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Saisonale Migration
ОглавлениеWesentlich häufiger als dauerhafte Auswanderungen über weite Distanzen hinweg waren in der gesamten Frühen Neuzeit verschiedene Formen zyklischer bzw. saisonaler Migration. Sylvia Hahn weist in ihrem Überblickswerk zur Migrationsgeschichte darauf hin, dass auch die Bevölkerung Tirols schon früh, nämlich von Joseph Rohrer in seinem Werk „Uiber die Tiroler“ aus dem Jahr 1796, als in dieser Hinsicht sehr mobil charakterisiert wurde:34 „Es ereignet sich nämlich in mehreren unfruchtbaren Thälern alljährig der Fall, daß sie auf einige Monathe von ihren männlichen Einwohnern, wie unsere Donauufer von den wilden Gänsen verlassen, und erst nach einer geraumen Zeit wieder besucht werden.“35 Verschiedene Wege des Nebenerwerbs waren notwendig, da die Landwirtschaft alleine nicht ausreichte, um alle Bewohner*innen des Landes zu ernähren,36 so Rohrer, das betreffe im Besonderen auch den „sehr unfruchtbaren Imsterkreis“, also auch das Tiroler Oberland.37 Als Händler*innen und Hausierer*innen, als Handwerker oder aber Hilfskräfte in der Landwirtschaft suchten viele Menschen im Ausland oder zumindest außerhalb ihrer unmittelbaren Herkunftsregion Verdienstmöglichkeiten. Besonders prominent werden in der Literatur Bauhandwerker aus Tirol und Vorarlberg erwähnt, die entweder einzeln oder in Gruppen von bis zu über 100 Personen auf Baustellen in verschiedenen Regionen Europas tätig waren, von Süddeutschland nordwärts bis nach Luxemburg, im vorderösterreichischen Gebiet sowie im Osten und auch Süden Frankreichs.38
Die zahlenmäßig bedeutendste saisonale Wanderungsbewegung machten jene aus, die sich in der Landwirtschaft verdingten – zumindest bis um 1800. Die Auswirkungen des Erbrechts auf die Bodenbesitzstrukturen waren dabei ein wesentlicher Faktor. War Grund und Boden stark aufgesplittert, wie in Gebieten mit Realteilung, etwa dem Tiroler Oberland, begünstigte das saisonale Migration. Aus diesen Regionen zogen die Menschen nicht selten in solche, in denen konzentriertere Besitzstrukturen saisonale Helfer*innen in der Landwirtschaft erforderlich machten, um dort ihr Geld zu verdienen. Die Poebene bzw. Oberitalien oder auch Süddeutschland waren zum Beispiel Ziele solcher Wanderungsbewegungen, aber auch im Tiroler Pustertal waren große Höfe im Sommer auf Hilfskräfte angewiesen.39 Auch die saisonale Migration von Kindern aus dem Tiroler Oberland, die bis ins 20. Jahrhundert hinein vorkam, ist hier zu erwähnen. Als „Schwabenkinder“ fanden sie nicht nur Eingang in die Forschungsliteratur,40 sondern auch in die Populärkultur.41
Neben jenen, die ihre Arbeitskraft zu Markte trugen, zogen – verstärkt ab dem 18. Jahrhundert – außerdem Tausende über die Landesgrenzen hinaus, um mit unterschiedlichsten Produkten Handel zu treiben. Stubaier Metallwaren, Grödner Schnitzwaren, Deferegger Teppiche und Decken oder Handschuhe aus dem Zillertal wurden in weite Teile Europas exportiert, Oberinntaler Vogelhändler*innen, Ölträger*innen sowie Wein- und Südfrüchtehändler*innen und viele andere mehr betrieben ihre Geschäfte oft auch im Ausland.42 Dies konnte in Form eines einfachen Hausierhandels durch einzelne Kraxenträger geschehen oder auch deutlich professionalisierter durch Handelsgesellschaften mit mehreren Teilhabern.43
Abb. 6: Gerade in und um Imst waren Vogelhandel und Vogelzucht eine Einkommensquelle. Kupferstich von Johann Ernst Mansfeld nach einer Zeichnung von Johann Christian Brand, 1798
Ziel- und Ausgangspunkt zugleich war die Region auch für weitere Formen von Mobilität als Arbeitsmigration: die Touren von Handwerksgesellen etwa44 oder die Wanderbzw. Lehrjahre des männlichen Nachwuchses der ländlichen Eliten.45 In den Quellen finden sich neben diesen bekannten Migrationsmustern jedoch mitunter auch Hinweise auf ungewöhnliche Karrieren, wie etwa die der aus Silz stammenden Wundarzt-Tochter Therese Stockerin, die 1802 „zu Warschau in Königreich Pohlen als Kammerjungfer“ tätig war.46 All diese Erscheinungsformen von Migration bzw. Mobilität, die aus Tirol hinausführte, können an dieser Stelle jedoch nicht eingehender behandelt werden.
Wie viele Tiroler*innen – es waren vorrangig Männer – auf diese Weise außer Landes unterwegs waren, ist unklar. Eine Schätzung für das 18. Jahrhundert geht von rund 30.000 aus, eine Erhebung in den Jahren 1811/1812 zählte 27.800 (bei einer Gesamtbevölkerung von rund 700.000 Personen). Wesentlich ist, dass die beschriebene saisonale Mobilität keineswegs ohne Weiteres immer als Folge von Überpopulation und ungenügenden Erträgen aus der Landwirtschaft sowie einer allgemeinen wirtschaftlichen Krise zu interpretieren ist: „Die Subsistenzsicherung durch Mehrberufigkeit stellte […] den ‚Normalzustand‘ dar“, und vor allem hinsichtlich des Wander- bzw. Hausierhandels mit heimgewerblich gefertigten Produkten, dessen Bedeutung im 18. Jahrhundert anwuchs, erklärt Ammerer, dass diese Wanderungen durchaus als „Karrieremöglichkeiten bzw. Chancen für ein ‚besseres Leben‘“ betrachtet wurden.47