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1. Thematische Schwerpunktsetzungen

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In den thematischen Schwerpunkten Urbanität und Öffentlichkeit, die in diesem Band von verschiedenen Seiten aus beleuchtet und bearbeitet werden, manifestieren und verdichten sich grundsätzliche Herausforderungen gegenwärtiger Kirchenentwicklung und Kirchentheorie. Dass sich diese ersten thematischen Schwerpunktsetzungen des im Juni 2010 gegründeten Zürcher Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) und nun auch die Ausführungen der hier versammelten Beiträge in diese Richtung bewegen, hat eine Reihe unterschiedlicher Gründe und ist nicht zufällig. Vielmehr lassen sich dafür aktuelle, empirische, kontextuell-institutionelle und programmatisch-hermeneutische Gründe ins Feld führen.

In aktueller Hinsicht ist die Schwerpunktsetzung dadurch begründet, dass sowohl das Urbanitäts- wie das Öffentlichkeitsthema im Zusammenhang gegenwärtiger Mobilitäts-, Globalisierungs-, und Informationsdynamiken überaus stark diskutiert werden – und zwar sowohl in wissenschaftlichen wie in medialen Zusammenhängen. Aber auch das alltägliche Weltgefühl bleibt von diesen Entwicklungen nicht unberührt, sei es durch die damit verbundenen Befürchtungen zunehmender Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, sei es durch die Hoffnung auf eine weiter wachsende Optionenvielfalt eigener Lebens- und Erkenntnismöglichkeiten. Beide Begrifflichkeiten bilden somit im Kontext aktueller gesellschaftsanalytischer Forschung zentrale Kategorien der Deutung der Welt, in der wir gegenwärtig und zukünftig leben wollen bzw. müssen.4 Da von diesen Entwicklungen und deren Deutung natürlich nun auch das kirchliche Leben und die unterschiedlichen Teilhabepraktiken ihrer Mitglieder wesentlich mitbeeinflusst werden, erhalten beide Themen auch in kirchentheoretischen Überlegungen und |18| reformpraktischen Initiativen aktuell eine zunehmende Aufmerksamkeit.5 Schon deshalb besteht guter Grund, sich an diese Diskussionen anzuschliessen. Zugleich sollen die unterschiedlich weiten internationalen Kontexte der Referierenden deutlich machen, dass wir uns längst in weiterreichenden Zusammenhängen befinden, die eben damit auch kirchentheoretisch nach einem sehr weiten Blick verlangen.

In empirischer Hinsicht wird gegenwärtig sowohl zu Fragen der Urbanität wie der Öffentlichkeit in unterschiedlichsten wissenschaftlichen Zusammenhängen geforscht. Dabei sind die einzelnen Trends, Tendenzen und Erkenntnisse bisher durchaus vielfältig und kaum eindeutig bestimmbar. Zudem ist nach wie vor klärungsbedürftig, wonach sich Urbanitätsdynamiken überhaupt bemessen lassen und wie die vielfältigen Phänomene von Öffentlichkeit sowohl quantitativ wie qualitativ näher sondiert und eingeordnet werden können. Offenbar korrespondiert also die sachliche Komplexität der Gegenstände mit der Notwendigkeit einer hochgradig ausdifferenzierten empirischen Forschung. Damit sei an dieser Stelle mindestens angedeutet, dass sich Kirchentheorie und Kirchenentwicklung auch bei dieser Schwerpunktsetzung sehr viel intensiver mit dieser empirischen Forschung befassen und ihrerseits auch aktiv dazu beitragen muss – einerseits, um das eigene Gegenstandsfeld nicht nur der religionssoziologischen und religionswissenschaftlichen Forschung gleichsam allein zu überlassen6, andererseits, um damit am wissenschaftlichen Diskurs gegenwärtiger empirischer Forschung verantwortlich und eigenständig partizipieren zu können. Dass dafür der vorliegende Band allerdings erst einmal nicht mehr als eine erste Problemorientierung in Sachen notwendiger zukünftiger empirischer Forschung liefert, sei hier ausdrücklich erwähnt.|19|

