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Für eingehende Betrachtungen verschiedenster Aspekte jenischer Geschichte in Tirol konnten dankenswerterweise eine Reihe hervorragender Wissenschafterinnen und Wissenschafter gewonnen werden. Mobilität ist das Thema des EUREGIO-Museumsjahres 2021 – aus diesem Grund wird auch die Frage danach, ob Mobilität nun Ausnahme oder Alltag im historischen Tirol war, an den Eingang des Buches gestellt. Der Historiker Michael Span erstellt unter dem Titel „Migration und Mobilität im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit“ einführend einen Überblick über die Formen und die Bedeutung von Mobilität in Tirol – in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Bereits im 16. Jahrhundert gab es erste Bestrebungen im Rahmen der Tiroler Landesordnung, die Mobilität der Tiroler strenger zu regeln. Wanderhandel, Bettel und Migration standen jedoch bis ins 20. Jahrhundert an der Tagesordnung.

Von der allgemeinen Mobilitätsgeschichte hin zur Geschichte der Jenischen führen Elisabeth Maria Grosinger-Spiss und Roman Spiss im Beitrag „Die Jenischen im Tiroler Oberland“, in dem sie am Beispiel konkreter Familiengeschichten historische Realität erfahrbar machen. Diese war geprägt von der Verachtung der „Vagabunden“, die manchmal ihre gesamte Habe auf Karren mit sich führten, abseits der Siedlungsgebiete lagerten und sich als Tagelöhner oder als Besenbinder, Scherenschleifer, Regenschirmund Pfannenflicker oder Korbflechter den Lebensunterhalt verdienten, durch die sesshafte Bevölkerung. Ihre Lebensweise brachte sie regelmäßig in Konflikt mit dem Gesetz und den Interessen der sesshaften Bevölkerung, die sie als „Karrner“, „Dörcher“ oder „Laninger“ bezeichnete.1 Die marginalisierten Dauer-Wanderer waren schon bald stigmatisiert, wie ein Bericht des Brunecker Kreisamtes aus dem Jahr 1818 verdeutlicht: „Als Hauptschule des Verbrechens sieht (man) die sogenannten Landfahrer, Dörcher, Karrenzieher; die Deserteurs und die arbeitsscheuen Vagabunden an.“2


Abb. 1: Schloss Wiesberg mit fahrender Familie im Vordergrund, gezeichnet von Carl Viehbeck, 1820

Maßgeblich zur Verachtung dieser sozialen Gruppe trugen, neben der Abstiegsangst der Sesshaften,3 nicht zuletzt die mit dem Anwachsen der Gruppe zunehmenden Kosten für die Gemeinden bei. Die Gemeinden waren – wenn seitens der Verarmten ein Heimatrecht bestand – für die Ausstattung der Kinder und die Armenfürsorge zuständig.4 Wie die Situation in Gemeinden aussah, in denen viele Jenische daheim waren, zeichnet der Chronist Manfred Wegleiter exemplarisch für die Gemeinde Haiming nach. Für seinen Beitrag „Die Haiminger Landfahrer im Spiegel der Zeit“ hat er eine Vielzahl an Dokumenten aus verschiedenen Archiven durchgearbeitet und analysiert sowie Zeitungen nach jenischen Spuren durchforstet. Dabei spielen Quellen wie Gemeinderatsprotokolle oder das Totenbuch am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eine große Rolle, anhand derer etwa die Suche nach Wohnraum oder die Hygienebedingungen und die daraus resultierende hohe Kindersterblichkeit nachvollzogen werden können. Wegleiter bemüht sich um ein differenziertes Bild, liefert Erklärungen für zugeschriebene Verhaltensweisen und streicht beispielsweise auch Leistungen aus dem Schulbereich hervor, die gängigen Vorurteilen widersprechen. Ergebnis ist ein vielstimmiges Bild einer Gemeinde, das vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht.

Mit einer spannenden Zusammenschau von „Fragmenten einer Familiengeschichte aus dem Oberland“ setzt der Historiker Stefan Dietrich die Überlegungen fort und lässt die Leserschaft an der eigenen Familiengeschichte teilhaben, die über fast 200 Jahre hinweg Anekdoten aus dem Leben der Katharina Mayr in mündlicher Überlieferung erhalten hat. Dietrich stellt die Erzählungen den schriftlichen Quellen rund um Katharinas Biografie gegenüber. Interessantes Detail: In der Hoffnung auf das Sakrament einer sogenannten „Rom-Ehe“ führte ihr Lebensweg tatsächlich bis nach Rom. Gerade für Menschen, denen in den Heimatgemeinden die Bewilligung zur Heirat verweigert wurde, stellte eine Trauung durch einen päpstlichen Vertreter in Rom die einzige Möglichkeit dar, eine Ehe zu schließen. Trotz der Gefahr einer mehrwöchigen Gefängnisstrafe nach der Rückkehr in die Heimatgemeinde wurde diese Möglichkeit im 19. Jahrhundert häufig von Jenischen angenommen.

