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Wie relevant ist Kirche in meinem Leben?
Gisa Klönne
Wie relevant ist Kirche in meinem Leben? Ein spannendes Thema, ein Thema mit vielen Facetten.
Zunächst einmal gilt es ja zu klären, was genau eigentlich mit Kirche gemeint ist. Das klassische Gemeindeleben? Die evangelische Kirche? Der Glaube per se? Und überhaupt – Glauben: Wie genau hängen Kirche, Glauben und Gott zusammen? Kann man ohne Kirche an Gott glauben? Oder umgekehrt: Führt der Glaube an Gott direkt in die Kirche? Nicht unbedingt, jedenfalls nicht mehr heutzutage. Das Angebot in einer weltoffenen, multikulturellen Gesellschaft ist gross, die christliche Kirche ist längst nicht mehr der alleinige Hort einer Spiritualität. Oft bastelt man sich einen Glauben nach persönlichem Belieben: Ein bisschen Jesus, ein bisschen Buddha, Tarot, Meditation und Schamanismus … Jeder nach seiner Fasson. Oder, um das mit einem viel zitierten Bonmot auszudrücken: All das ist ein ziemlich weites Feld.
Und eines, das eigentlich nur im je eigenen Leben und Denken abgeschritten werden kann. Also gebe ich keine allgemeinen Antworten, sondern möglichst persönliche. Das fällt mir insofern leicht, als Kirche in meinem Leben qua Geburt eine wichtige Rolle spielt. Schliesslich bin ich die Enkelin eines evangelischen Pfarrers aus Mecklenburg. Auch mehrere Onkel, Grossonkel und ein Cousin aus meiner weitläufigen Grossfamilie sind Pfarrer. Keines unserer Familientreffen, zu dem wir regelmässig aus allen Teilen Deutschlands nach Mecklenburg reisen, vergeht ohne den abschliessenden gemeinsamen Gottesdienst in einer der Kirchen, in denen mein Grossvater einst predigte. Das war und ist so, so lange ich denken kann. Auch Rituale gehören dazu. Musik zum Beispiel. Ein Familientag, an dem wir nicht zusammen ein paar Kirchenlied-Klassiker wie «Geh aus mein Herz und suche Freud» singen, ist für mich schlicht nicht denkbar.
Kirche und Familie sind in meinem Leben also beinahe untrennbar miteinander verbunden, und insofern ist Kirche (wohlgemerkt: die evangelische) für mich durchaus sehr relevant und immer ein Stück Zuhause. Niemals habe ich auch nur eine Sekunde lang ernsthaft überlegt, aus meiner Kirche auszutreten. (Ich vermute jedoch, wenn ich katholisch wäre, wäre dies anders, denn als Frau würde ich mich dort recht unwohl fühlen.)
Die Kirche, zu deren Gemeinde ich heute gehöre, heisst Lutherkirche und befindet sich am Ende der Strasse in Köln, in der ich seit einigen Jahren lebe. Das ist jedoch reiner Zufall. Als wir dort hinzogen, haben wir bei der Beurteilung von Lage und Viertel ehrlich gesagt nicht auf die Kirche geachtet. Doch als ich sie dann entdeckte, habe ich mich gefreut. Hohe Kastanien flankieren sie und mit |36| ihrer roten Backsteinfassade erinnert sie mich an die mecklenburgischen Kirchen meiner Kindheit. Ausserdem ist es in Köln durchaus erwähnenswert, wenn man neben einer Lutherkirche lebt, denn die meisten Kirchen im Schatten des Doms sind nun einmal katholisch.
Der Sonntagsgottesdienst in meiner Kirche beginnt erst um 11 Uhr. Das ist ein Tribut an die Innenstadtlage mit den von ihren anstrengenden Alltagen und Samstagnacht-Aktivitäten erholungsbedürftigen und also lange ausschlafenden Gemeindemitgliedern. Es ist ein anheimelndes, fast dörfliches Gefühl, wenn die Kirchenglocken am Sonntag zum Gottesdienst rufen. Ich freue mich immer, wenn ich sie höre. Während ich mit meinem Mann noch beim Frühstück im Garten sitze, zum Beispiel. Oder wenn ich schon wieder am Schreibtisch bin, weil ein Buch unbedingt fertiggeschrieben werden muss und also auch Sonntagsarbeit erfordert. Oder wenn ich auf dem Weg zu einer Verabredung mit Familie oder Freunden bin. Oder wenn ich sonst irgendetwas erledige, für das unter der Woche nie Zeit bleibt.
