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Kybernetische Voraussetzungen und Konsequenzen für die Kirche von heute und morgen. Gedanken zum Begriff der Urbanität
Hans Strub
1. Urbanität
Es lässt sich wohl endlos diskutieren, ob Zürich z. B. eine grosse Kleinstadt oder eine kleine Grossstadt ist, ob die Schweiz mehrere Metropolitanräume hat oder ein einziger solcher Raum ist. Klar ist, dass sich die «Alpenrepublik Schweiz» innerhalb weniger Jahrzehnte radikal verändert hat. Auch wenn sich aufgrund der seit langem föderalistischen Staatsform – im Unterschied zu den Nachbarländern – keine wirklichen Machtzentren herausgebildet haben, so stellen wir heute fest, dass das Land immer dichter besiedelt ist, dass die ursprünglich kleinen Städte sich immer mehr ausdehnen und sich so ihr Einzugsgebiet rasch vergrössert, dass die Entwicklung der öffentlichen Transportsysteme neue und urbane Netzstrukturen massiv befördert, dass die Schweizerinnen und Schweizer zu einem Volk von Pendlern geworden sind, dass die wirtschaftlichen Konzentrationsräume bestimmen, wo man arbeitet und wohnt, und dass das, was früher als «Land» bezeichnet wurde, immer stärker integriert wird in zusammenhängende städtische Gebilde. Deutlich wird das z. B. entlang den S-Bahn-Linien; hier siedelten sich in den letzten 20 Jahren viele neue Industrie- und Dienstleistungsbetriebe an, was zu einer bemerkenswerten Erweiterung der Überbauungszonen geführt hat.42
Prägender noch als die geografisch-soziologische Situation dürfte die mediale Entwicklung sein. Da zeigt sich ganz deutlich, dass die tonangebenden Medien urbane sind, die im ganzen Land verbreitet werden (z. B. das Schweizer Fernsehen, die grossen Tageszeitungen). Dadurch wird die metropole Wahrnehmung von Politik, Wirtschaft, Kultur und Kunst flächendeckend und meinungsmachend. Auftritte von Politikern in Metropolen, Kunstausstellungen oder Theateraufführungen in städtischen Häusern, besondere Events in der Halle des Hauptbahnhofs etc. werden in den Medien wesentlich rascher aufgenommen als ähnliche Veranstaltungen an der Peripherie. |48|
Für das kybernetische Denken und Handeln der Kirchen dürfte es angebracht sein, die zukünftige Schweiz als grenzübergreifende urbane Siedlung vom Elsass bis zur Lombardei, vom Bodenseeraum/Vorarlberg bis zum Bassin lémanique anzunehmen, durchsetzt mit einigen grossen Naturparks (z. B. Alpengebiet), die zur Erholung genutzt werden können. Das bedeutet gleichzeitig, dass sie sich zügig verabschieden von der bisherigen kleinräumigen Partikulartätigkeit in bestehenden gemeindlichen und landeskirchlichen Grenzen. Auch angesichts von knapper werdenden personellen und finanziellen Ressourcen drängt sich eine neue Grundstruktur auf, ein neues Verständnis von territorial orientierter Arbeit in einem urbanen Raum. Und darüber hinaus ein Verständnis von kirchlicher Arbeit in einander überlagernden, aber genuin zusammengehörenden, gleichwertigen Bereichen (vgl. unten, 4.). Natürlich wird das ein längerer Prozess sein, der allen Beteiligten viel Flexibilität abverlangt, weil er zunächst unter Aspekten des Verlustes, der Preisgabe von Vertrautem, des Traditionsbruchs, der unerwünschten Anpassung an Einflüsse von aussen gesehen werden wird. Den Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträgern in Gemeinden und Kirchen ist zu wünschen, dass sie überzeugende Konzepte dazu vorlegen können und den langen Atem haben, die anstehenden Verfahren durchzuziehen – mit dem Ziel, die Kirchen zukunftstauglich zu machen, damit ihre Botschaften auch in einer veränderten Welt unverändert aktuell und befreiend bleiben und neu werden können.43
2. Religiosität
Im Rahmen der boomenden Zukunftswissenschaften, die sich in der Hochkonjunkturphase der sechziger und siebziger Jahre herausgebildet haben, wurden auch Szenarien für die religiöse und kirchliche Situation entwickelt. Sie sagten relativ eindeutig voraus, dass sich die schweizerische Kultur bis zum Ende des Jahrhunderts säkularisiert habe, dass nur noch wenige Menschen eine definierte Religiosität hätten und dass die Mitgliedschaft in den christlichen Grosskirchen unter 10 Prozent der Bevölkerung gesunken sei.44 Das ist so nicht eingetroffen. Vielmehr ist ein sehr unübersichtlicher «freier Markt der Religiositäten» entstanden, und die sogenannten Patchwork-Religionen haben sich in unterschiedlichster Zusammensetzung klar etabliert. Es wird viel über Religion und Religionen geschrieben, man ist geneigt, dem oft zitierten Bonmot von André Malraux zuzustimmen, |49| der 1961 behauptete, dass «le 21ème siècle sera religieux ou ne sera pas». In den Medien wie im Kernbereich der Familien hat sich der Grundbestand des Christentums erhalten, die Beteiligung an reformierten und katholischen Weihnachtsgottesdiensten oder Abdankungsfeiern ist bemerkenswert. Im Kanton Zürich hat jüngst der Staat den Landeskirchen konzediert, dass «zu den kirchlichen Aufgaben daher insbesondere auch die Suche nach Sinn und Werten in der Gesellschaft [gehört]. Gerade deshalb haben die Kirchen eine umfassende, kritische, wertebegründende und wertevermittelnde und damit integrative gesellschaftliche Funktion.»45 Solche Formulierungen können nicht hoch genug geschätzt – und dann als Motivation und Ermächtigung ernst genommen werden!
