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Diagnostischer Kommentar

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Wer hätte gedacht, dass die kürzeste Story den längsten diagnostischen Kommentar hervorbringt? Aber so ist es!

Die Geschichte ist eine Neuinterpretation des Märchens »Der kleine Häwelmann« von Theodor Storm. Sie weist fantastische Elemente auf, die streng genommen nicht der Science-Fiction zuzuordnen sind, obwohl eine Mondfahrt vorliegt.

Dieser diagnostische Kommentar stellt eine Ausnahme dar, die sich vor allem auf seine Länge bezieht, aber auch darauf, dass hier deutlich mehr Experten ihre Einschätzung abgegeben haben. Mir war es wichtig, anhand des Falls Häwelmann den Leser daran teilhaben zu lassen, wie schwierig sich die Differenzialdiagnostik zuweilen gestalten kann.

Fangen wir an!

Wir haben in der Story einen Protagonisten, Häwelmann, der behauptet, er verübe Morde, weil er sich vom Mond seit seiner Kindheit verfolgt fühlt und dieser ihm die Morde befohlen hat. Ich gehe zunächst von einem einfachen Wahn, einem Beeinflussungswahn, und visuellen Halluzinationen aus und ziehe als infrage kommende Diagnosen F22.0, die wahnhafte Störung, und F20.0, die paranoide Schizophrenie, in Betracht. Aber fachliche Zweifel nagen an mir. Deshalb ziehe ich Kollegen zurate.

Ein psychotherapeutischer Kollege antwortet mir bestätigend: »Wegen des Beeinflussungswahns würde ich eher auf F22.0 tippen.« Klingt einleuchtend, denke ich mir. Dann ist die Sache wohl geritzt. Von wegen!

Ein anderer Kollege, Jan Cernohorsky, Oberarzt in einer Psychiatrie, antwortet ungleich ausführlicher: »Die F22, also eine anhaltende wahnhafte Störung, wäre es nur dann, wenn Herr Häwelmann in anderen Lebensbereichen relativ strukturiert und beieinander ist. Abgesehen von dem Wahn, der zu den Morden führt, weist Häwelmann jedoch kaum Auffälligkeiten auf, erst recht keine Bizarrheit im Verhalten, wie es wiederum bei einer Schizophrenie zu erwarten wäre.

Die anhaltende wahnhafte Störung ist ein Zustand, der nach einer langsamen psychotischen Entwicklung, typischerweise um das vierzigste Lebensjahr herum, erreicht wird.

Außerdem muss Wahn von Halluzinationen unterschieden werden. Wenn Häwelmann tatsächlich imperative, also befehlende Stimmen hört, ist die Diagnose F22 wiederum eher unwahrscheinlich, denn bei ihr treten meist keine Halluzinationen auf, auch keine visuellen.

Solche imperativen Halluzinationen, wie sie in der Geschichte beschrieben werden, habe ich jedoch bisher noch nie gehört. In aller Regel entstammen die Befehle einer oder mehrerer Stimmen im Kopf des Betroffenen. Hier den Mond als Stimmengeber zu benennen, erscheint mir in der Funktion, belastende Emotionen abzuwehren, als zu lasch.

Eine Gedankeneingebung als weiteres mögliches Wahnsymptom ist für die F22 ebenso unwahrscheinlich wie die Behauptung, das hätte schon in der Kindheit seinen Anfang genommen.

Die innere Denkstruktur bei einem Patienten mit der Diagnose F22 versucht man, als Diagnostiker zu verstehen. Meist gelingt das auch nach einiger Zeit – im Gegensatz zur F20, zur Schizophrenie, wo sogar jedem Laien meist sofort klar wird, dass vernünftige Gespräche unmöglich sind und der Erkrankte sofortige psychiatrische Hilfe benötigt. Die F20 fängt allerdings abrupt an, passt also ebenfalls nicht zu den Beschreibungen in der Geschichte.

Dass Häwelmann fünfundzwanzig Jahre alt ist, spricht gegen die F22, die anhaltende wahnhafte Störung. Die Geschichte ist zu abenteuerlich.

Und jemand mit dieser Störung würde wahrscheinlich keine Morde verüben, schon gar nicht ritualisiert, wie es in der Geschichte mit der Reihenfolge Katze – Kalb – Mädchen angedeutet wird. Das ergibt keinen Sinn und entspricht auch nicht der inneren Wahnlogik. Personen mit F22 haben einen fixen Wahn, der sich nicht entwickelt.«

Das ist viel Input. Ich höre heraus, dass sich Cernohorsky mehr gegen die F22.0 als gegen die F20, eine Schizophrenie, ausspricht. Oder?

