Tisch. Etwas liegt darauf. Nein. Es sitzt. Jemand. Jemand sitzt darauf. Jemand, der noch viel kleiner ist als sie.

Taubengraue glatte Haut. Ein birnenförmiger Kopf. Lippenloser Mund. Zwei schlitzförmige Nasenlöcher ohne Knorpel. Genau wie sie.

Aber die Augen … die sehen aus wie meine.

DIAGNOSE F

Подняться наверх