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Die Hilfen des deutschen Sozialstaats
ОглавлениеDie Politiker in Merkels Land sind die letzten, die ihrem Volk die Verleugnung seiner Armut abnehmen. Anlässlich einer weitverbreiteten nationalistischen Unzufriedenheit mit der Flüchtlingspolitik der Regierung fallen dem obersten Sozialdemokraten, der in seinem Ressort die Reichtumsproduktion im Land so betreut, wie es zum Wohle der Menschen im Land am besten ist, lauter missliche Lebensumstände ein, die sich allzu leicht so verstehen lassen, als vernachlässige die Regierung ihr Volk. Konkret fallen ihm Wohnungssuchende, Familien mit kleinen Kindern und Rentner als Beispiele für Bevölkerungsgruppen ein, deren Lage ohne zusätzliche Zuwendung unerträglich ist.
Die Kanzlerin hält den Eindruck irgendwelcher Volksteile, „dass ihre Bedürfnisse ... unter die Räder geraten“ (Gabriel), für eine vollkommene Fehlwahrnehmung und rät, ihr sozialdemokratischer Vize solle sich mal nicht so „klein machen“ und „sein Licht nicht so unter den Scheffel stellen“. Schließlich kümmere sich ihre gemeinsame Regierung seit Jahr und Tag um alles, was man von einem fürsorglichen Sozialstaat verlangen kann. In allen sozialen Notlagen, die dieses Land für seine Insassen bereithält, steht ihnen der Staat mit einer bedarfsgerechten Unterstützungsmaßnahme bei. Was soll es da für einen Grund zur Unzufriedenheit geben?!
– Der Tatsache zum Beispiel, dass mit dem Wachstum von Ballungsräumen irgendwie automatisch für normale Menschen dort eine Behausung zunehmend unerschwinglich wird, hat die Politik sich schon längst angenommen. Ihr Kunstgriff einer Mietpreisbremse kann ihr gar nicht genug gedankt werden, ist es doch für die Inhaber der legislativen und exekutiven Gewalt gar nicht so leicht, Leuten dort marktwirtschaftskonform ein Dach über dem Kopf zu ermöglichen. Dabei ist schließlich in Rechnung zu stellen, dass Wohnraum nur zur Verfügung gestellt wird von Eigentümern, die aus den Mieten eine lohnende Verwertung ihres in Immobilien investierten Kapitals herauswirtschaften. Die gesetzliche Fixierung der Möglichkeit zur Einführung einer Obergrenze des Anstiegsgrads der Mietpreise in gewissen Wohngebieten schafft da einen gerechten Interessensausgleich: Die einen müssen bei der Ausnutzung der Wohnungsnot für ihr Bereicherungsinteresse eventuell ein gesetzlich definiertes Maß einhalten, die anderen können von den in Deutschland üblichen Löhnen zwar immer noch zunehmend weniger Wohnraum bezahlen, ihre Überforderung wächst aber mancherorts in einem weniger hohen Grad. So werden „die Städte attraktiv für alle gehalten“: „ein deutliches Zeichen dafür, dass die Probleme der Mieterinnen und Mieter ernst genommen werden“ (SPD-Bewertung der Mietpreisbremse in der Bundestagsdebatte, BT-Drs 18/4220, S.5).
– Auch um die Probleme von Familien hat sich die Regierung ausgiebig gekümmert. Moderne Eltern gehen zur Aufbesserung des Einkommens – aus den patriarchalen Zuständen, in denen ein „Ernährer“ von seinem Lohn eine ganze Familie unterhalten zu müssen meinte, hat sich die Gesellschaft glücklich emanzipiert – gerne beide, Alleinerziehende sowieso, einer Beschäftigung nach, deren Erfordernisse in Sachen Flexibilität ihnen für die Aufzucht der Kinder kaum ausreichend Zeit lassen. Kinderliebe MinisterInnen kümmern sich daher nach Kräften um die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, haben mit einem Recht auf „Elternzeit“ – Kündigungsverbot und Weiterbeschäftigungsanspruch – die Arbeitgeber darauf verpflichtet, wenn sie schon beide Partner rund um die Uhr benutzen, sie wenigstens zur Aufzucht ihres Exemplars der „nachfolgenden Generation“ freizugeben, bis es in staatlichen Aufbewahrungsstätten abgegeben werden kann, worauf es sogar einen Rechtsanspruch gibt. Damit der Wegfall des Einkommens verkraftbar ist, übernimmt der Staat im ersten Teil dieser Zeit für dieses wichtige nationale Anliegen die Anschubfinanzierung. Letztes Jahr erst hat er die – außer für Hartz-IV-Empfänger – gar um stattliche vier Euro erhöht!