»In der Erzählung gibt es vier Punkte, die mich auch hinsichtlich einer endogenen Psychose, also einer Schizophrenie, stutzig machen. Erstens: Warum sollte Häwelmann Offenheit versprechen? Ein Schizophrener ist einfach offen, weil er die Wahrheit verkündet. Die Möglichkeit, jemand könnte das, was er erzählt, infrage stellen, existiert für ihn nicht.

Zweitens: Seine moralische Einschätzung ich gebe zu, ich habe scheußliche Verbrechen begangen passt ebenfalls nicht zum Symptombild. Beim Schizophrenen mit Wahn ist die Moral als Über-Ich-Struktur als Erstes ausgeblendet. Außerdem erinnert sich ein Schizophrener nicht an seine Taten, die er während der psychotischen Phase verübt hat. Dieses Bekenntnis würde ich als Zeichen seiner Zurechnungsfähigkeit betrachten.

Drittens: Seine Aussage Sie sind mir entgegengekommen als spontanes Zeichen der Dankbarkeit ist bei Schizophrenie und bei als real erlebter Verfolgung ebenfalls Unsinn.

Viertens: Warum behauptet Häwelmann, die Männer dort mit der Zwangsjacke werdet Ihr nicht brauchen?

Wenn er wirklich solch eine Vernichtungsangst hätte, dass der Mond auf die Erde stürzt, würde er sich anders ausdrücken. Sicher würde er sich nicht mit seinen Gedanken bei den nichtigen Männern aufhalten, die regungslos und gelangweilt dastehen und irgendwo eine Zwangsjacke versteckt haben. Seine Gedanken würden sich vielmehr mit etwas Großem, wie dem Mond, beschäftigen, denn jeder Wahn hat etwas Überwertiges.«

Jetzt habe ich den diagnostischen Salat, denke ich. Es wird immer komplizierter. Die analytischen Begrifflichkeiten erschaffen zudem eine ganz eigene Vorstellungswelt. Aber es kommt noch überraschender. Cernohorsky fährt fort:

»Wäre ich Beisitzer bei dieser Gerichtsverhandlung, müsste ich in der Gegenübertragung schmunzeln, nach dem Motto: Meint Häwelmann das ernst, oder möchte er uns verarschen? Ein Patient mit F20, einer Schizophrenie, wäre im Auftreten gröber, mit viel mehr Unruhe und Aggressivität. Dann müsste in der Gegenübertragung bei mir aber ein Gefühl entstehen, dass das, was er erzählt, wirr und destruktiv ist. Stattdessen beschleicht mich das Gefühl, dass er gezielt und manipulativ berichtet.«

Nun gut, denke ich, ich benötige jetzt eine Komplexitätsreduktion. Ich vereinfache für mich selbst: Gegen F22 sprechen Häwelmanns Alter und das Groteske in seiner vorgetragenen Geschichte. Gegen F20 sprechen sogar noch mehr Punkte. Sollte ich mich als Mitherausgeber und Psychotherapeut nun für die F22 entscheiden, sozusagen als das kleinere Übel?

Cernohorskys nüchterne Antwort: »Anhand der Angaben in der Erzählung lässt sich das nicht entscheiden.« Na toll!

Er setzt sogar noch einen drauf und bringt eine weitere mögliche Diagnose ins Spiel: »Da ist ja auch noch die Beobachtung, wie Häwelmann mit Worten (und Menschen) spielt. Allein schon die Ansprache Euer Ehren. Alles, was er sagt, spricht er wohlüberlegt aus, vorwegnehmend, wie seine Worte auf andere wirken werden.

Da zudem keine formale Denkstörung vorliegt, würde ich zur Diagnose einer Psychopathie neigen, also zur F60.2, der dissozialen Persönlichkeitsstörung, mit psychogen bedingter psychotischer Distorsion der Realität, die – rein psychopathologisch – den Ausdruck in einem Verfolgungswahn findet.

Streng genommen liegt keine Gedankeneingebung vor, Häwelmann kommuniziert mit dem Mond nicht, es liegen auch keine visuellen Halluzinationen vor, nur eine Wahnwahrnehmung, nämlich dass der Mond immer größer wird, was jedoch eine inhaltliche Denkstörung im Sinne des Verfolgungswahns ist.

Häwelmann erlebt die Verfolgung nicht seit seiner Kindheit. Diese Behauptung ist unbewusst erfunden, er bettet sie erst später in seine Erzählung ein.

