Читать книгу Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit - Группа авторов - Страница 15
4 Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik
ОглавлениеIn der Auseinandersetzung mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik stellen sich sogleich zwei Kernfragen: Welche Implikationen werden mit diesem Terminus assoziiert? Welche didaktischen Umsetzungsmöglichkeiten stehen Lehrkräften zur Verfügung? Letztere wird nicht abschließend beantwortet werden können. Die in den 1980er und 1990er Jahren entwickelte und von der Fremdsprachenforschung eingeführte Mehrsprachigkeitsdidaktik (bspw. Gnutzmann / Köpcke 1988; Krumm 1999a, b; Hufeisen 1991; Meißner 1995, 1998), verfolgte das übergeordnete Ziel „die Mehrsprachigkeit sowie das allgemeine Sprachbewusstsein von Fremdsprachenlernern zu fördern“ (Tekin 2012, 174). Etwas differenzierter umzeichnet Wiater das Profil von Mehrsprachigkeitsdidaktik: „Die Didaktik der Mehrsprachigkeit ist die Wissenschaft und Lehre vom kombinierten und koordinierten Unterricht und Lernen mehrerer Fremdsprachen innerhalb und außerhalb von Schule. Ihr primäres Ziel ist die Förderung der Mehrsprachigkeit durch Erarbeitung sprachenübergreifender Konzepte zur Optimierung und Effektivierung des Lernens von Fremdsprachen sowie durch die Erfahrung des Reichtums der Sprachen und Kulturen“ (2006, 60). Angelehnt an Vorstudien konkretisiert Wiater diese Gelingensbedingungen. Es werden folgende aufgelistet:
die Vorrangstellung des lernenden Subjekts und seiner funktionalen Kommunikationskompetenz,
die Zentrierung auf Fragen der Sprachtypologie, der Sprachfamilien, der Sprachähnlichkeiten, der Sprachparallelen und der sprachlichen Universalien zu Lasten der spezifischen und einzelnen Fremdsprachenkenntnis,
die curriculare Abstimmung hinsichtlich der Inhalte, Ziele, Methoden und Medien zwischen den zu lernenden Sprachen,
die Entscheidung über eine förderliche Sprachenabfolge,
die Nutzung der Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachen für das Lernen (vgl. Transfer, Interferenz),
das Erarbeiten interlingual nutzbarer Elemente (Wortschatz, Formen) und Strategien für das Verstehen unbekannter, fremdsprachlicher Texte (vgl. Interferenz),
den Aufbau sprachengemeinsamer kognitiver Schemata und das Erlernen von Dekodierungstechniken,
lernorientierte Methoden und Individualisierung beim Sprachenlernen,
die Vernetzung des schulischen mit dem außerschulischen Lernen und der vorgelernten und der nachgelernten Sprachen im Sinne einer lifelong language learning perspective und
Überlegungen zum interkulturell erziehenden Unterricht und zum multilingual bildenden Lernen in den Fremdsprachenfächern. (Wiater 2006, 60)
Fachspezifische Inhalte der Vergleichenden Sprachwissenschaft decken den größten Teil der o.g. Anforderungen ab (bspw. Fokussierung auf die Sprachtypologie, Sprachkontrast, genetische Verwandtschaft von Sprachen), und sind somit für eine Sensibilisierung im Sinne einer Language Awareness konstitutiv. Ein Blick auf die curricularen Vorgaben unterstreicht das Gesagte. Beispielhaft wird zusätzlich auf die Kernlehrpläne für das Gymnasium in der Sekundarstufe I Bezug genommen.1 Im ausgewählten Kompetenzbereich für die Fremdsprache Französisch fehlt der Begriff Sprachbewusstsein (cf. KLP 2019, 14) ebenso in der Beschreibung für das Fach Spanisch. Zu den Fachkompetenzen, die Spanischlernende zu bewältigen haben, zählt neben dem Sprachgebrauch auch die Fähigkeit einen Sprachvergleich zur Auffindung von Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten durchführen zu können (cf. KLP 2019, 23). Es kann vorerst vorsichtig konstatiert werden, dass die Sensibilisierung für einen bewussten Umgang mit Mehrsprachigkeit nicht flächendeckend geschieht und diese aufklaffende Lücke dringend geschlossen werden sollte. Die Gelingensbedingungen sind zum einen von den internen curricularen Vorgaben abhängig, die es zu optimieren gilt. Zum anderen ist die thematische Abstimmung von Inhalten genau zu überlegen.