Ich bin keine Gottesdienstgängerin. Nein, man kann das ruhig drastischer ausdrücken: Was das Gemeindeleben angeht, bin ich eine ziemliche Niete. Es sei denn, man rechnet mir meinen alljährlichen Christbaumkauf auf dem Weihnachtsmarkt neben meiner Kirche als Pluspunkt an. Oder den spätabendlichen Heiligabend-Christmettenbesuch.
Die Kirche, jaja. Schön dass es sie gibt, aber hingehen? Es ist sicher keine Überraschung, wenn ich gestehe, dass ich nicht das einzige Mitglied meiner Gemeinde bin, das abgesehen von Weihnachten und eventuell Ostern dem Gottesdienst fern bleibt, wenn dort nicht gerade eine Taufe, Konfirmation, Hochzeit oder Beerdigung stattfindet, von der man selbst ganz persönlich betroffen ist. Nein, stimmt nicht ganz, da ich in einem Stadtteil von Köln lebe, in dem seit einigen Jahren eine Autofrei-Wohnen-Siedlung und ein angrenzendes Neubaugebiet entstanden sind, die als Wohnlage für viele junge Familien attraktiv sind, verzeichnet auch meine Lutherkirche eine stetig wachsende Zahl von Gemeindemitgliedern und aktiven Kirchgängern: Eben jene junge Familien nämlich, die ihren Kindern eine Orientierung geben wollen, einen Rahmen, zu dem Gott und die christlichen Werte und Feste ganz selbstverständlich gehören.
Die Gemeinde, zu der ich gehöre, wächst also. Der Gottesdienst ist lebendig, an der jungen Klientel orientiert. Dass es dennoch einen nicht unbeträchtlichen Anteil von Mitgliedern wie mich gibt, die zwar glauben, aber sonntagmorgens nicht in die Kirche streben, hat viele, oft ganz individuelle Gründe. Hätte ich zum Beispiel Kinder, würde sich meine Kirchgangfrequenz vermutlich deutlich erhöhen.
Es ist wohl auch einfach so, dass ein regelmässiger sonntäglicher Kirchgang nicht zu den mannigfaltigen, teils realen, teils virtuellen Anforderungen und Beziehungen |37| einer global vernetzten, immer schnelllebigeren Gesellschaft passt. Einer Gesellschaft, in der es einen festen Feierabend kaum noch gibt, weil man immer erreichbar sein, immer so vieles auf einmal erledigen muss. Am Sonntag braucht man dann um Himmels Willen nicht noch mehr Input oder Kommunikation (was ja früher durchaus auch eine Funktion des Kirchgangs war) sondern schlicht und einfach endlich Ruhe.
Weil das nun einmal so ist, hat sich meine Kirche noch einen Zweitnamen gegeben. Kulturkirche lautet der und das bedeutet konkret: Abends gibt es auf einer Bühne vor dem Altar öfter mal ein Rock- oder Jazzkonzert. Oder eine Literaturlesung. Oder Kabarett – Kölsch-Ausschank jeweils inklusive. In den schön bemalten und mit Bibelsprüchen geschmückten Gewölben hängt deshalb eine Reihe imposanter Scheinwerfer, Lautsprecherboxen und Projektoren. Wenn Kultur geboten wird, erwachen diese zum Leben und dann sind die nicht eben bequemen Kirchenbänke oft bis zum letzten Platz besetzt. Als wäre es Weihnachten. Nur dass die Besucher für Kulturdarbietungen in der Kirche sogar ohne zu murren Eintritt bezahlen (der die durchschnittliche Spende in den Klingelbeutel während einer Kollekte – so vermute ich – meist recht deutlich übersteigt).
Mit Glauben hat das zunächst einmal wenig zu tun. Auch nicht mit Bekehrung. Zu den Kulturveranstaltungen in der Lutherkirche kommen auch Besucher, die nicht evangelisch sind und die mit Kirche überhaupt nichts zu tun haben wollen. Doch mit den Eintrittsgeldern finanziert meine Gemeinde nicht nur die Künstlergagen, sondern zum Teil auch ihre sonst herzlich unlukrative Senioren- und Jugend- und Seelsorgearbeit, womöglich sogar die blosse Existenz der Pfarrstellen und die Instandhaltung von Kirche und Gemeinderäumen. Das ist ziemlich clever. Andere evangelische Kirchen in Köln mussten bereits schliessen oder wurden umgewidmet. Eine ist heute ein Hotel, eine andere verkleinert sich gerade und verkauft Teile ihres Geländes als Baugrund …
Würde mir etwas fehlen, gäbe es keine Kultur in meiner Kirche mehr, und sonntags kein Glockengeläut und keine Gottesdienste? Erst einmal nicht. Womöglich würde ich das nicht einmal sofort bemerken. Genauso wenig wie viele andere Gemeindemitglieder. Bis auf einmal etwas geschieht, das den Alltag durcheinander rüttelt und erschüttert, so dass Kirche plötzlich sehr, sehr wichtig wird – oder, präzise gesagt, das, was in einer Kirche eben auch stattfindet: Glauben. Beistand. Sinnsuche. Also genau jener herzlich unlukrative Seelsorgepart.