So gefragt sehe ich vor Augen einen Serienmörder mit Verhaltensstörungen in der Kindheit, in der er bereits Katzen tötete.«

Diese Diagnose stellt eine überraschende Wendung dar. Soweit Kollege Cernohorsky.

Wenn Sie, lieber Leser, die diagnostische Odyssee weiterverfolgen möchten, bietet die Autorin Nora Hein, tätig in einer forensischen Psychiatrie und Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung, eine Fortsetzung an.

Ihre Notizen zum Fall Häwelmann lauten wie folgt: »Gedanklich geordneter Mitte-20-Jähriger. Störungsbeginn im Alter von drei Jahren. Wahnhaft (Verfolgungswahn), optische Halluzination (Wachstum des Mondes), selbsterhöhend (agiert Narzissmus sogar vor Gericht aus, ist dabei sehr manipulativ – Gericht tagt wegen ihm nachts).

In seiner Sprechart selbstdarstellerisch, dabei stringente, gebildete Sprache, gedanklich nicht zerfahren, keine Gedankensprünge. Zwar keine verwaschene Sprache, gleichwohl kataton anmutende Wiederholung des Wortes stürzen.

Kein Schuldbewusstsein, Selbstverständnis von Opferrolle (eigene vermeintliche Entführung als Kind im Zusammenhang mit späteren Morden), Abwendung der eigenen Schuld auf Wahnidee, Abwertung der Opfer (mit Mondkalb könnte ein dummer, einfältiger Mensch gemeint sein).

Die vorgenannten ICD-10-Diagnosen F20 und F22 sind für mich ebenfalls fraglich, allerdings auch die F60.2 mit psychotischer Distorsion. In weiten Teilen schließe ich mich dem Kollegen Cernohorsky an. Für die F20 ist das gesamte Funktionsniveau zu hoch und die offenkundigen persönlichkeitsstilistischen Probleme wären hierbei nicht abgedeckt. Auch die Taten (Töten mit einem sichelförmigen Messer) sind symbolisch zu durchdacht und geordnet (nachts losgehen, um zu töten) für eine übliche Tat eines an F20 Erkrankten.

F22, die wahnhafte Störung, ist bei Halluzinationen auszuschließen. Häwelmann berichtet imperative Verhaltensaufforderungen (unklar bleibt, ob optisch oder akustisch) durch den Mond.«

Hein favorisiert die F21, die schizotype (Persönlichkeits-)Störung. Wörtlich steht in der ICD-10: »Eine Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, die schizophren wirken, obwohl nie eindeutige und charakteristische schizophrene Symptome aufgetreten sind. Es kommen vor: ein kalter Affekt, Anhedonie und seltsames und exzentrisches Verhalten, Tendenz zu sozialem Rückzug, paranoische oder bizarre Ideen, die aber nicht bis zu eigentlichen Wahnvorstellungen gehen, zwanghaftes Grübeln, Denk- und Wahrnehmungsstörungen, gelegentlich vorübergehende, quasipsychotische Episoden mit intensiven Illusionen, akustischen oder anderen Halluzinationen und wahnähnlichen Ideen, meist ohne äußere Veranlassung. Es lässt sich kein klarer Beginn feststellen; Entwicklung und Verlauf entsprechen gewöhnlich einer Persönlichkeitsstörung.«

Nora Hein sieht bei Häwelmann viele dieser Beschreibungen als zutreffend an. Sie argumentiert weiter: »Es ist wie eine Pseudoschizophrenie. Oder auch eine pseudopsychopathische Schizophrenie, die gekünstelte, pathetische Sprechweise, seine ungewöhnlichen Überzeugungen, das ganze, exzentrische Sonderlingsverhalten … Kurz: Wir haben bei der genauen Beschreibung dieser Diagnose ganz klar die Aspekte, die Cernohorsky mit der F60.2 und der psychotischen Distorsion hervorheben wollte.«

Ihrer Meinung nach werden vor allem die frühkindliche Entstehungsgeschichte und das klinische Bild, das ein Zusammenspiel aus affektiver Kühle, gekünstelter Sprechweise, manierierten Äußerungen sowie paranoiden Wahnideen präsentiert, am ehesten durch die F21-Diagnose gespiegelt.

Ich bin sprachlos über diese Wendung. Aber die Herleitung klingt nachvollziehbar. Also spricht mehr für die Diagnose einer schizotypen Störung (F21) als für eine dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2)?

