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4. Hermeneutische Perspektiven auf gelebte Religion und kirchliche Praxis

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Daraus folgt, dass die kybernetische Praxis als eine Hermeneutik protestantischer Ekklesiologie und kirchlicher Praxis zu profilieren ist. «Steuern» kann das Zentrum nur im Modus einer offen orientierenden Deutungspraxis – und dies unter möglichst breitem Einschluss der Kommunikation mit den betroffenen bzw. verantwortlichen Akteuren und Multiplikatoren.

Gegenüber etwa einer religionssoziologischen oder religionswissenschaftlichen Betrachtungsweise wird die besondere praktisch-theologische Kompetenz dabei gerade in der theologischen Deutung der institutionellen Aspekte und organisatorischen Phänomene von Kirche und Gemeinde bestehen – denn ob die gegenwärtig von jener Seite aus konstatierte Deinstitutionalisierung und der angeblich massive Bindungsverlust der Mitglieder so tatsächlich stattfindet, wäre erst noch weiter zu verifizieren.

Das Zentrum für Kirchenentwicklung kann also als Steuerungs-, Leitungs- Deutungsinstanz in wechselseitiger Kommunikation und Korrespondenz mit den kirchlichen Akteuren verstanden werden.

Zudem gilt es, sich gegen schnelle Verzweckung eindeutig zu verwahren. Dies heisst dann aber auch, dass es nicht einfach darum gehen kann, einen bestimmten kybernetischen Regelkreis, also etwa die Temperatur oder das Fliessgleichgewicht der Institution Volkskirche irgendwie auf dem bisherigen gewohnten Niveau aufrechtzuerhalten, also diesem System gleichsam neue Substanz zuzuführen, wenn das Absinken der Temperatur oder das Erstarren der Strukturen droht. Wenn man schon in diesem Beispiel bleiben will, geht es eher um die Aufgabe zu überlegen, wie ein geeigneter Thermostat aussehen könnte. Damit ist dann aber auch zugleich klar, dass ein Zentrum für Kirchenentwicklung nicht die Steuerungsaufgabe |28| selbst übernehmen kann. In seinen Bereich fallen vor allem Diagnose, Analyse und Prognose, Zielsetzung und gegebenenfalls Kontrolle im Sinn einer neuen Analyse, nicht aber die einzelne Zielsetzung, deren Planung, Organisation und Realisation im Sinn der Durchführung/Erledigung der geplanten Massnahmen. Es geht also tatsächlich um Kybernetik und nicht in erster Linie um die Ausarbeitung konkreter Kybernesen.

Zugleich geht es – und dies wird in vergleichbaren Forschungseinrichtungen zu häufig vergessen – um die Forschung gelingender Praxis, also um die Sondierung dessen, was an kirchlicher Praxis nach wie vor gut gelingt: Dementsprechend kann es nicht einfach nur um die Sammlung von best practices gehen, sondern um die Bearbeitung der Frage, was eine best practice tatsächlich zu einer solchen macht. Dies wird – um nochmals den Faden von oben aufzunehmen – ebenfalls zugleich nicht ohne eine stärkere Aufmerksamkeit auf die empirische Forschung gelingen können.

Die Frage nach dem output oder outcome des Zentrums mag vonseiten der Geldgeber berechtigt sein und in der Tat wird man hier über kurz oder lang Rechenschaft über die eigene Wirkkraft geben müssen. Allerdings ist dann auch immer wieder daran erinnern, dass sich gerade der Beitrag der Praktischen Theologie nicht in das Raster eines einlinigen Ursache-Wirkungs-Komplexes einordnen lassen kann. Deutung heisst folglich hier, so die Komplexität der realen Situation zu fokussieren, dass wichtige Wechselwirkungen in den Blick geraten können. Zugleich muss man sich aber professionell kybernetisch auch der Tatsache bewusst zu sein, dass die (zwischen-)menschliche Wirklichkeit immer mehr beinhaltet als die Informationen, die durch die Theoriearbeit erfasst werden können. Und das ist dann tatsächlich eine genuin theologische Aufgabe! Und immerhin sei daran erinnert, dass bei den ersten Überlegungen zur Kybernetik in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein der Theologie nicht ganz unvertrauter Begriff in Anwendung kam: konkret ging es um die Konstruktion und das Verstehen eines sogenannten Fliehkraftreglers, im Englischen ein so genannter governor, also um nichts anderes als den gubernator28.

Kirchentheoretische Professionalität erfordert also eine «Reflexionsperspektive»29, genauer eine Deutungs- und Beschreibungskunst, die sowohl dogmatische Beschreibungen der geglaubten als auch nichttheologische Beschreibungen der sichtbaren und erfahrbaren empirischen Kirche miteinander in ein Korrespondenzverhältnis bringt. Nur wenn man sich sowohl für die Sache der Kirchenentwicklung |29| wie für ihre theoretische Durchdringung klar macht, dass hier jeweils von denselben funktionalen Konstruktionsmechanismen und Wirkweisen auszugehen ist, wird dies dann auch eine sachgemässe Arbeit ermöglichen.

