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1972|73

Als Jupp Heynckes zum halben Fortunen wurde

Kerzengerade steht Heino im Mittelkreis, im langen Wintermantel, mit schwarzem Schal und, wie man ihn kennt, mit strohblondem Seitenscheitel und schwarzer Sonnenbrille. Der Schlagersänger hat sichtlich Spaß daran, den Lederball vom Anstoßpunkt aus mit lang durchgestrecktem Bein über den gefrorenen Rasen des Düsseldorfer Rheinstadions zu schießen. Doch noch ungewohnter, als den aktuell so angesagten Barden („Blau blüht der Enzian“ ist in den Charts auf Platz drei) beim symbolischen Anstoß auf einem Fußballplatz zu sehen, ist der Anblick von Spielern wie Jupp Heynckes, Günter Netzer oder Berti Vogts im hellblauen Trikot – mit Fortuna Düsseldorf-Emblem!

Denn das Borussen-Trio steht genau wie Rainer Bonhof und Hacki Wimmer in der Startelf eines besonderen Freundschaftsspiels: Der amtierende Welt- und Europapokalsieger Ajax Amsterdam trifft im nagelneuen Rheinstadion auf eine gemischte Auswahl der beiden rheinischen Rivalen Borussia Mönchengladbach und Gastgeber Fortuna Düsseldorf. Angeleiert hat diese außergewöhnliche Begegnung die Geschäftsführung der Fortuna, denn in Düsseldorf hat eine solche Form des Freundschaftsspiels Tradition: In den 1950er Jahren hat Fortuna solche Spiele regelmäßig gemeinsam mit Rot-Weiss Essen durchgeführt.

Nun also verstärken sich die Rot-Weißen im Duell mit der momentan wohl prominentesten Vereinsmannschaft Europas durch Spieler aus Mönchengladbach. Und auch, wenn Fortuna in der Hinrunde überraschte und auf Platz zwei steht (Borussia ist nur Achter), sind die echten Stars dieses Mixed-Teams in Reihen des VfL zu finden. „Wir hatten uns in zwei Minuten über die Besetzung geeinigt“, verrät Weisweiler aus den Gesprächen mit seinem Düsseldorfer Kollegen Heinz Lucas. Für die Medien ist es das Duell Netzer gegen den genialen Ajax-Spielmacher Johan Cruyff, doch der Niederländer kann gar nicht spielen: Eine Knöchelverletzung zwingt Cruyff zum Zuschauen.

Ansonsten tritt Ajax allerdings in Bestbesetzung an: Johan Neeskens läuft auf, der Linksaußen Piet Keizer ist dabei und auch Torwart Heinz Stuy. Auch die Fortuna-Borussen nehmen die Aufgabe ernst; es ist am Tag vor dem Spiel ein gemeinsames Training angesetzt. Und während sich Düsseldorfs Trainer „internationale Erfahrungen“ für seine Mannschaft erhofft, erwartet Weisweiler: „Sowohl Ajax als auch Fortuna und Borussia sind Mannschaften, deren Stärke in der Geschlossenheit liegt. Darum verspreche ich mir von diesem Spiel erstklassige Leistungen.“


Ungewöhnlicher Dreiersturm: Jupp Heynckes, Heino und Günter Netzer (v. l.).

SAISONVERLAUF

GLANZ IN DEN POKALWETTBEWERBEN Die Saison 1972/73 geht eher als Jagd auf die Pokale in die Borussia-Geschichtsbücher ein. In der Bundesliga bietet die Mannschaft insgesamt die schwächsten Leistungen der jüngeren Vergangenheit – und mit Platz 5 am Ende auch das schlechteste Endergebnis der zurückliegenden Jahre. Borussia stellt zwar mit 82 erzielten Treffern erneut eine echte Torfabrik und nach Meister Bayern München den zweitbesten Angriff der Liga. Allerdings weist die Defensive vor Wolfgang Kleff zu oft Lücken auf, 61 Gegentore sind alles andere als ein zufriedenstellender Wert. Nach wechselhafter Hinrunde (drei Auftaktsiegen folgen drei Niederlagen) steht Borussia auf Rang acht und kann sich nur durch eine stärkere Rückrunde auf den fünften Platz retten. Und auch, wenn die Saison einige Höhepunkte wie das 6:1 gegen den HSV oder das 6:0 gegen den VfL Bochum bereit hält: Das alles ist nichts gegen die Erlebnisse in den beiden Pokalwettbewerben. Im UEFA-Cup setzt sich Borussia unter anderem gegen die deutschen Vertreter aus Kaiserslautern und Köln durch und qualifiziert sich durch zwei Siege gegen Twente Enschede sogar fürs Finale. Dort aber kann man die 0:3-Hinspielniederlage beim FC Liverpool „nur“ mit einem 2:0 auf dem Bökelberg beantworten. Dafür schreibt Borussia mit dem Gewinn des DFB-Pokals Fußballgeschichte: Im Finale gegen den 1. FC Köln wechselt sich Günter Netzer beim Stand von 1:1 zur Verlängerung selbst ein – und schießt nur wenige Minuten später den Siegtreffer, in seinem letzten Spiel für Borussia.