Dass die Forschung zur Mehrsprachigkeitsdidaktik und ihre Umsetzung in konkreten Lehr-Lernzusammenhängen noch lange nicht abgeschlossen ist, stellt Marx besonders kritisch heraus. Sie konstatiert, dass der „Weg zu einer effektiven Mehrsprachigkeitsdidaktik und somit auch zu einer Vergrößerung der gesellschaftlichen Akzeptanz anderer Sprachen (v.a. der community languages) größtenteils unbeschritten [geblieben ist]“ (2014, 20). Reimann versucht diese und weitere Lücken zu schließen und plädiert in seinem 2016 erschienenen Aufsatz „Aufgeklärte Mehrsprachigkeit – Sieben Forschungs- und Handlungsfelder zur (Re-)Modellierung der Mehrsprachigkeitsdidaktik“ für die Einbindung weiterer Sprachen als die klassischen Schulfremdsprachen in mehrsprachige Lehr-/Lernprozesse, denn das „[…] Ziel mehrsprachigkeitsdidaktischer Bemühungen ist die Entwicklung einer transkulturellen kommunikativen Kompetenz, die als Fähigkeit zur Verständigung über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verstanden werden kann“ (Reimann 2016, 29). Zu diesem Zweck modelliert Reimann sieben Diskurs- und Handlungsfelder (unter Einbezug bspw. von Herkunfts- und Familiensprachen, des Deutschen als Muttersprache und als Fremd-/Zweitsprache), innerhalb derer die rezeptiven und produktiven Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern aufgebaut werden sollen (2016, 18sqq.).
Es schließt sich sodann die zweite Frage an: Welche didaktischen Umsetzungsmöglichkeiten können Lehrkräften an die Hand gegeben werden, um den curricularen Vorgaben genüge zu leisten und die Sprachenvielfalt im Klassenzimmer zu berücksichtigen und in das Unterrichtsgeschehen einzubinden? Auf eine Antwort mit Umsetzungspotential ist vorerst noch nicht zu hoffen, unterscheiden sich doch die Perspektiven der beteiligten Forscher und Forscherinnen nicht selten. Bredthauer formulierte jüngst: „Die Forschung und Entwicklung mehrsprachiger Unterrichtskonzepte ist […] dringend erforderlich“ (2019, 128). Martinez klingt optimistischer, wenn sie festhält, dass es inzwischen eine Reihe von Aufgaben gibt, die die „rezeptive Kompetenz im Rahmen von interkomprehensiven Ansätzen, die Schulung produktiver und interkultureller Kompetenzen sowie Diskursfähigkeit“ fördern (2015, 11). Einschränkend betont sie jedoch die noch nicht vorhandene Typologie derart konzipierter Aufgaben und nennt zumindest einige zielführende Prinzipien wie einen intra- und interlingualen Transfer und die Interkomprehension (ibid. 12). Im Deutschunterricht, so beklagt Wildemann (2013, 324), sei das Potential metasprachlicher Kompetenzen bei mehrsprachigen Lernern längst nicht ausgeschöpft, obschon bereits im Jahre 2011 unter der Ägide des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung eine Handreichung mit Sprachvergleichen (z.B. Bosnisch-Deutsch; Polnisch-Deutsch; Portugiesisch-Deutsch) unter dem Titel „Mehrsprachigkeit zur Entwicklung von Sprachbewusstsein – Sprachbewusstsein als Element der Sprachförderung“ veröffentlicht worden war. Für diesen immer noch misslichen Umstand stellte sie folgende Gründe zusammen:
Im Deutschunterricht wird immer noch viel zu wenig auf das sprachliche Wissen mehrsprachiger Lerner rekurriert (Wildemann 2010a; 2010b; Roth 2006).
Die Diskussion und Entwicklung von Sprachförderung zielt vornehmlich zu einseitig auf die Beherrschung der Mehrheitssprache ab und ist damit primär defizitorientiert konzeptualisiert (dazu auch Ehlich 2009; Maas 2008; Wildemann 2010a).
