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3. Ansprüche des Zentrums für Kirchenentwicklung

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Von diesen Überlegungen aus sei noch auf den Anspruch des für diesen Band verantwortlichen Zentrums für Kirchenentwicklung eingegangen. Um mit einigen eher generellen Überlegungen zu beginnen: Ein Zentrum – wo auch immer man sich dieses vorstellt – hat es mit sehr unterschiedlichen Referenzgrössen und Dynamiken zu tun. Streng genommen und kybernetisch gesprochen kann von einem Zentrum überhaupt nur die Rede sein, weil es eben auch das Nicht-Zentrum gibt, also all das, was sich um diesen Punkt bzw. Ort herum, ganz nah, in gewisser Entfernung oder an der Peripherie abspielt.

Ein Zentrum hat es zugleich kybernetisch gesprochen nicht nur mit Steuerungsvorgängen, sondern dabei auch mit Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zu tun: Kern und Umgebung sind keineswegs unabhängig voneinander zu denken. Dabei ist durchaus nicht automatisch klar, was eigentlich was beeinflusst, gar steuert? Das Zentrum die Umgebung oder die Umgebung das Zentrum? Zudem ist ja immer auch die Frage, wie gross der proklamierte Zentralort etwa im Verhältnis zu allem Umgebenden mit seinen Eigendynamiken ist – auch von dort her bestimmt sich die wechselseitige Dynamik und die Einflusskraft in erheblichem Sinn.

Zudem stellt sich die Frage, wie fest und stabil ein solches Zentrum überhaupt sein kann. Ist es möglicherweise aufgrund der verschiedenen Zentripetal- und Zentrifugalkräfte sogar in permanenter Neuformung und Entwicklung, per se hoch plural, multiperspektivisch, möglicherweise gar instabil und somit womöglich gar ein virtueller Ort? Weiter wäre zu fragen: Ist ein solches Zentrum als das Auge eines Orkans vorzustellen oder stellt es einen Brennpunkt dar, in dem unterschiedliche Dynamiken aufeinander treffen, mit einander korrespondieren, sich versöhnen oder neue Kraft gewinnen, bestimmte Kräfte permanent zur Mitte hin oder davon weg streben? |23|

Zu merken ist hier schon, dass es der Zentrumsbegriff im wahrsten Sinn des Wortes in sich hat. Und nun stellt sich die Frage nach den Dynamiken, Wechselwirkungen und Steuerungskräften umso stärker, wenn man wie die Praktische Theologie in Zürich ein Zentrum für Kirchenentwicklung aus der Taufe hebt. Denn damit wird es einerseits inhaltlich konkreter und klarer, aber auch deutlich komplexer:

Klarer wird der Begriff im konkreten Fall des Zentrums für Kirchenentwicklung durch eine bestimmte Form der Institutionalisierung: eine Geschäftsordnung, festgeschriebene Verantwortlichkeiten, reale Räume und Personen, schliesslich die Finanzierung, die bestimmte Möglichkeiten und Grenzen mit sich bringen. So heisst es in der entsprechenden Geschäftsordnung, dass das Zentrum zum Ziel hat, «Fragen der Kirchenentwicklung und des Gemeindeaufbaus sowohl wissenschaftlich fundiert wie praxisrelevant zu bearbeiten». Es soll sich «der Forschung, Lehre und Anwendung im Bereich der praktisch-theologischen Kybernetik» widmen und sich insbesondere «für die Profilierung der reformierten Ekklesiologie in der schweizerischen und ökumenischen Öffentlichkeit» einsetzen. Zum Aufgabenkatalog gehört, «der verstärkten Forschung auf dem Gebiet der Kirchenentwicklung und des Gemeindeaufbaus» zu dienen, «Personen aus dem universitären und kirchlichen Umfeld im In- und Ausland, welche sich mit den Fragestellungen des Zentrums beschäftigen», zu vernetzen, «Grundlagenarbeit im Hinblick auf künftige Herausforderungen an die kirchliche Präsenz in der Gesellschaft» zu leisten sowie «Kirchen und kirchliche Gremien in ihrer ekklesiologischen Konzeptions- und Planungsarbeit» zu unterstützen.

Komplexer ist nun allerdings im Anschluss an die vorherigen kybernetischen Überlegungen, welcher Auftrag inhaltlich mit dem Titel selbst sinnvollerweise verbunden werden kann. Es ist also zu fragen, in welchem Sinn die Begrifflichkeit «Zentrum für Kirchenentwicklung» gemeint ist: Das heisst, geht es darum, Kirche tatsächlich zu entwickeln, oder darum, Entwicklungen zu beobachten und zu begleiten? Immerhin ist ja zu bedenken, dass es sich hier um eine universitäre Einrichtung handelt, die sich zu Recht auf ihre Wissenschaftsfreiheit beruft und bezieht. Von daher kann es nicht um eine Pro-domo-Aufgabe im Sinn der Auftragswissenschaft für das Kirchenregiment und die Kirchenleitung gehen, weil man sich ansonsten sogleich auf einer rein anwendungsorientierten, instrumentellen Ebene befände. Gefragt ist vielmehr die wissenschaftliche Beschreibungsleistung von Kirchenentwicklung, womit wir uns richtigerweise auf der grundlagenforschenden Ebene positionieren.

