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Zu Urbanität und Religiosität
Irene Gysel
Vom Dorf in die Stadt
Es ist ein magischer Moment, wenn man aus einem kleineren Dorf kommend in einer grossen Stadt eine Wohnung beziehen kann.
Im Dorf wussten viele Menschen sehr genau, wer man war, und sollte man es selber für einmal vergessen haben, wurde es einem sofort wieder klar gemacht. Die Nachbarn, die SchulkollegInnen, die Mitglieder der Kirchgemeinde oder irgendeines Vereins, zu dem man gehörte, wussten es genau und sie spiegelten es immer wieder zurück. Das gab Sicherheit und Identität und setzte gleichzeitig Grenzen.
Und dann taucht man ein in die grosse Anonymität einer Stadt. Niemand kennt einen. Man bestimmt ganz allein, was man mit seiner Freizeit anfängt. Wohin gehe ich? Wo esse ich? Wen treffe ich an? Es gibt tausend Möglichkeiten. Alles ist da. Ich kann wählen. Niemand wird mich dabei beobachten und kontrollieren.
Ein ungeheures Freiheitsgefühl kann entstehen. Ich bestimme, wer ich bin. Ich erfinde mich neu, kann mich aber auch verlieren, denn da gibt es auch die Slums, die Unterwelten, die Banden. Wer findet mich dann in diesem Dschungel wieder, sagt mir wohin ich gehöre und wer ich bin?
Gewisse Indianerstämme schickten ihre jungen Männer in der Adoleszenz allein hinaus in die Wildnis, damit sie dort ihre Identität finden konnten. Wenn sie überlebten, kehrten sie als gefestigte Persönlichkeiten zurück. Wir schicken unsere jungen Leute in die Wildnis der Städte. Vielleicht nur in eine grössere Schweizer Stadt, vielleicht aber auch für eine Firma nach New York, Shanghai, Hongkong, Tokio.
Medien
In der Stadt ist alles da. Die ganze Vielfalt, die eine Gesellschaft zu bieten hat, die Güter, das Wissen. Man kann sich frei bewegen und hat alles zur Verfügung. Man kann anonym bleiben oder sich irgendwo anschliessen und etwas von sich preisgeben, aber nur so viel, wie man will.
Dazu gibt es heute eine Parallele. Ein Ort, der ein ungeheures Wissen zur Verfügung stellt, der sowohl Anonymität als auch Möglichkeiten für Kontakte anbietet. Es ist Bildung zu haben, aber auch Unterhaltung und Ablenkung: Das Internet, das World Wide Web. Wenn wir heute von Urbanität reden, gehört diese neue Welt dazu. Neu ist, dass sich diese Urbanität nicht auf Städte beschränkt, |42| sondern überall zu haben ist, auch im hintersten Winkel auf dem Land, Urbanität für jedermann. Hier trifft sich heute die Gesellschaft. Schon wenn ich eine eigene Homepage eröffne, mische ich mich unter die grosse Masse. Und ich muss dann überlegen, wie ich mich präsentiere, wer ich sein will. Vielleicht gebe ich etwas preis von mir, aber nur gerade so viel, wie ich will.
Noch deutlicher wird die totale Urbanität bei den Social Media. Man sucht sich Freunde mittels Facebook und verabredet sich dort mit ihnen. Junge Menschen schaffen sich eine eigene Welt im Second Life, erfinden sich neu als Avatar. Sie treten mit einer Wunsch-Persönlichkeit unter einem neuen Namen auf als Held, Superman, dunkler Gangster, als Karrierefrau oder Prinzessin. Und dann leben sie ein Stück weit in dieser Welt. Im Netlog, wie man kürzlich anlässlich eines Mordfalles im Tessin lesen konnte, treffen sich gemäss Presse 68 Millionen junge Menschen aus aller Welt und kommunizieren miteinander. Sie können sich dort ebenfalls verlieren. Verlieren in ihren Träumen, oder aber, weil sie zu viel von sich preisgeben, oder noch schlimmer, weil sie dort gemobbt und verunglimpft werden und weil dort das uralte Recht des Stärkeren gilt.
Es gab die Wildnis der Indianer und es gibt die Wildnis unserer Städte. Heute gibt es zusätzlich die Wildnis des Internet.
Grundfrage
Wer bin ich, wer möchte ich sein, wo bin ich stark, wo habe ich Angst? Das sind die alten, immer gleichen existenziellen Grundfragen. Heute sieht es beinahe so aus, als könnten wir sie ein Stück weit neu beantworten. Wir können uns neu erfinden. Wir können uns eine Welt erschaffen und uns darin frei bewegen, mit anderen Menschen oder besser mit anderen Wunschpersonen kommunizieren. Und wir können dort auch Gewalt ausüben. Wir können uns frei fühlen, kreativ werden, oder wir können in Fallen geraten und erleben, dass wir auch hier oder gerade hier nicht bestehen können.