Der Zeitpunkt für diese Partie ist perfekt gewählt: Am 30. Dezember sind ansonsten keine Sportereignisse, viele Fußballfreunde haben Urlaub und wollen einfach ein schönes Fußballspiel mit vielen Stars oder auch das nagelneue Düsseldorfer Stadion sehen. Es wird ein riesiges Event, Heino tritt auf, auch Tony Marschall: Rund 50.000 Besucher kommen ins Stadion. Die Borussen unterstützen ihre Spieler, aber auch die sechs Fortunen im Spiel gegen Ajax. Bei den Düsseldorfern ist es umgekehrt. Borussia Düsseldorf oder Fortuna Mönchengladbach – in der Berichterstattung über diese einmalig zusammengewürfelte Mannschaft wird hinterher schlicht von einer „Kombination“ die Rede sein.

Das Spiel wird den hohen Erwartungen insgesamt nicht gerecht, das Niveau leidet doch sehr unter dem gefrorenen Rasen. Aber dennoch zeigen die Deutschen eine ordentliche und engagierte Leistung – und gehen in der 25. Minute dann auch in Führung. Der Treffer wird vereinsübergreifend herausgespielt, dennoch haben die Borussen im Team den größeren Anteil: Vogts fängt in der Defensive den Ball ab, spielt weiter auf Wimmer. Der wiederum sieht Fortunas Gerd Zewe, der schnell Günter Netzer in Szene setzt. Netzer schaut, spielt in den freien Raum auf Heynckes – und der vollstreckt zum 1:0. Dass Ajax nach einer Stunde durch Neeskens zum 1:1-Endstand trifft, ist ein Tor für die Statistik. Ein Moment für die Ewigkeit hingegen ist sicherlich dieses wohl einmalige Tor in der 25. Minute, über das sich im Rheinstadion sowohl die Fortuna-, als auch die Borussia-Fans in seltener Einigkeit freuten.

Rainer, beim nächsten Mal fahren wir doch lieber mit dem Zug.“

Günter Netzer zu Rainer Bonhof auf einem Flug von Aberdeen nach Liverpool, als Wasser statt Luft aus der Belüftung kommt.

PERSONALIE

GÜNTER NETZER – DER „KING VOM BÖKELBERG“ Zum Feiern ist Günter Netzer eigentlich nicht zumute: „Muss das denn mit dieser Ehrung vor dem Spiel sein?“, fragt Borussias Mittelfeldspieler am Tag vor dem Heimspiel gegen den MSV Duisburg. Netzer ist frustriert, nur wenige Tage zuvor hat er sich eine schwere Oberschenkelzerrung zugezogen und wird gegen die „Zebras“ nicht spielen können. Aber die Ehrung muss sein, Netzer wird vollkommen verdient von Deutschlands Sportjournalisten zum besten Spieler des Jahres 1972 gewählt. Mittlerweile prägt der 28-Jährige nicht mehr nur das Spiel Borussias, sondern auch das der Nationalmannschaft, die mit seiner Hilfe im Vorjahr Europameister wurde. Frisch als bester Fußballer des Jahres ausgezeichnet, dreht sich auch in der Saison 1972/73 alles um ihn: Erst das bange Warten auf seine Rückkehr nach der Verletzung, dann der Kauf eines Ferraris, zahlreiche Wechselgerüchte, überragende Spiele, der Streit mit Hennes Weisweiler, der angekündigte Wechsel zu Real Madrid – und schließlich das Pokalfinale 1973 in Düsseldorf mit Jahrhunderttor nach Selbsteinwechslung, und das im letzten Spiel für seinen Verein – der „King vom Bökelberg“ ist, das gibt Weisweiler schon zu Beginn der Saison zu, „ein richtiger Kerl geworden“.

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