Dies alles geschieht auf einer noch unzureichend empirisch erschlossenen Grundlage im Hinblick auf Sprachaneignung, Sprachdiagnostik und Sprachfördermaßnahmen (dazu Redder 2011).
Mit der Frage, inwiefern sich der Deutschunterricht an Schulen tatsächlich für die Idee einer Mehrsprachigkeitsdidaktik geöffnet hat, beschäftigte Marx. Unter Berücksichtigung des niedersächsischen Kerncurriculums sichtete sie Lehrwerke für den Deutschunterricht und unterzog diese einer genauen Analyse (Marx 2014, 12sqq.). Zwei der Ergebnisse wurden zur Darstellung herausgegriffen: „Erstens wird häufiger auf die kulturelle Diversität eingegangen als auf die sprachliche, und zweitens besteht schon bei dieser Erstanalyse ein deutliches Übergewicht des Englischen“ (Marx 2014, 14). Auf qualitativer und quantitativer Ebene beobachtete Marx viele Leerstellen. Es ist zunächst festzuhalten, dass die gesichteten Lehrwerke einige Anknüpfungspunkte für eine Didaktik der Mehrsprachigkeit anbieten, jedoch die Hinführung zu einer Sprachenbewusstheit nur schwach ausgeprägt ist. Ebenso inkonsequent aufbereitet ist die sprachreflektierende Arbeit (bspw. Reflektion von Lexemen, sprachvergleichende Übungen, sprachübergreifende Lern-, Schreib- oder Erschließungsstrategien) (Marx 2014, 17sqq.). Diese ersten Ergebnisse Verweisen auf den Umstand, dass mehrsprachigkeitsfördernde Konzepte die schulische Alltagsrealität noch lange nicht erreicht haben, auch wenn bereits sprachvergleichendes Material für den didaktischen Einsatz entwickelt worden ist.2 Aus der Perspektive von lehrpraktischen Überlegungen bedarf es aber einer Didaktik, die sich dem Wandel der Zeit zuwendet und die mehrsprachige Lebenswelt von Menschen stärker berücksichtigt bzw. ihre individuelle Mehrsprachigkeit nicht aus dem Blick verliert. Die Hinwendung zu allen Schülerinnen und Schülern unterstreicht die Idee einer Mehrsprachigkeitsdidaktik. Als weiteres Argument kann die Spracherwerbsforschung herangezogen werden, die unlängst durch zahlreiche empirische Studien die Bedeutung der Erstsprache für den Erwerb weiterer Sprachen belegen konnte (bspw. Cummins 1981; Brizić 2007). Diese Ressource nutzt mehrsprachigen Lernern „zum Erwerb einer Zweit- und Drittsprache, ganz im Sinne der Sprachbewusstheit (‚language awareness‘), um Verbindungen zwischen den Sprachen herzustellen und Gemeinsamkeiten oder Unterschiede transparenter werden zu lassen“ (Wiater 2006, 64). Die Rückbindung auf erworbene oder erlernte Sprachen entwickelt nicht nur das Sprachenbewusstsein, sie führt zudem „zu vertiefter Sprach(en)kompetenz (aller Sprachen, ob Erst-, Zweit-, Herkunfts- oder Fremdsprachen), zur Vorbereitung auf das Lernen weiterer Sprachen und zur Erhöhung der Sprachlernmotivation“ (Marx 2014, 9). Mehrsprachigkeit zielt darauf ab, individuelle Sprachbiographien ernstzunehmen und ein Bewusstsein für andere Sprachen und Kulturen zu entwickeln. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik sucht nach Wegen, dieses Ziel zu erreichen. Die Frage nach adäquaten Unterrichtsmaterialien (u.a.) stellt weiterhin ein Desiderat dar, das im wissenschaftlichen Diskurs hochaktuell behandelt wird (Bredthauer 2019, 129), obschon es bereits erste Vorstöße in diese Richtung gibt.3 Die Sprachbiographie und Sprachlernerfahrung von neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler – dies gilt es zusätzlich zu bedenken – offenbart eine stärkere sprachliche und kulturelle Diversität als bisher berücksichtigt und die Frage nach didaktisch wirksamen Materialien ist auch mit Blick auf diese Schülergruppe virulenter denn je.