Im darauffolgenden Beitrag „Die Vinschger sain Korrner!“ wirft Helene Dietl Laganda einen Blick auf die Situation in Südtirol bzw. speziell ins Vinschgau. Wie eingangs erwähnt, kam es in Südtirol durch eine frühe kritische Kulturarbeit zu einer bemerkenswerten Diskursverschiebung, die zur Folge hatte, dass sich die Vinschger Bevölkerung kollektiv im Erbe der „Korrner“ sieht. Andererseits scheint aber der Bezug zu realen Personen der Vergangenheit zu fehlen und es wird davon ausgegangen, dass es keine „Korrner“ mehr gibt. Von der Eigenbezeichnung als Jenische und einer eigenen Sprache fehlt heute jegliche Spur.5 Eine in letzter Instanz nicht ganz befriedigende Erklärung, warum dies so sein könnte, liegt in der sogenannten Option. Der deutschsprachigen Bevölkerung wurde mit dem Hitler-Mussolini-Abkommen 1939 vor die Wahl gestellt, entweder ins nationalsozialistische Deutschland zu emigrieren oder mit dem Verbleib in Südtirol die Repressionen infolge der Italianisierungskampagne der faschistischen Regierung in Rom in Kauf zu nehmen. Offensichtlich waren unter den ersten und dauerhaften Optanten viele Südtiroler Jenische, die als Ärmste der Armen wenig zu verlieren hatten.6 Paul Rösch vermutet auch, dass ihnen von den Bürgermeistern „goldene Brücken gebaut wurden, dass sie gehen“.7 Auch Alois Federspiel („Storchn Lois“), dessen Biographie als die eines der „letzten“ Südtiroler „Korrner“ in diesem Buch wieder abgedruckt wird, hat sich für die Option entschieden. Die Bezüge zwischen Süd- und Nordtiroler Jenischen zeigen sich aber schon früher. Im Bewusstsein, dass es schwierig ist, sich an Familiennamen zu orientieren, und damit Vorurteile reproduziert werden, die etliche Jenische dazu veranlasst haben, andere Namen anzunehmen,8 können doch familiäre Beziehungen über den Reschenpass festgestellt werden. Auch in persönlichen Gesprächen mit Nordtiroler Jenischen im Rahmen der von der Initiative Minderheiten seit 2016 veranstalteten Jenischen Kulturtage werden diese Verbindungen immer wieder erwähnt.

Einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte widmet sich der Zeithistoriker Horst Schreiber unter dem Titel „Die Jenischen im Nationalsozialismus“. In atemberaubender Dichte zeichnet Schreiber die politische Linie des nationalsozialistischen Regimes nach, die eine Anerkennung der Jenischen als zugehörig zur „Volksgemeinschaft“ in Aussicht stellte, wenn diese ihre Lebensweise aufgeben würden und sich assimilierten. Zugleich wurde Jenischen von Anfang an unterstellt, ebendiese „Volksgemeinschaft“ zu zersetzen, und sie wurden als „Asoziale“ verfolgt. Einzelne dieser Schicksale finden, wo sie sich rekonstruieren lassen, im Beitrag Eingang und geben so ein fundiertes Bild der Situation Jenischer in der NS-Zeit sowie in den ersten Jahrzehnten danach. Einmal mehr zeigen sich ideologische und personelle Kontinuitäten nach 1945. Doch auch die Tatsache, dass die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Bezug auf die Diskriminierung und Verfolgung der Jenischen „mehr Kontinuität als Bruch“ bedeutete, wird deutlich.

Romed Mungenast als Person einerseits und besonders als Pionier in den Bemühungen um die Dokumentation der jenischen Geschichte andererseits nimmt in einem Sammelband zur jenischen Geschichte in Tirol wenig überraschend einen wichtigen Platz ein. In einem ersten Beitrag gibt die Literaturwissenschaftlerin Christine Riccabona auf die Frage „Was bleibt vom Pionier, Kulturvermittler, Sammler und Dichter Romed Mungenast?“ eine Antwort in Hinblick darauf, welche Teile von Mungenasts Sammlung im Innsbrucker Forschungsinstitut Brenner-Archiv Eingang fanden. Darin und in seinem literarischen Nachlass findet sie „Spuren einer Haltung“ und stellt ein bleibendes Interesse an Werk, Leben und Sammlung von Romed Mungenast fest.

