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1. Ein schlafender Riese? Versuch einer Standortbestimmung

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«Der schlafende Riese» titelte 2003 Rüdiger Sachau, zurzeit Direktor der evangelischen Akademie zu Berlin, und eröffnete damit das von Uta Pohl-Patalong herausgegebene Übersichtswerk zur religiösen Bildung mit einem provokativen Beitrag zur gegenwärtigen Situation von Erwachsenenbildung.1 Er zitierte die Bildungsstatistik und verwies auf ihre grosse Bedeutung in Deutschland.2 Ein Riese sei sie, allerdings einer, der «unscheinbar bis unsichtbar»3 sei und eigentlich, so Sachau, schlafe. Auch kirchliche Erwachsenenbildung sei erstarrt, insofern als es ihr im Blick auf die Zukunft nicht gelungen sei, ein «deutliches Selbstbewusstsein» bzw. eine «klare Vertretung ihres Anliegens» zu entfalten. Schliesslich mahnt Sachau: «Der schlafende Riese der Erwachsenenbildung muss sich rechtzeitig besinnen, sonst könnte es ihm eines Tages so gehen wie Gulliver bei den Liliputanern: gefesselt durch die Strukturen wird sie am Boden liegen und sich nicht mehr rühren können.»4 Zur Rekapitulation: Gulliver wurde im 18. Jahrhundert vom irischen Priester und Schriftsteller Jonathan Swift auf die Reise geschickt. Auf seiner ersten Fahrt war Gulliver auf einem Schiff unterwegs, das kenterte. Der Schiffbrüchige erreichte einen Strand und schlief ein. Als er schliesslich aufwachte, war er an Armen und Beinen an den Boden gefesselt. Die kleinen Wesen von Liliput waren am Werk gewesen. |16|


Abb. 1: Zeichnung von Fritz Fischer in: Jonathan Swift, Gullivers Reisen, München 1999, S. 22.

(Der Nachdruck des Bildes geschieht mit freundlicher Genehmigung von Frau Carla Bing, Korchbach.)

Wenn man heute, zehn Jahre später, aktuelle Standortbestimmungen religiöser Erwachsenenbildung konsultiert, drängt sich bisweilen der Gedanke auf, dass Gulliver eine nächste Reisedestination erreicht hat, und zwar das Land der Riesen. Dorthin gelangte er, nachdem er nach seiner Rückkehr aus Liliput erneut aufgebrochen und in See gestochen war. Im Land der Riesen muss er aufpassen, dass er nicht zertreten wird.


Abb. 2: Zeichnung von Fritz Fischer in: Jonathan Swift, Gullivers Reisen, München 1999, S. 120.

(Der Nachdruck des Bildes geschieht mit freundlicher Genehmigung von Frau Carla Bing, Korchbach.) |17|

Religiöse Erwachsenenbildung hat es gegenwärtig nicht einfach, ihren Platz zu behaupten. Ein neulich veröffentlichtes Positionspapier der evangelischen Akademien in Deutschland macht verschiedene Faktoren dafür geltend.5 Einige der im Papier genannten Aspekte fokussieren auf Herausforderungen, die unter Berücksichtigung von spätmodernen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen im Besonderen die evangelischen Akademien mit ihrem Schwerpunkt im Bereich der Diskurskultur betreffen;6 andere Aspekte aber fordern religiöse Bildungsarbeit im Allgemeinen heraus. So verweist das Papier zum einen auf die Veränderung von Zeitrhythmen:7 «Wir leben in einer Gesellschaft, die sich permanent weiter beschleunigt, Momente der Besinnung sind darin kaum noch vorgesehen und das Gefühl des Gehetztseins ist für viele zu einem Dauerzustand geworden.» In der Folge werden all jene Entwicklungen erschwert, die «ihre eigene, unkalkulierbare Zeit brauchen».8 Dazu gehörten Bildungsprozesse im Rahmen von partizipativen Diskursen, wie sie Bildungshäuser vorsehen, dazu gehöre auch Persönlichkeitsarbeit, wie sie in vielen kirchlichen erwachsenbildnerischen Veranstaltungen anvisiert werde. Für die Erörterung grösserer Zusammenhänge und grundlegender Orientierung aber bleibe der Bildung heute kaum noch Zeit.

Ein zweiter im Papier genannter Aspekt ist die Verzweckung von Bildung.9 Mit der knapper werdenden Ressource «Zeit» werde Bildung zunehmend unter dem Aspekt des Nutzens betrachtet und primär in den Dienst der beruflichen Karriere gestellt: Es zähle lediglich, was beruflich oder persönlich weiterbringe. «Reflexive, kritische, interdisziplinäre und gesellschaftspolitische Fragestellungen, die keinen persönlichen Bezug haben, verlieren an Interesse.»10 Indem die Nützlichkeit zum zentralen Kriterium avanciere, büsse Bildung ihren Selbstzweck ein. Gerade im Bereich der religiösen Bildung aber werden Themen bearbeitet, die sich der Logik einer unmittelbaren Verwendbarkeit bisweilen entziehen und nicht nur den Ziel-, sondern auch den Prozesscharakter von Bildung betonen. Allerdings gerate religiöse Erwachsenenbildung mit dieser Grundausrichtung zunehmend ins Abseits. |18|

Als Folge u. a. dieser beiden Aspekte muss das Ende der «erfolgreiche[n] Ära kirchlicher Bildungsstätten im Grünen» genannt werden.11 Über Jahrzehnte standen in der Schweiz Namen wie Gwatt, Sornetan, Magliaso, Rügel usw. für hochwertige kirchliche Erwachsenenbildung. Die Bedürfnisse der Gesellschaft haben sich geändert. Mit der Zeitverdichtung besser vereinbar scheinen Abend- oder Wochenendveranstaltungen in Stadtnähe oder in der Stadt zu sein. Herbert Pachmann, der die schweizerische Situation untersucht hat, spricht von einer geradezu «tektonische[n] Verschiebung» in der Bildungslandschaft: Gefragt seien heute insbesondere urbane Lernorte, wo «schlanke, inhaltlich relevante Angebote ohne lange Anreise, Gastronomie und Hotellerie» gemacht werden.12

Religiöse Erwachsenenbildung

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