– Die Rentner werden auch nicht vernachlässigt, so arm sie auch sein und werden mögen. Den Geringverdienern, denen nach 40 Jahren im Dienst des Kapitals noch keine Rente oberhalb des Niveaus der Grundsicherung zusteht – die Leistungsgerechtigkeit gebietet, dass sich die Knausrigkeit ihrer Arbeitgeber bis ans Lebensende rächt –, soll demnächst die Schande erspart werden, beim Sozialamt Almosen beantragen zu müssen; ihre „Lebensleistungsrente“ ist zwar kaum höher, wird aber aus einem völlig anderen Topf bezahlt. So findet, nachdem mit einer „abschlagsfreien Rente“ für diejenigen, die mit 63 schon auf 45 Jahre ununterbrochene Schufterei zurückblicken können, und einer angemessenen Honorierung von Mutterpflichten schon alle „Gerechtigkeitslücken“ gestopft worden sind, auch die Gnade noch Einzug ins Rentensystem. Das ist die jüngste soziale Errungenschaft beim immerwährenden parlamentarischen Ringen um „Generationengerechtigkeit“, die ja stets auch die Ansprüche „der Jugend“ in Rechnung zu stellen hat, was grundsätzlich dadurch geschieht, dass alle lohnabhängigen Menschen länger arbeiten müssen, je entwickelter der „technische Fortschritt“ ist, weil es damit schließlich immer länger dauert, bis sie sterben.
– Viele Menschen, die allein nicht zurechtkommen, haben zu ihrem Glück oft einen Familienangehörigen, der sein Einkommen mit ihnen teilt, wozu er notfalls auch verpflichtet wird; auch ihre freie Zeit opfern viele Menschen gerne für die Betreuung eines hilfsbedürftigen Familienmitglieds auf, weil sie es ungerne verkommen lassen, was sonst der Fall wäre. Auch hier hilft der Staat großzügig aus: Er gestattet den Arbeitnehmern eine Ausnahme von dem ehernen Prinzip, dass sich ihre Notwendigkeiten selbstverständlich nach denen der Arbeitgeber zu richten haben, indem er diesen vorschreibt, ein fürsorgendes Familienmitglied auch ohne vorher eingereichten Urlaubsantrag freizustellen, damit es sich im akuten Pflege-Notfall und der anschließenden, „Pflege-Urlaub“ genannten Zehn-Tages-Frist darum kümmern kann, die Verwahranstalt auszusuchen, in die der liebste Angehörige am besten gesteckt werden sollte, oder ein entsprechendes häusliches Arrangement zu finden; es muss sogar bis zu 6 Monate kündigungsfreie „Pflegezeit“ eingeräumt bekommen oder eine maximal 24-monatige „Familienpflegezeit“ mit reduziertem Beschäftigungsumfang, und kann beim Staat für den Spaß ein zinsloses Darlehen beantragen, damit es deswegen nicht gleich in der Zeit selbst vor die Hunde geht. Dass z.B. demente Personen ganz ohne Pflege auskommen müssen, wenn kein Angehöriger daran sein Freizeitvergnügen findet, hält die Politik neuerdings auch nicht mehr aus und hat den „Pflegebedürftigkeitsbegriff“ überarbeitet; von 2017 an sorgen fünf detailgenau definierte Pflegegrade dafür, dass kein Siecher im Land weniger kriegt als ihm entspricht, aber auch keiner zu viel, damit die knappen Mittel für alle reichen. Weil den verantwortlichen Machern der Verhältnisse klar ist, wie groß die Last ist, die ein pflegebedürftiger Angehöriger seinen Liebsten bereitet, verabschieden sie nach einer emotional bewegenden Parlamentsdebatte ein Gesetzespaket, das strenge Auflagen definiert, unter denen Sterbewilligen beim Suizid geholfen werden darf, und das parallel dazu die Hospiz- und Palliativversorgung mit einem beherzten Griff in die staatliche Haushaltskasse aufwertet, denn selbst die, die ein Leben voller Entbehrungen hinter sich haben, sollen „die Gewissheit haben, am Lebensende gut betreut und versorgt zu werden“ (Bundesgesundheitsminister Gröhe), also wenn sie garantiert nichts mehr davon haben.
