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2 Kasuistik als hier notwendiger methodologischer Zugriff

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Allgemein ist die empirische sprachdidaktische Forschung zum Deutschunterricht noch recht überschaubar (Stahns 2013, Jost 2019), wobei sich die Lage zu den einzelnen sprachdidaktischen Kompetenzbereichen unterscheidet: Während die Schreib- und die Lesedidaktik auf zahlreiche Studien und Modellierungen zurückblicken können (vgl. den Überblick in Becker-Mrotzek, Grabowski / Steinhoff 2017), ist die Anzahl empirischer Arbeiten in den Bereichen Grammatikdidaktik bzw. Sprachreflexion noch relativ gering (Binanzer / Langlotz 2018, Funke 2018). Die bisher weitgehend fehlende empirische Erforschung der unterrichtlichen Einbeziehung von Herkunftssprachen lässt sich jedoch nur zum Teil durch diesen die Empirie marginalisierenden Trend erklären. Vielmehr scheint es der Fall zu sein, dass aufgrund der Fragestellung und den vielen verschiedenen daraus resultierenden Einflussfaktoren ein kontrolliertes Design in der Gesamtperspektive nur schwierig durchführbar ist. Wie ich weiter unten argumentiere, spielen für eine erfolgreiche unterrichtliche Einbindung von Herkunftssprachen u.a. die schülerseitigen herkunftssprachlichen Wissensbestände und die jeweiligen typologischen Merkmale der Herkunftssprache eine bedeutsame Rolle. Bedenkt man nur, dass sprachliches Wissen u.a. von Aspekten der Sprachbiografie, des Erwerbsverlaufs, der Literalisierung, des Schriftspracherwerbs, der Ein-, Zwei- oder Mehrsprachigkeit, des Sprachkontakts, der Inputfrequenz etc. abhängt und dass die Liste sprachtypologischer Merkmale relativ groß ist, so wird deutlich, dass zumindest mittelgroße empirische Vorhaben durch die Komplexität relevanter, miteinander interagierender Einflussfaktoren überfordert wären. Um dennoch meine folgenden Überlegungen plausibilisieren zu können, fahre ich daher einen kasuistischen Ansatz.

Kasuistische Ansätze haben in der Geschichte der Wissenschaften, insbesondere in der Medizin und Jura, aber auch in der Pädagogik und Didaktik eine bemerkenswert lange Tradition (vgl. die Darstellung in Düwell / Pethes 2014). In Anlehnung an Steiner (2014) verstehe ich unter Fallarbeit bzw. Kasuistik „eine an Fällen orientierte Vorgehensweise des Lernens, Lehrens, Untersuchens und Forschens, die auf Erziehungs- und Bildungsprozesse im Kontext von Schule und Unterricht fokussiert ist und zum Zwecke der Veranschaulichung, Analyse, Rekonstruktion, Entscheidungsfindung, Planung, Entwicklung, Reflexion oder ästhetischen Rezeption eingesetzt wird“ (Steiner 2014: 8). In den Bildungswissenschaften und der Pädagogik ist die Kasuistik als Lehr-Lern-Methode beispielsweise in Konzepten wie dem gedächtnispsychologischen Case-based-reasoning-Ansatz (Zumbach / Haider / Mandl 2008), im situierten Lernen (Fölling-Albers et al. 2004), im problemorientierten Lernen (Reusser 2005) oder im pragmatisch-semiotischen Ansatz (Steiner 2004) aufgegriffen worden. Der einzelne Fall und allgemeine Gesetzmäßigkeiten stehen dabei in einem Wechselverhältnis, in dem das Allgemeine über den Einzelfall hinausgehen und an andere Fälle transferierbar anschließen kann und/ oder der Einzelfall über das Allgemeine hinausgehen kann (Forrester 2014).

Auch in der Deutschdidaktik hat die Kasuistik als Form der gegenstandsorientierten Hermeneutik eine lange Tradition, die mit der Orientierung an „didaktischem Brauchtum, am Rezeptwissen“ von Ausbildern und Unterrichtspraktikern beginnt (Rothstein / Rupp 2017: 34) und erst durch die PISA-Studie in den 2000er Jahren durch neue deutschdidaktische, von den empirischen Sozial- und Bildungswissenschaften beeinflusste Forschungstraditionen (in einem heftigen Streit) Konkurrenz erhält (vgl. die Beiträge in Abraham et al. 2003). Noch heute dauert die Kontroverse an:

Holzschnittartig könnte man folglich von einem – im Vergleich zu früheren, eher homogen strukturierten Epochen der germanistischen Sprach- und Literaturdidaktik – deutlich wahrnehmbaren Schisma zwischen Gegenstands- und Kompetenzorientierung sprechen. (Rothstein / Rupp 2017: 35)

Die kompetenzorientierte deutschdidaktische Unterrichtsforschung orientiert sich zumeist an empirischen Methoden der Sozial- und Bildungswissenschaften, deren Anwendung zu Ausmessungen von Lerneffekten führt. Die Messbarkeit und Modellierung entsprechender unterrichtlich bedingter Effekte wird durchaus kontrovers diskutiert (Bredel 2014, Bremerich-Vos 2014), was zu ihrer teilweise massiven Ablehnung führt. Die Kasuistik ist prinzipiell kein Widerspruch zur Kompetenzorientierung, sie kann sich durchaus auf messbare Lerneffekte beziehen, indem an exemplarischen Einzelstudien Lernzuwächse gemessen werden: Das ist beispielsweise bei qualitativen introspektiven nicht-verallgemeinerbaren Studien der Fall. Zu einem beträchtlichen Teil spielen schülerseitige Lernzuwächse bei kasuistischen Studien jedoch keine sonderliche Rolle, stattdessen:

Sachhaltig wird an spezifischen Fällen gezeigt, nach welchen Regeln sich alltäglicher Unterricht gestaltet, welche Prozesslogik ihn bestimmt und welche Handlungsalternativen sich bei jeder Entscheidungsstelle potenziell ergeben. (Pflugmacher et al. 2009: 373)

Prinzipiell schließen sich die empirische quantitative oder qualitative Forschung und die gegenstandsorientierte Hermeneutik nicht aus (Rothstein / Rupp 2017), sondern können einander ergänzen, insbesondere in Fällen wie unserem, in denen Lernzuwächse nicht ohne Weiteres kontrollier- und messbar sind und in denen es zunächst um lehrerseitiges unterrichtliches Verhalten geht, wofür „Handlungs- und Deutungspraktiken zu rekonstruieren und zu prüfen“ (Pieper 2014: 9) sind. Die im Folgenden kasuistisch angelegte Vorgehensweise lehnt eine kompetenzorientierte, empirische Messung nicht ab, sondern lädt geradezu ein.

Wie ich oben bereits diskutiert habe, eignet sich die Kasuistik in besonderem Maße zur Ermittlung von herkunftssprachlichen Einbindungsmöglichkeiten in den Deutschunterricht. Es stellt sich jedoch berechtigterweise die Frage, welche Art von Kasuistik der Fragestellung gerecht wird. Steiner (2014) unterscheidet zwischen sieben „Kasuistikfamilien“, die er nach Lehr-Lern-Arrangement, Verwendungsabsicht, Autorschaft, Realitätsbezug, Zweck der Bearbeitung und Grad der Lernerautonomie differenziert. Es resultieren z.B. Vorlesungen oder Seminare mit Fallbeispielen oder Formen einer praxisreflektierenden Kasuistik, in denen Studierende retrospektiv selbst erlebte Fälle bearbeiten. Damit kombiniert Steiner (2014) die lehr- bzw. lernseitige hochschulische Fallarbeit mit universitären Lehr-Lern-Kontexten und dem Fall selbst. Für die Analyse entsprechender lehramtsausbildender Lehrformate erscheint dies sinnvoll, ist jedoch für die hier verfolgte Fragestellung irrelevant. Stattdessen gilt es, eine rein fallbezogene Perspektive einzunehmen und zwischen Fällen mit Realitätsbezug, Extension und Repräsentationsform zu unterscheiden. In der allgemeinen Kasuistik wird traditionell zwischen realen, fiktiven und gemischten realitätsbezogenen Fällen unterschieden (vgl. Düwell / Pethes 2014 und Steiner 2014). Reale Fälle haben sich tatsächlich so ereignet, fiktive Fälle sind erfundene bzw. konstruierte „Erzählungen“ und gemischte Fälle kombinieren beides. Insbesondere in der Jurisprudenz und der Medizin spielt die Transferierbarkeit von Fällen in Form des exemplarischen Lernens eine besondere Rolle: Diese letztlich seit der Antike verhandelte Ausdifferenzierung in vollständig, teilweise und nicht transferierbare sowie in allgemeingültige Fälle (vgl. Aristoteles) hat wissenschaftsgeschichtlich eine virulente Rolle gespielt (vgl. z.B. die Arbeiten von John Stuart Mill, nach dessen Ansicht nur der einzelne Fall ein verlässliches Datum ist). Rezente wissenschaftstheoretische Arbeiten sehen eine Verbindung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelfall in seiner paradigmatischen Übertragbarkeit (Forrester 2014). Bis heute ist das Verhältnis von Einzelfall und Allgemeinem nicht abschließend geklärt. Mögliche Repräsentationsformen sind z.B. Erinnerungen, Transkripte von Unterrichtssituationen und Videographien von Unterricht, in deren deutschdidaktischem Zusammenhang vor allem die Pionierarbeiten von Wolfgang Boettcher zu nennen sind.

Im Folgenden fahre ich einen kasuistischen Ansatz mit teilfiktiven Erzählungen. Diese Erzählungen plausibilisiere ich durch den systematischen Einbezug linguistischer Forschung zur Sprachtypologie, zum Spracherwerb, zur Migration und zum Sprachkontakt, indem ich von konstruierten Fällen ausgehe, die auf linguistischen Gegebenheiten beruhen. Dabei zeigt sich ein weiteres Mal die Bedeutsamkeit linguistischer Grundlagenforschung für die Sprachdidaktik Deutsch (vgl. Rothstein 2010 für eine ausführlichere Argumentation). Ich bewege mich damit ungefähr im Terrain, der von Steiner (2014: 6) als problem- oder entscheidungsorientiert und praxisreflektierend bezeichneten Kasuistik, hier allerdings auf die Ebene des Falls bezogen.

Im folgenden Abschnitt plausibilisiere ich zunächst rein kasuistische Bedingungen zur Einbindung von Herkunftssprachen in den landessprachlichen Deutschunterricht, um sie im Abschnitt vier zu systematisieren.

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