Die Kirchen tun also gut daran, wenn sie die gegenwärtige offene Situation als das nehmen, was sie ist: eine perfekte Chance, ihre Botschaft und sich selbst zu positionieren. Und zwar so, dass damit auch Milieus zumindest interessiert werden können, die sich direkt nicht als «religiös im engeren Sinn» bezeichnen. Es wäre fatal, wenn sie sich auf den personalen und den innerkonfessionellen Bereich zurückzögen. Notwendig ist das Aufsuchen der Öffentlichkeit, der Markt- und Medienplätze, damit sie wahrgenommen werden und sich qualifiziert am öffentlichen und damit politischen Diskurs beteiligen können. So nehmen sie gestaltend und vom Grund-Auftrag her Einfluss auf die politische Kultur.
3. Öffentliche Botschaft
Es ist durchaus bemerkenswert, dass z. B. die Zürcher Kirche in ihrer ganz neuen Kirchenordnung (Volksabstimmung 2009, in Kraft ab 2011) ihren Grundauftrag ableitet aus dem wohl berühmtesten und gleichzeitig ältesten Kirchen-Satz, formuliert im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses von Nicäa-Constantinopel (325/381): «Ich glaube … an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.» In knappst möglicher Weise werden hier die vier Grund-Dimensionen kirchlichen Seins in der Welt und kirchlichen Handelns darin zusammengefasst:
«eine», Koinonia: Das Suchen und Einrichten von Gemeinschaft unter den Menschen.
«heilige», Leitourgia: Die Vergewisserung im Glauben, der Ausgangspunkt aller Spiritualität.
«katholische», Diaconia: Die Weisung, «den anderen» nah und fern zur Seite zu stehen, liebend.
«apostolische», Martyria: Die Weitergabe der Botschaft in Zeugnis, Bildung und Kommunikation.
|50| In der folgenden Grafik werden die Bezüge der vier Dimensionen dargestellt. Die vertikale Linie gründet im Glauben an das Evangelium und bezeugt diese Botschaft in die Welt hinaus, die horizontale Linie verbindet die beiden Pole «innen» und «aussen» miteinander und macht deutlich, dass jede Verkündigung «urbi et orbi» erreichen will. Diese Grundfigur bildet den Hintergrund für jedes kirchliche Handeln.
apostolisch | |||
MARTYRIA | |||
Katholisch | eine | ||
DIACONIA | KOINONIA | ||
heilig | |||
LEITOURGIA | |||
Es wäre zudem ein Leichtes, auf den beiden Achsen die einzelnen Aktivitäten einer Gemeinde aufzutragen, um festzustellen, wie ausgewogen oder unausgewogen in Bezug auf das Bild die jeweiligen Bereiche korrelieren.
4. Vermittlung der Botschaft
Es war ein überaus mutiger Aufbruch für die eben erst konstituierten reformierten Landeskirchen, als sie in der Zeit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, insbesondere zwischen Helvetik und Neugründung der Eidgenossenschaft, der aus der ruralen Situation in die neu entstehenden Wirtschaftsorte migrierenden Bevölkerung gefolgt sind und in den neuen Siedlungen Kirchen (und später Gemeindehäuser) errichtet haben – um den «umgepflanzten Menschen» auch religiös eine neue Heimat und sicheren Boden zu schaffen. Innerhalb kurzer Zeit mussten – mit nachhaltigem Erfolg – neue Ressourcen erschlossen und neue Formen der Evangeliumsvermittlung entwickelt und umgesetzt werden. Heute daran zu erinnern, ist kein nostalgischer Akt. Vielmehr zeigt es, dass auch in früheren Zeiten kirchliches Handeln die Zeichen der Zeit lesen und entsprechend ansetzen konnte.
