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3.2. … und befreit zum Leben

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Die Neuorientierung, die sich in den letzten Jahren in der religiösen Erwachsenenbildung vollzogen hat, kommt in folgenden zusammenfassenden Sätzen von Könemann nochmals prägnant zum Ausdruck:

«Nicht der zu verkündigende Glauben steht im Vordergrund, für den und in dem das Individuum gebildet werden soll, also nicht das Konzept einer Erwachsenenbildung als Verkündigung steht im Vordergrund, sondern das Individuum mit seiner Suche nach und Gestaltung von Identität sowie den Fragen seiner Lebensführung. Die materialen Gehalte christlicher Religion und christlichen Glaubens erhalten in dieser modernen Form biographischer Aneignung von Religion ihren Raum, indem sie zum einen ein Angebot zur Auseinandersetzung und Orientierung darstellen […] und indem sie zum anderen ein Korrektiv zur individuellen Sichtweise und dem daraus folgenden Handeln darstellen, das zur Veränderung ermutigt.»33

So richtungsweisend und zentral mir – mit Könemann – die Orientierung erwachsenenbildnerischer Praxis an subjekt- und biografieorientierten Konzepten scheint, drängt sich hier dennoch ein kritischer Nachsatz auf. Wenn der Fokus in emanzipatorischer Absicht so stark auf der individuellen Gestaltung von Identität liegt, dann muss gefragt werden, ob damit nicht Bildungsziele gesetzt werden, die auch überfordern können und das Individuum in Stress versetzen. Allgemeiner formuliert: Ist die zugesprochene Möglichkeit, «Identität» selbst «gestalten» zu dürfen, im Grunde wirklich eine befreiende Aussicht? Kann man «Identität» denn überhaupt |25| selbst «gestalten»? Ist sich das Subjekt letztlich so etwas wie «zugänglich», sodass es sich selbst auslegen, verorten und umgestalten kann?

In Auseinandersetzung mit diesen Fragen hat der US-amerikanische Praktologe Tom Beaudoin einen Aufsatz mit dem selbstredenden Titel «I was imprisoned by subjectivity and you visited me» publiziert.34 Darin diskutiert er postmoderne Subjektivitätstheorien, im Besonderen diejenige von Michel Foucault, und kommt dabei auf einen Text von Dietrich Bonhoeffer zu sprechen, auf das Gedicht aus der Haft «Wer bin ich?»35

«Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest … Wer bin ich? sie sagen mir oft … Wer bin ich? Sie sagen mir auch … Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiss? Bin ich heute dieser und morgen ein anderer?»36

Beaudoin spricht von einer «Apophatik des Selbst»: Permanent distanziert sich der Schreiber von der Wahrheit über das eigene Selbst. Verborgen, nicht zugänglich ist sie ihm; wechselnd, vorläufig präsentiert sie sich, fragmentarisch und abhängig von dem, was andere dem eigenen Selbst zuschreiben.37

Wenn in unreflektierter Weiterentwicklung von Könemanns (äusserst wichtigem!) Ansatz leichthin von gelingender Identitätskonstruktion und damit verbunden von religiöser Selbstauslegung geredet wird, so gilt es kritisch anzumerken, dass die Vorstellung eines sich selbst «zugänglichen Subjekts» längst obsolet geworden ist. Jede geradlinige Rede von «Identität» hält postmoderner Wirklichkeitsdeutung letztlich nicht stand. Der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp beispielsweise hat auf die brüchigen, vorläufigen Strukturen von «Identität» hingewiesen.38 Er vergleicht sie mit einem «crazy quilt», einem Flickenteppich, in dem Formen und Farben wild und nach kaum nachvollziehbaren Mustern angeordnet werden.

Im Zug postmoderner Subjektivitätskritik hat sich auch Tom Beaudoin – um auf ihn zurückzukommen – von einem starken Subjektbegriff verabschiedet. Gleichzeitig empfängt er den Besuch: «You visited me», schreibt er im Titel. Mit «The center of our own lives is outside ourselves», konkretisiert er, Bonhoeffer |26| zitierend.39 Leben spielt sich auf einem Grund ab, den wir nicht selber schaffen müssen, der uns zugesagt ist.40 Diese radikale Zusage ist die letzte Wahrheit über menschliches Leben und menschliche Identität. Darum ist es auch nicht die reflexive Selbstthematisierung unserer selbst, sondern – in christlicher Perspektive – «die Konfrontation mit Gottes Selbsterschliessung in Christus», die uns erschliesst, wer wir sind.41 Dieser Spitzensatz des Dogmatikers Dalferth hat für praktisch-theologisches Nachdenken unmittelbare Relevanz. Denn nochmals muss grundlegend gefragt werden: Sollen für die reflexive Selbstthematisierung überhaupt Erzähl-, Diskussions- und Austauchgefässe geschaffen werden, wie dies gegenwärtige erwachsenenbildnerische Bildungsangebote tun, wenn die letzte Wahrheit über den Menschen in Christus verborgen liegt?

Beaudoin spricht sich für ein Ja aus und greift dabei auf eine Denkfigur aus Bonhoeffers «Ethik» zurück, wenn er sagt: Im Vorletzten hat die reflexive Selbstthematisierung ihren Platz, ihre Berechtigung und ihre Aufgabe.42 Fragmentarisch, vorläufig wird jede Selbstauslegung sein. Geschieht sie im Licht des Glaubens, dann lebt sie aber von der Wahrheit im Letzten, vom Rechtfertigungsgeschehen in Christus. Dieses anzueignen ist die verheissungsvolle Aufgabe religiöser Selbstauslegung im Vorletzten. Reformationstheologisch zugespitzt steht erwachsenenbildnerische Praxis, die mit subjekt- und biografieorientierten Konzepten arbeitet, im Dienst der Freiheit. Sie hütet sich davor, überhöhte Identitätsideale zu setzen und schöpft – ohne als reines «Verkündigungsinstrument» Menschen bloss zu bevormunden – aus der Freiheit des Evangeliums

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