Es geht dann aber ganz konkret um die Frage, welche Steuerungs- und Leitungsfunktion ein solches Zentrum in Korrespondenz mit seinem Umfeld haben kann. Und hier verweisen die Aufgaben und Möglichkeiten des Zentrums auf ihre unmittelbare Sache selbst. |24|

Dass dabei von Kirchen- und nicht von Gemeindeentwicklung und schon gar nicht von Gemeindeaufbau gesprochen wird, ist hier ebenfalls kein Zufall. Die Sache selbst ist vielmehr in der Tat möglichst weit zu denken. Abgesehen davon, dass für konkrete Gemeindeentwicklungsprozesse mindestens im Zürcher Kontext schon eine Reihe von kirchlichen Beratungs- und Begleitungsstellen bestehen, erscheint eine Fokussierung auf Struktur-, Gestaltungs- und Umsetzungsfragen vor Ort sicherlich deutlich zu eng.

Will man die Unterscheidung von Makro- Meso- und Mikroebene hier in Verwendung bringen, so positioniert sich dieses Zentrum folglich nicht auf der Mikroebene. Kirche rückt vielmehr in einem weiten theologischen und gesellschaftlichen Bezugshorizont in den Blick. Wie ja schon im Blick auf die Schwerpunktsetzung dieses Bandes festgehalten wurde: Erst von der weitgreifenden Reflexion auf die Konstruktions- und Existenzbedingungen des Systems Kirche können und sollten dann konkrete Reformprogramme und Umsetzungsschritte anvisiert werden. Oder um es in Analogie zu den ökonomischen Disziplinen zu sagen: Die hier betriebene kirchentheoretische Forschung versteht sich sehr viel stärker in einer volkswirtschaftlichen als in einer betriebswirtschaftlichen Perspektive. In Analogie zur Erziehungswissenschaft würde dies heissen: Nicht um die Beratung einzelner Schulen soll es hier gehen, sondern um Schulentwicklung im Sinn der Analyse der Rahmenbedingungen und der Konzipierung grundlegender Zukunftsstrategien von Schule als intermediärer und zivilgesellschaftlicher Institution.

Angesichts dieser Ortsbestimmung stellt sich dann nochmals die grundsätzliche Frage, wie sich die zukünftige Grundlagenforschung mit der Sache selbst verbindet: Braucht es – kurz gesagt – ein vorgängig bestimmtes Leitbild von Kirche und Gemeinde, eine genauere Fassung etwa des Entwicklungs- und Wachstumsbegriffs, um dann von dort aus bestimmte Zielvorstellungen überhaupt erst entwickeln zu können? Sind also bestimmte inhaltliche Vorentscheidungen mit dem prinzipiellen Ziel einer offenen und freien Forschung vereinbar?

Möglicherweise lässt sich diese Frage am besten beantworten, indem man einen vergleichenden Blick auf das EKD-Zentrum «Mission in der Region» wirft. Dieses ist Teil des EKD-Reformprozesses, an den Standorten Dortmund, Stuttgart und Greifswald angesiedelt und soll eng mit dem Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald kooperieren. Im ersten digitalen Newsletter dieses Zentrums heisst es unter anderem: Die Arbeit des Zentrums «soll möglichst effektiv unterstützen und begleiten, was einen missionarischen Aufbruch in Regionen, Gemeinden und Landeskirchen fördert»16. Konkret nimmt man sich u. a. vor: Theologische und sozialwissenschaftliche |25| Arbeit «zur Entwicklung einer missionarischen Ekklesiologie für die Region in der EKD» und etwa die Aufstellung eines exemplarischen Tableaus von zehn bis fünfzehn Modellregionen für missionarische Initiativen. Dazu kommt die Aufgabe, «Förderer und Bremser des Mentalitätswandels in einer aufbrechenden Kirche [zu] identifizieren»,17 damit die Gemeinden dem «Nazaretheffekt»18 entgehen, also nicht die Erfahrung Nazareths zu wiederholen, «ohne Neugier» auskommen zu wollen und damit die Wunder des eigenen Propheten Jesu zu verpassen – sprich: vorbildliche Gemeindeerfahrungen einfach zu übersehen. Dazu werden dann im weiteren Verlauf des Newsletters z. B. «Tugenden eines Veränderungsprozesses» benannt, wie «Handeln Sie mehr in Kooperation und weniger in Konkurrenzen»,19 «Bleiben Sie offen dafür, dass Gott was anderes will als Sie».20