Aus dem unter 1–3 oben Gesagten lässt sich klar erkennen, dass die Präsenz der Kirchen in der Welt auf verschiedenen Ebenen stattfinden muss. Kurz erläutert |51| seien die vier folgenden, in sich zusammengehörenden und sich gegenseitig bedingenden und befruchtenden Ebenen:
«territoriale Ebene»: Die Menschen werden dort angesprochen, wo sie ihren Wohnsitz haben. Das dürfte weiterhin der privilegierte Ort sein, um Gemeinschaftsformen jeglicher Art zu entwickeln und zu implementieren.
«kasuale Ebene»: Die Menschen werden dort aufgesucht, wo sie freiwillig oder eingewiesen für eine bestimmte kürzere oder längere Zeit leben und leben müssen, z. B. in Spitälern, Kliniken, Heimen, Gefängnissen, Betrieben, Schulen etc. Im Zentrum stehen stützende und unterstützende Aspekte.
«occasionale Ebene»: An stark frequentierten oder ungewohnten Orten entstehen kurz- oder langzeitige «Einkehrmöglichkeiten», «Oasen der Besinnung», «Gelegenheiten zum Atemholen». Menschen werden Momente der Ruhe, des Nachdenkens, der Unterbrechung angeboten, Leitourgia-Zeiten.
«mediale Ebene»: Die evangelische Botschaft hat ihren (selbstverständlichen) Platz in öffentlichen und privaten elektronischen und Print-Medien sowie im ganzen sprunghaft raumgreifenden Feld der Social Media. In interaktiven Gefässen verbreiten sich Zeugnis, Bildung und Kommunikation der befreienden Botschaft von Jesus Christus für die Welt.
Diese vier Struktur-Ebenen lassen sich grafisch so darstellen:
Diese vier Ebenen sind untrennbar miteinander verbunden und basieren auf einer territorialen Struktur, die wohl noch auf lange Sicht konstitutives Element jeder kirchlichen Struktur sein wird. Die anderen Ebenen machen deutlich, dass heute und morgen eine territorial orientierte Sicht nicht mehr genügen kann.
Ein zentrales Problem für eine zukünftige und zukunftstaugliche Organisation der Kirche wird die Zuteilung der Mitarbeitenden sein. Bislang orientierte sie sich anhand vorgegebener Quoren von Gemeindemitgliedern, die in einem definierten Territorium wohnen. Mit den laufenden Reformen werden bisherige Abgrenzungen aufgehoben oder zumindest sehr durchlässig. Zudem verbringen zunehmend |52| mehr Menschen ihre Wachzeit nicht am Wohnort, sondern dort, wo sie arbeiten, ihre Freizeit verbringen, ihr soziales Leben führen. Das ruft nach einer «Personalzuteilung nach Bedarf», wobei sich diese saisonal ändern kann (z. B. unter Berücksichtigung der Tourismusströme im Sommer oder im Winter).
Die generelle Umstellung von einer «Nachtstruktur auf eine Tagstruktur» braucht von allen Beteiligten und Betroffenen eine grosse Flexibilität und ein Amtsverständnis, das darauf ausgerichtet ist, dass kirchliche Präsenz und kirchliches Handeln möglichst viele Menschen erreichen und interessieren kann.
5. Dringlichkeit der Neuorientierung
An einigen Orten haben sich die Kirchen bereits neu etabliert oder sind im Begriff, für ihre Arbeit neue Räume zu erschliessen. Es ist wichtig, dass sie dafür auch in naher Zukunft sowohl die nötige innerkirchliche Ermutigung wie auch die notwendigen Infrastrukturelemente (Finanzen, Räume, Personal, Material) erhalten. Die rasante Urbanisierung unserer Umwelt bringt ein hohes Mass an Verunsicherungen und Ängsten mit sich. Hier können sich die Kirchen in vielfältiger und den jeweiligen konkreten Situationen angepasster Weise als sinn- und wertestiftende Institutionen profilieren, die verlässlich und vertrauenswürdig sind.
Die skizzierten Strukturebenen verlangen ein grundsätzliches Umdenken in jeder Hinsicht. Gleichzeitig ist es ein wichtiger und zukunftweisender «Prozess des Aggiornamento», in dem es um nichts weniger geht als um die angemessene und getreue Umsetzung des sogenannten Missionsbefehls von Mt 28,18–20. Und um die Sicherung der gesellschaftlichen Kraft der biblischen Botschaft als Ganzer in einer sich neu formierenden, aber keineswegs «säkularisierten» Welt.