Problematisch wäre es dabei allerdings, «nicht auf die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und damit nicht auf ein locker integriertes Netzwerk setzen, sondern auf Arbeitsteilung und Hierarchie sowie […] auf einen ‹Paradigmen- und Mentalitätswechsel›»:30 «Die Kybernetik erhebt keinen Machtanspruch, sondern einen Theorieanspruch. Es geht darum, die praktisch-theologische Urteilsbildung der besonnenen Kirchenleitung zu unterstützen».31

Insofern können an den Steuerungschancen und -grenzen von Kirchenentwicklung auch die Chancen und Grenzen einer solchen Zentrumsinitiative erkannt werden, wie es vor kurzem für die kirchliche Organisation und Kirchenleitung festgehalten wurde: Diese haben «weniger die Aufgabe, ein Großunternehmen zentralistisch zu steuern als vielmehr, behutsam, lernbereit und selbstkritisch zu überlegen, wie Gemeinden und das pastorale Handeln vor Ort unterstützt und entlastet werden können».32

In jedem Fall soll es nicht um blueprint ecclesiologies33 – so das Schlagwort von Nicholas Healy – gehen, also um Entwürfe, in denen «die geglaubte Kirche als ideale ‹Blaupause› der empirischen Kirche vorgestellt wird».34 Denn sonst droht gerade die Gefahr, «die Freiheit des Glaubens und die Verantwortlichkeit kontextbezogener Entscheidungen in der Gestaltung der empirischen Kirche zu unterlaufen»35. Die «Tendenz zur Übererwartung»36 ist somit nicht nur organisatorisch, sondern auch theologisch ein Problem.

Dabei ist schliesslich und zu allererst die Gefahr einer Auftrennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche zu vermeiden, und gerade an den einheitsstiftenden Charakter der Wortverkündigung selbst zu erinnern: «Kirche ist deshalb primär und zuerst die sich um die Wortverkündigung versammelnde Gemeinde und erst in zweiter Linie auch Organisation».37 Oder wie es die Zürcher Kirchenordnung |30| gleich im ersten Abschnitt unter «Ursprung und Bekenntnis» formuliert: «Kirche ist überall, wo Gottes Wort aufgrund der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes verkündigt und gehört wird. Kirche ist überall, wo Menschen Gott als den Schöpfer anerkennen, wo sie Jesus Christus als das Haupt der Gemeinde und als den Herrn und Versöhner der Welt bekennen und wo Menschen durch den Heiligen Geist zum Glauben gerufen und so zu lebendiger Gemeinschaft verbunden werden. Kirche ist überall, wo Menschen durch Glaube, Hoffung und Liebe das Reich Gottes in Wort und Tat bezeugen».38

Unter dieser Massgabe ergeben sich dann auch die entscheidenden kirchentheoretischen Fragehorizonte, die ebenso die Gestalt des vorliegenden Bandes wie die Zürcher Ausrichtung insgesamt prägen: Wie lässt sich Kirchenentwicklung praktisch-theologisch so thematisieren, dass dabei Kirche als «Musterbeispiel einer zu flexibler Selbststeuerung fähigen Institution»39gerade in ihrer «Dialektik von leiblich-äusserlicher Sichtbarkeit und geistlicher Verborgenheit der Kirche»40 zum Vorschein kommt? Welche Themenkomplexe erscheinen für eine solche Deutungsaufgabe als besonders herausfordernd und ergiebig, was erscheint in diesem Zusammenhang als bisher noch zu wenig bearbeitet, was können sinnvolle Kriterien für die Bestimmung des Gelingenden sein, wenn von Kirche als «Organisation des Unorganisierbaren»41 auszugehen ist? Wie lassen sich die Deutungspraxis des Zentrums und die Erkenntnisse der Forschung in konkrete kirchliche Kommunikations- und Handlungskontexte so einspielen, dass dabei protestantische Freiheit und Verbindlichkeit in ihrer komplementären Wechselwirkung zum Tragen kommen – und dies gerade angesichts fluider Problemkonstellationen und mancher machtvollen Steuerungsabsichten oder faktischen Beharrungskräfte kirchlicher Akteure und Repräsentanten. Für die hier nun vorgenommene Schwerpunktsetzung standen diese Leitfragen vor Augen.

Gleichwohl ist der Band selbst nur sehr indirekt als Programmschrift anzusehen – es sei denn, man wolle die hier erkennbare Pluralität als Programm ausgeben. Es ist dies aber dann keine beliebige Pluralität, sondern vielmehr Signal der Offenheit für unterschiedliche Deutungen dessen, was Urbanität und Öffentlichkeit für die Kirchenentwicklung bedeuten könnten. Denn letztlich, so die kirchentheoretische Überzeugung, wird sich die Frage nach einer profiliert reformierten |31| und reformiert profilierten Kirche nur im prozessorientierten Diskurs ergeben können. Ob sich von dort her dann für die kirchliche Leitungs- und Gestaltungspraxis selbst verbindliche Orientierung ergibt, ist den weiteren Wahrnehmungen, Diskussionen und Umsetzungsbemühungen der Akteure selbst zu überlassen. |32|

Urbanität und Öffentlichkeit

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