Geben wir Jan Cernohorsky die Möglichkeit, zu Frau Heins Ausführungen Stellung zu beziehen. In vielen Punkten stimmt er ihrer Einschätzung zu: »Richtigstellen möchte ich allerdings, dass die von Häwelmann beschriebene Wahrnehmung des Mondes keine Halluzinationen sind, sondern inhaltliche Denkstörungen beziehungsweise Wahnwahrnehmungen. Die Mondwahrnehmung ist eine stark narzisstisch gesättigte Beziehungsfantasie, nahe einem Größenwahn, die die Größe und Bedeutsamkeit des Gedankenautors spiegelt.

Zwar wird die F21 selten vergeben, aber sie könnte tatsächlich gut passen. Auch Häwelmanns Pseudophilosophieren über Moral würde hierzu besser passen; für eine F60.2 wäre dieses Verhalten tatsächlich zu bizarr.

Psychodynamisch gesehen, also ohne Beschränkung auf eine deskriptive ICD- oder DSM-Diagnose, könnte man über einen malignen Narzissmus nach Kernberg sprechen, der nah einer atypischen Psychose ist. Bestimmt wird Häwelmann in jungen Jahren frühkindliche Traumatisierungen erfahren haben, vielleicht eine Bindungsstörung nach Bowlby.

Gut ist die Beobachtung der Kollegin hinsichtlich der Wiederholung des Wortes stürzen, als wäre Häwelmann in Trance und abgekoppelt von der Realität. Auch das ist wieder etwas Bizarres, Rituelles, Magisches …

Wenn ich mir den Vergleich mit Hannibal Lecter in der Filmreihe, gespielt von Anthony Hopkins, erlaube, so fällt mir auf, dass dessen Augen kalt, leer und gefährlich aussehen. Die von Häwelmann hingegen blicken verwundert; er wirkt kindlich. Wir wissen nicht genau, wie Häwelmann das Morden erlebt, also ob das, was er erzählt, eher seiner Selbstdarstellung zuzuschreiben ist oder ob er tatsächlich emotionslos ist. Ist die Verwendung des Begriffs Mondkälber verachtend gemeint?

Ich denke, die Diagnosen F60.2 und F21 liegen nicht allzu weit auseinander. Im DSM-V (siehe Vorwort) gehört die F21 wie die F60.2 zu den Persönlichkeitsstörungen: die schizotype oder schizotypische Persönlichkeitsstörung.

Legt man diagnostisch den Schwerpunkt auf das Bizarre, die Exzentrik, das magische Denken und die vage, gekünstelte Sprache, würde ich tatsächlich ebenfalls die F21 in Erwägung ziehen.«

Ich bin erfreut und endlich zufrieden: Zwei Psychoseexperten nähern sich in ihrer Einschätzung an und einigen sich zu guter Letzt auf eine Diagnose.

Wie schon im Vorwort erwähnt, liegt bei einigen Erzählungen dieser Anthologie das Hauptproblem der Diagnosefindung natürlich in den wenigen zur Verfügung stehenden diagnostischen Informationen, die wir ausschließlich dem geschriebenen Wort der Geschichte entnehmen müssen. Und diese Story ist zudem besonders kurz. Man könnte sagen: Je weniger Informationen vorliegen, desto schwieriger ist es, eine sichere Diagnose zu stellen, und desto mehr interpretativen Spielraum gibt es.

Eine Klarheit bringende diagnostische Befragung des Patienten Häwelmann ist uns leider nicht möglich, ebenso nicht, Rückschlüsse aus weiteren Beobachtungen seines Verhaltens zu ziehen oder Auffälligkeiten in der Interaktion mit ihm zu erkennen. Insofern stehen uns Psychotherapeuten, Psychiatern etc. im Behandlungszimmer deutlich bessere Möglichkeiten einer verlässlichen Diagnostik zur Verfügung.

Monika Niehaus, die Autorin von »Der Fall Häwelmann«, verfolgte den Entstehungsprozess dieses diagnostischen Kommentars. »Mon dieu, was habe ich dir und euch mit dem Häwelmann angetan! Für mich stand die literarische Figur, die Story, im Vordergrund.

Über die Art der Störung habe ich mir keine näheren Gedanken gemacht. Und jetzt habt ihr den Salat! Ich finde es übrigens positiv, einen solchen Fall zu diskutieren und damit zu belegen, dass das menschliche Gehirn, das bislang komplexeste Organ im ganzen Universum, widersprüchlich ist und manchmal in keine Schublade passt – und dass gerade bei den wenigen zur Verfügung stehenden Symptomen mehrere Möglichkeiten denkbar sind.

Viel Misstrauen erregender finde ich zu große Sicherheit …«

DIAGNOSE F

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