Das Problem eines solchen Zentrums muss nun nicht unbedingt eine bestimmte problematische Theologie sein. Was es aber, mindestens aus Sicht des Zürcher kirchentheoretischen Selbstverständnisses, dort kritisch zu bedenken gibt, ist der unübersehbare implizite und explizite Steuerungsanspruch und ein kybernetisches Leitbild, bei dem der «Gemeindeaufbau zum Anfang und Zenit der theologischen Praxis»21 erklärt wird – wie wenn durch einen Magneten einzelne Eisenspäne monolinear ausgerichtet werden sollen. Eine solche eindeutige Orientierungsinstanz mitsamt gewissen Tendenzen zu einer «Kultivierung von Unzufriedenheit»22 und den entsprechenden «handlungs- und strukturbezogenen absoluta»23 mit eindeutigen Entwicklungszielen schwebt jedenfalls den Zürcher Initianten nicht vor. Schon gar nicht soll es darum gehen, «missionarische Blaupausen zu entwickeln, die in möglichst unterschiedlichen Regionen Deutschlands eingesetzt werden können».24

Von welchem kybernetischen Paradigma soll dann aber für die schweizerischen Verhältnisse ausgegangen werden? Und wo steht das hiesige Zentrum in der weiteren deutschsprachigen kirchentheoretischen Landschaft?

Wie schon oben angedeutet, geschieht die kirchentheoretische Arbeit nicht voraussetzungslos, sondern erfolgt auf dem konkreten Boden der reformierten Tradition und vor dem Hintergrund der aktuellen religiösen und kirchlichen |26| Situation und Entwicklungen in der Schweiz. Prinzipiell kann allerdings davon ausgegangen werden, dass sich die Grundherausforderungen gegenwärtiger Kirchenreformen in Deutschland und der Schweiz grundsätzlich nicht wesentlich unterschiedlich darstellen25. Zudem ist zu erwähnen, dass zwar die faktischen und rechtlichen Gegebenheiten der protestantischen Kirchen in der Schweiz mehrheitlich reformiert geprägt sind, andererseits natürlich sowohl unter den Pfarrerinnen und Pfarrern wie unter den Gemeindegliedern auch mit lutherischen Denktraditionen und einem entsprechenden theologisch-ekklesiologischen Selbstverständnis zu rechnen ist.

Eine Kernaufgabe des Zentrums kann darin gesehen werden, den Sinn für ein Verständnis protestantischer Freiheit zu schärfen, wonach diese nicht als eine Freiheit von Verbindlichkeit und Verpflichtung, sondern als eine Freiheit zur Partizipation an der Zukunft von Volkskirche und ihren Einzelgemeinden verstanden wird.

Grundsätzlich ist jedenfalls kybernetisch davon auszugehen, dass sich die Kirche und Gemeinden bzw. das Priestertum aller Getauften nur in einem sehr begrenzten Umfang überhaupt zentralinstanzlich komplett regieren oder gar neu umsteuern lassen. Somit sollten die Steuerungsmöglichkeiten nicht überschätzt werden. Kirchenentwicklung ist in gewissem Sinn steuerbar, zugleich aber auch der Sache nach organisatorisch wie theologisch und kybernetisch gleichermassen eben nur in bestimmte Grenzen planbar, um nicht zu sagen, unorganisierbar26 und unverfügbar.

Dies impliziert für die Zentrumsarbeit neben der Sensibilisierung für die gemeinsamen Traditionen und Zukunftsaufgaben die konkrete Wertschätzung der beteiligten Personen und die Beachtung der menschengemässen Grenzen jeglicher Kirchen- und Gemeindeentwicklung. Insofern sind hier die Stellgrössen und die Stellhebel so genau wie möglich in den Blick zu nehmen: Was lässt sich steuern, was entwickelt sich eigendynamisch? Was sind die kommunizierenden Röhren im System und was sind die inhaltlichen Antriebskräfte? Und wie kann – um es noch einmal auf die kirchentheoretische Zentrumsarbeit zu übertragen – ein Transmissionsriemen zwischen Theorie und Praxis konkret aussehen?

Natürlich stellt eine solche Initiative eine Gratwanderung zwischen Grundlagenforschung und Anwendungswissenschaft dar. Einerseits besteht man als wissenschaftliches Forum, andererseits versteht man sich selbst als Einfluss nehmender Faktor – nicht im Sinn des genehmen Stichwortgebers, sondern im Einzelfall |27| durchaus als tatsächlich sperrige Orientierungsgrösse. Für eine von solchen Faktoren bestimmte Aufgabe braucht es aber eben erhebliche Unterscheidungskompetenz und Pluralitätsfähigkeit. Gerade weil bestimmte Strukturen und ihre einzelnen Elemente immer nur von relativer Stabilität sind, bedürfen sie der permanenten Deutung und Interpretation. Es geht also um eine «realistische und theologisch orientierte Bearbeitung der ‹Zukunftsaufgaben des protestantischen Kirchentums›».27 Dies könnte dann möglicherweise sogar im hilfreichen Sinn als ein produktives Irritieren und Entschleunigen der gegenwärtigen Reformhysteriestimmung empfunden werden.

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