Als ein weiterer Grund für die hier vorgenommene Schwerpunktsetzung ist die kontextuell-institutionelle Dimension der Zürcher kirchentheoretischen Forschung und auch des Zürcher Zentrums für Kirchenentwicklung zu nennen. Nicht nur in der Arbeit, sondern schon im äusseren Setting der Forschung inmitten des Zürcher «Weltstadt-Altstadt»-Ensembles sind wir von vielfältigen Phänomenen der Urbanität und zugleich einer weitreichenden und pluriformen Öffentlichkeit umgeben. Hierbei stellen wir in unseren Arbeitskontakten mit Wissenschaft und Kirche immer wieder fest, dass die über Jahrhunderte eingespielte öffentliche Rolle der Kirche eben längst nicht mehr selbstverständlich ist und somit die Relevanz kirchlicher Präsenz immer wieder der neuen Erläuterung und Plausibilisierung bedarf. Diese kontextuell-institutionelle Dynamik hat sich im Übrigen ganz konkret darin gezeigt, dass im Jahr 2012 im Kanton Zürich eine politische Initiative zur Änderung bisheriger kirchensteuerrechtlicher Regelungen zum heiss diskutierten Thema geworden ist, von dem auch Kirche und Fakultät tangiert sein werden. Der symbolische Zentralort des Grossmünsters hat jedenfalls inmitten der religionspluralen Verhältnisse längst neue Bedeutungszuschreibungen erfahren, die ihrerseits der kirchentheoretischen Reflexion bedürfen. Zur institutionellen Dimension gehört aber natürlich auch die spezifische Verankerung im reformierten Kontext und seiner wechselvollen Geschichte des Kirche-Staat-Verhältnisses und auch seiner spezifischen Fassung eines protestantischen Öffentlichkeitsbegriffs. Indem diese Dimension hier mit im Blick ist, soll zugleich signalisiert werden, dass kirchentheoretische Forschung ohne ihre theologiehistorisch orientierte Rückbesinnung eine wesentliche Facette ihrer eigenen Herkunft und Aufgabe aus dem Blick verliert. Davon wird weiter unten noch in grundsätzlicherem Sinn die Rede sein.

Schliesslich ist für die hier vorgenommene Themensetzung auf die hermeneutisch-programmatische Dimension zu verweisen: Man mag von einem neuen Forschungszentrum, das sich mit Zukunftsfragen der Kirche befasst, erwarten, dass andere Begrifflichkeiten als ausgerechnet Urbanität und Öffentlichkeit prioritär behandelt werden. Auf den ersten Blick liegen als besonders heisse Eisen die Fragen von Kirchenreformstrategien, der Mitgliedergewinnung oder der Mission im Feuer. Dass unsere Forschung nicht mit der Bearbeitung dieser Themen eingesetzt hat, darf nun allerdings als durchaus programmatischer Entscheid verstanden werden. Denn in kirchentheoretischer Hinsicht ist es entscheidend, vor allen konkreten Reformprojektierungen erst einmal die Rahmenbedingungen für kirchliche Praxis möglichst genau in Augenschein zu nehmen.

Wesentlich ist hier – und dazu sind die Themen Urbanität und Öffentlichkeit besonders geeignet –, dass Fragen der Kirchenentwicklung eben allererst als religionshermeneutische und theologische gestellt und mit der entsprechenden professionellen Kompetenz bearbeitet werden. Denn es handelt sich bei Urbanität und Öffentlichkeit um Zentralbegriffe, anhand derer die Rahmenbedingungen |20| und Zielvorstellungen individuellen religiösen Lebens und gemeinsamen Zusammenlebens reflektierend, kommunizierend und interagierend näher in Augenschein genommen werden können. Es geht dann aber um nicht weniger als die Frage, ob urbaner Raum und öffentlicher Raum in besonderer Weise mit und von der Präsenz Gottes her zu denken sind – eine theologische Frage, die gleichsam zum kirchentheoretischen Kernbestand seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört7.

In diesem Fall stellen Urbanität und Öffentlichkeit folglich nicht nur heuristische Analysekategorien dar, sondern Deutungsmuster gegenwärtigen Lebens bzw. gelebter Religion. Damit handelt es sich aber um nicht weniger als um Kategorien der Welterschliessung und Weltinszenierung8, die auf gemeinsames Verstehen angelegt und damit auch für dezidiert theologische Deutungen offen sind. Interessanterweise sind es biblisch gesprochen gerade städtische Metaphern wie die des neuen Jerusalem, die die Vorstellung eines vollendeten Lebens leiten.9 In christologischer Ausrichtung kann diese theologische Perspektive auf den urbanen Raum etwa so formuliert werden: «Mit der Orientierung an den drei Ämtern Christi und den daraus abgeleiteten Zielformulierungen – geistliche Verankerung, kompetente Anwaltschaft und missionarischer Aufbruch – hat die evangelische Kirche in der Stadt eine Grundorientierung, die sowohl ihr Spezifisches stärkt als auch eine Öffnung nach außen ermöglicht».10

Gerade weil solche Deutungen ihrerseits aber komplex sind, bedarf dies der weiteren kirchentheoretische Bearbeitung und damit gewissermassen der reflektierenden und reflektierten hermeneutischen Entschleunigung. Die hier versammelten Sondierungs- und Angebotsbeiträge aus praktisch-theologischer wie aus systematisch-theologischer Sicht wollen folglich den Anspruch dieser Kirchentheorie verdeutlichen, Teil der wissenschaftlichen Theologie selbst zu sein. Damit schliessen sich aber alle Versuche der Kolonialisierung kirchlicher Lebenswelten durch eine bestimmte Form voreingenommener Forschung kategorisch aus. Dass sich dies dann gleichwohl auch mit der Frage nach der missiologischen Perspektive verbinden kann und soll, werden die Schlussbeiträge dieses Bandes deutlich machen. |21|

Urbanität und Öffentlichkeit

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