In meinen Kriminalromanen lote ich qua Beruf genau diese seelischen Untiefen und Erschütterungen aus. Mord und Tod – die in meinem Genre nun einmal im Zentrum stehen – konfrontieren meine Figuren immer auch mit der eigenen Sterblichkeit (die sie zuvor, so wie wir alle, so gut es geht, verdrängt haben). Von da aus sind die ganz grossen Fragen dann nicht mehr weit, auch wenn sie natürlich |38| auf ganz unterschiedliche Weise und nicht immer christlich beantwortet werden: Was ist der Sinn des Lebens? Was kommt nach dem Tod? Gibt es einen Gott – und wenn ja, warum lässt er das Böse zu?
Insofern könnte man sogar sagen, dass die Kirche – also vielmehr das, wofür sie steht – in meinen Kriminalromanen immer eine gewisse Rolle spielt. In meinem vierten Roman, Farben der Schuld, geht es sogar ganz explizit um einen Mord im (katholischen) Kirchenmilieu. Und meine Hauptfigur, Kommissarin Judith Krieger, die mit Kirche eigentlich gar nichts zu tun haben will, ist in diesem Roman von einem Einsatz so traumatisiert, dass sie sich an einen Polizeiseelsorger wendet. Eine Situation, die absolut realistisch ist. Wenn man gar nicht mehr weiter weiss, wird Kirche relevant.
Manchmal, nein oft, denke ich, dass das ziemlich unfair ist. Die Kirche als eine Art Servicestation, auf Abruf bereit, wenn man sie gerade nötig hat. Sie fordert nichts dafür, sondern ist einfach da. Wie die Kirche am Ende meiner Strasse eben. Ich kann hingehen, muss das aber nicht. So wie man als Kind im Idealfall zu Mutter und Vater flüchten kann, wenn etwas schief gegangen ist. Die Relevanz von Kirche bestünde so gesehen heutzutage also in ihrem blossen Vorhandensein. Eine Convenience-Kirche. Mit einem Standby-Pfarrer darin und einem Standby-Gott, die irgendwie immer auf mich zu warten scheinen.
Ich weiss keine Alternative dazu. Ich könnte nicht einmal sagen, was sich verändern müsste, damit aus mir eine aktive Kirchgängerin würde. Einen Aspekt der Bedeutung von Kirche in meinem Leben möchte ich aber unbedingt noch erwähnen:
Kirche ist nicht nur da. Sie hat auch den Mut auf dem zu beharren, was sie ausmacht: Auf christlichen Werten nämlich. Und zwar (im Idealfall) gerade auch dann, wenn es schwierig wird – egal ob politisch oder persönlich. Ich habe das zu DDR-Zeiten selbst einige Male miterlebt. Widerstand von der Kanzel aus. Ähnlich muss es im Nationalsozialismus gewesen sein, wenn sich Angehörige der Bekennenden Kirche nicht einschüchtern liessen. Wie schwer und gefährlich das war, habe ich in meinem Roman Das Lied der Stare nach dem Frost ausgelotet, in dem es um die Geschichte einer mecklenburgischen Pfarrersfamilie im Dritten Reich geht – um das Ringen um eine Haltung zwischen Anpassung und Widerstand. Es war mir ein grosses Bedürfnis, diesen Roman zu schreiben und dabei auch ein Stück meiner eigenen Familiengeschichte und der deutschen Vergangenheit zu erforschen. Ich habe bei der Auseinandersetzung mit der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen sehr viel über christliche Werte im besten Sinne erfahren. Und auch darüber, dass die evangelische Kirche nach 1945 durchaus viel Grund zur Reue hatte – und sich seitdem von einer den Staat und seine Herrscher eher hofierenden hin zu einer diese eher kritisierenden, unabhängigen Instanz entwickelt hat. |39|
Hier stehe ich und kann nicht anders, ich beharre auf meinen Werten und meinem Gott und nehme mir deshalb auch das Recht heraus, auszusprechen, wenn etwas falsch läuft. Diese Haltung im lutherschen Sinne ist, finde ich, was Kirche relevant macht. Und das ist weit mehr als Convenience im Standby-Betrieb. |40|