Im darauffolgenden Beitrag „Ich habe mein Leben geändert“ wird das Gespräch des Historikers Thomas Huonker mit Romed Mungenast aus dem Jahr 2003 in Auszügen wiedergegeben. Darin erzählt Mungenast offen und selbstkritisch über Schlüsselerlebnisse, die ihn bei der Entwicklung von einem diskriminierten und ausgegrenzten Kind – durch eine Phase der Wut über dieses Unrecht – hin zu einem Forscher und Kenner der jenischen Geschichte unterstützten und ihn zu einem Vorkämpfer für die Anerkennung Jenischer als Teil der Tiroler Geschichte und Gesellschaft werden ließen. Man freut sich posthum mit ihm, wenn man ihn, wenige Jahre vor seinem zu frühen Tod 2006, von seinem späten persönlichen Glück erzählen hört.

Edith Hessenberger widmet sich in ihrem Beitrag „Fremdbilder >< Selbstbilder. Leben mit der Geschichte jenischer Ahnen“ den Spuren Jenischer im Ötztal. Sie stellt Erzählungen, Anekdoten und historische Quellen über Jenische zwei lebensgeschichtlichen Interviews mit Jenischen gegenüber. Durch diese Konfrontation von Fremd- mit Selbstbildern regt sie eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung an. Divergenzen zeigen sich hier etwa besonders deutlich in Bezug auf die Inszenierungen der „Karrner“ und „Laninger“ in den Fasnachten der Region sowie den Reaktionen Jenischer darauf. – Ist es Zufall, dass beide jenischen Gewährsleute ihren Ausdruck in Kunst und Literatur gefunden haben?

Mit Gedichten von Sieglinde Schauer-Glatz in jenischer Sprache und im Ötztaler Dialekt schließt die vorliegende Publikation den Bogen auf poetische Weise. In den abgedruckten Texten verhandelt die Dichterin, die für ihr jahrzehntelanges Engagement für Menschen mit Behinderung 2010 mit der Verdienstmedaille des Landes Tirol ausgezeichnet wurde, Ausgrenzungen. Der Abschluss ist jedoch geprägt durch den versöhnlichen Ton im Gedicht „Die Hoamat“, in dem sie auf ihre Kindheit in Huben zurückblickt.


Abb. 2: Jenisches Lager am Wegesrand im Vorderen Ötztal

An dieser Stelle soll ein Wort zum Titelbild dieses Bandes nicht fehlen: Wir stellen – symbolisch für die Herangehensweise an dieses komplexe Thema – eine Fotografie von Meinhard Pfaundler aus dem Jahr 1931 an den Anfang dieses Buches (und auf die Titelseite des Projektes): Sie befindet sich mit der Bildbeschriftung „Karrner“ in einem Fotoalbum über Piburg (Gemeinde Oetz) und lässt viele Fragen offen. Nicht nur die Fragen danach, wer auf diesem Foto zu sehen ist oder wo dieses Foto gemacht wurde. Auch die Frage danach, ob es sich wirklich um Jenische handelt oder ob uns einige stereotype Elemente hier in die Irre leiten. Ausgehend von den wenigen Daten, die uns heute noch vorliegen, den wenigen Zeugnissen wie Fotos oder Erinnerungserzählungen sollen Aspekte jener Geschichte von Tirolerinnen und Tirolern rekonstruiert und bewusst gemacht werden, die mitunter gezielt unsichtbar gehalten wurden.

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1 Pescosta 2003, S. 20 u. 30.

2 Jäger 2005, S. 227.

3 Spiss 1993, S. 100.

4 Kluibenschedl 1985, S. 72.

5 Als Paul Rösch, der sich in den späten 1980er Jahren als einer der Ersten umfassend mit den „Korrnern“ im Vinschgau wissenschaftlich auseinandergesetzt hat, Interviews für seine Dissertation (vgl. Rösch 1988) führte, waren wenigen älteren Leuten zwar noch einzelne jenische Worte geläufig, aber als eigenständige Sprache war Jenisch nicht mehr in Verwendung. (Vgl. Rösch und Obwegeser 2019, 49:45 min.) Die Tochter von Alois Federspiel hingegen erzählte davon, dass ihr Vater gelegentlich die Sprache benutzte.

6 Vgl. auch ebd., 38:00 min.

7 Ebd., 41:20 min.

8 Für den Vinschgau konstatiert Paul Rösch etwa, dass viele Jenische im Rahmen der Italianisierung der Faschisten recht früh italienische Namen annahmen. Ebd., 40:35 min.

Fahrend? Um die Ötztaler Alpen

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