Zu wem gehöre ich? Wer hat ein Interesse an mir? Kann ich mein Leben selber gestalten? Wer sonst gestaltet mit? Ist da ein Gott? Oder eine andere Dimension?
Vielleicht gab es nie eine Zeit, in der die existenziellen Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste der Menschen so ungefiltert und so radikal schonungslos offen zutage traten und sichtbar wurden wie heute. Privates wird öffentlich. Vom Fernsehen heisst es, es sei wie eine Lupe, die alles zeige, was sonst nicht so genau gesehen werde. Dann ist das Internet wie ein Mikroskop. |43|
Ein reformiertes Thema
Das Suchen nach der eigenen Identität ist auch ein grosses reformiertes Thema. Selbsterkenntnis war ein Schlagwort. Ich bin ihm bei Zwingli begegnet. Und dort immer zusammen mit der Gotteserkenntnis. Ist Selbsterkenntnis im evangelischen Verständnis untrennbar mit Gotteserkenntnis verbunden? Ich glaube, dass das sich-selber-Sehen eine der grössten Herausforderungen der heutigen Zeit ist. Eigentlich ist es uns Menschen ja nicht von Natur aus gegeben, uns selbst zuschauen zu können. Das ist erst durch das Filmen möglich geworden und kann jemanden, der sich zum ersten Mal zuschauen kann, wenn er oder sie sich unbeobachtet fühlt, sehr verunsichern. Sich sehen, wie man ist, kann ein erster Schritt sein zum sich-Erkennen. Es wird dann wichtig, sich mit gnädigen Augen anzuschauen und sich so zu akzeptieren, wie man eben ist. Mit gnädigen Augen, oder mit den Augen eines gnädigen Gottes, eines Gottes, der die Wahrheit kennt und Barmherzigkeit übt. Diesen Gott gilt es aber erst einmal zu finden. Oder mindestens eine Ahnung von ihm/ihr zu bekommen. Diese Ahnung allein kann Kraft und Mut, verleihen, sich selber zu erkennen. Jedenfalls ermöglicht Gotteserkenntnis Selbsterkenntnis und nicht umgekehrt.
Wie und wo aber finden wir Gotteserkenntnis? Wäre das nicht der usp, das Alleinstellungsmerkmal der Kirche? Finden wir sie, wie neu postuliert wird, eher in der urbanen Kirche, wo man unbeobachtet suchen kann, wo erste Schritte möglich sind, wo man Fehler machen darf, ohne gleich an den Pranger gestellt zu werden?
Stadt und Identität
Jede Stadt hat selbst eine eigene Identität. Da sind zuerst einmal die Gebäude, die Strassen und Gassen, die Plätze, die ihr ein Gesicht geben. Dann das, was man darin findet: Geschäfte und Restaurants. In jeder Stadt isst man anders, jede hat ihre Bars, Kinos, ihr Nachtleben, ihre Sportstadien, Ausstellungen, Museen und nicht zuletzt ihre Kirchen. Zur Urbanität gehört, dass man seine Orte auswählen kann und die Zeitpunkte, da man sie aufsucht und damit an der Identität der Stadt teilhat.
Die Stadt ist ein riesengrosser Treffpunkt. In der Stadt treffen sich Menschen immer noch oder heute gerade erst recht wieder real. Die elektronischen Medien lösen nämlich die reale Welt nicht einfach ab. Das Bedürfnis nach lebendigen anderen besteht nach wie vor, aber vielleicht anders. Die elektronischen Medien bieten den Einstieg dafür.
Man schaut die Stadt zuerst im Internet an. Das ersetzt aber das Hingehen eben nicht.
Man sucht sich einen Partner mit »Parship«, treffen muss man sich dann aber real. |44|
Man trifft sich zum Besäufnis real. Wo es stattfindet, erfährt man aber auf Facebook, oder über SMS. Man schaut das Fussballspiel nicht allein an, zu Hause vor dem Bildschirm, sondern im Public Viewing.
Wer keinen Facebook-Account besitzt, hat zu vielen Gruppen keinen Zugang. Das gilt vor allem für Jugendliche, die ein grosses Bedürfnis haben, real dazuzugehören. Auch unerwartete Erstkontakte laufen heute über das Internet. Das österreichische Zisterzienserkloster Heiligenkreuz vermeldete als eines der wenigen einen Boom von Anmeldungen. Ausnahmslos alle Kandidaten hatten den Erstkontakt über die Homepage des Klosters gefunden.
Die realen Orte und das reale Sich-Treffen sind nicht zu ersetzen. Aber man findet sie und sich anders.
Eine Vielfalt realer Orte gehören zur Urbanität. Aber die Wahl trifft man oft im Internet. Die irreale und die reale Urbanität ergänzen sich. Die realen Orte werden daher in Zukunft nicht aufgegeben, wie man glaubte, im Gegenteil, sie werden wichtiger. Es braucht sie, da die virtuelle Kommunikation nach realem Sich-Treffen ruft. Nach sinnlichem Wahrnehmen, Sehen, Hören, Anfassen. Auch Orte wollen sinnlich wahrgenommen werden. Die anfassbaren Kirchen aus Stein und Holz, die erfahrbaren Räume mit ihren Klängen und Gerüchen, mit ihrer Atmosphäre sind Orte der Identität. Aber sie werden oft über die elektronische Urbanität gefunden. Dass dann eine Kirche auf ihrer Homepage nur gerade touristisch dargestellt wird, müsste Kirchenvertretern nicht genügen. Hier muss kommuniziert werden, dass es um mehr geht.
Die Verantwortlichen im Kloster Heiligenkreuz berichten, dass manche der neu Eingetretenen erzählt hätten, wie sie mehrmals die Website des Klosters besucht hatten, bis sie den Mut fanden, real hinzugehen.
In nächster Zeit wird darüber diskutiert werden, was mit den nicht mehr benötigten Kirchen in den Städten geschehen soll. Geben wir acht, dass wir sie nicht leichtsinnig preisgeben, sie sind Schätze, deren Wert wir noch nicht bis in alle Konsequenzen hinein wahrgenommen haben. Orte können Identität haben und Identität vermitteln.
Wo es um Identität geht, wo es um Selbsterkenntnis geht, um die tiefsten Seins-Sehnsüchte der Menschen, hat die Kirche vom Evangelium her eine Aufgabe und darf nicht durch Abwesenheit glänzen. Sie muss wissen, was im Gange ist. Das heisst nun eben nicht, dass sie selber einsteigen soll in alle Trends. Gerade durch meine Arbeit als Fernsehredaktorin bin ich allen Events gegenüber skeptisch geworden, allem was Showcharakter hat, allem was anbiedernd wirkt, bei dem die Kirche mithalten will, auch dabei sein will. Man merkt dann, dass es ihr um sich selbst geht und ist verstimmt.
Es soll ihr um die Menschen gehen und um das Evangelium oder umgekehrt, um das Evangelium und um die Menschen. Um deren Wohl. Wenn die Kirche |45| den Menschen bei ihrer Selbstfindung helfen will, wenn sie ihnen Selbsterkenntnis ermöglichen will, muss sie ihnen einen Weg zur Gotteserkenntnis anbieten.
Städte waren immer wichtig für das Christentum. Paulus predigte in den Städten. Er ging von Stadt zu Stadt. Die Reformation breitete sich über die Städte aus. Hier hatten die Menschen die Möglichkeit, zu neuer Identität zu finden.
In diesen Sommerferien hatte ich Gelegenheit, einige grosse Städte in China zu besuchen und einen Einblick zu bekommen, wie dort Christentum neu erwachen kann. Ich konnte zum Beispiel in Nanjing einen evangelischen Gottesdienst besuchen. In einer Kirche, die bei 37 Grad nur durch Ventilatoren etwas gekühlt wurde, sassen 1000 Menschen, eng nebeneinander, wissbegierig und konzentriert bis zum Schluss. Die Predigt allein dauerte 70 Minuten. Da in jener Kirche regelmässig nicht alle Platz finden, hat man im Nebenhaus Räume zu Kapellen umgebaut, mit klapprigen Stühlen und uralten Bänken und überträgt die Predigt per Video dorthin. In diesem Nebenhaus nahmen weitere 500 Personen am Gottesdienst teil, dies jede Woche dreimal am Samstag, dreimal Sonntag und an zwei Abenden während der Woche.
Man mag nun rätseln über die Gründe dieses plötzlichen Aufbruchs. Was ich erlebt habe war eine Stimmung der Erwartung und der Freude. Die Menschen in China haben in den letzten 100 Jahren mehrmals ihre Identität verloren wie kein anderes Volk und sie suchen eine neue. Wenn wir über urbane Religiosität reden, sehe ich dort heute einen Brennpunkt. Etwas Neues könnte entstehen. Urbanität kann helfen, dass Menschen sich freier fühlen, Neues lernen und erfahren können.
Menschen wollen wissen wer sie sind. Orte können Identität geben. Kirchen könnten auch bei uns neu solche Orte werden. |46|