– Kranke Menschen haben hierzulande auch eindeutig Glück im Unglück. Erst kürzlich wurde ihnen eine Krankenhausreform spendiert, durch die die lebensbedrohlichen Konsequenzen der irgendwie unvermeidlichen Arbeitshetze des Personals begrenzt werden sollen – den Gesetzgebern sind als wirkungsvollste Gegenmaßnahmen Geldzuwendungen, Hygiene-Überwacher und ein bisschen mehr Druck durch einen sanktionsbewehrten Qualitätswettbewerb unter den Krankenhäusern eingefallen. Auch für den Abbau überflüssiger Versorgungskapazitäten soll die Reform sorgen. Zur Finanzierung tragen die zuständigen Kassen bei, die die zwangsverstaatlichten Lohnteile verwalten; wobei die Krankenversicherungen sich in bewährter Manier erforderlichenfalls auch am verbleibenden Nettolohn bedienen dürfen.
– In diesem reichen Land braucht es aber gar nicht erst einen besonderen Schicksalsschlag, um in den Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu geraten. Das nachhaltigste Denkmal für ihre soziale Ader hat sich die Regierung bekanntlich mit ihrem Beistand für all die vielen Menschen verschafft, die unter ihrer Regentschaft „von ihrer Arbeit nicht leben können“. Nach zähem Ringen der Politik mit den Arbeitgebern und vor allem mit sich selbst wurde jüngst ein gutes Jahrzehnt erfolgreicher Niedriglohnsektor mit einem Mindestlohn gekrönt, der endlich das Unding aufhebt, dass der Sozialstaat für den Lebensunterhalt von vollzeitarbeitenden Bevölkerungsteilen seine Kassen strapazieren muss. Er verlangt den Profiteuren seines Niedriglohnangebots glatt einen kostendeckenden Preis für dessen Bereitstellung ab und behält sich vor, dessen ordnungsgemäße Zahlung sogar gelegentlich zu kontrollieren.
– Das wahre Ausmaß der staatlichen Fürsorge lässt sich indes erst dann angemessen würdigen, wenn man sich die denkwürdige christsoziale Sentenz vergegenwärtigt, der zufolge sozial alles ist, was Arbeit schafft. Eine Regierung, die über eine Wirtschaft kommandiert, die so durchschlagend erfolgreich ist, dass sie zu welchen Konditionen auch immer so viel Volk wie nie für ihren Welterfolg in Beschlag nimmt, also ein „Jobwunder“ schafft, um das der niederkonkurrierte Rest der Welt „uns“ beneidet; die sogar Lohnsteigerungen zulässt, obwohl gar keine Inflation sie wieder auffrisst, und sich auch so weit an den Mindestlohn hält, dass die Gehälter im Schnitt um traumhafte drei Prozent anwachsen (sodass auch die Altersrenten von der Konjunkturentwicklung profitieren und steigen wie seit 20 Jahren nicht) – kann diese Regierung überhaupt unsozial sein?!
– Dass sie ihr Volk vernachlässigen würde, lässt sich dieser Regierung wahrlich nicht vorwerfen; sie hat jüngst sogar dafür gesorgt, dass die Bürger mehr Geld in der Tasche haben, weil sie ihnen dank einer großzügigen Anhebung des steuerfreien Existenzminimums um 298 Euro in den letzten zwei Jahren ein bisschen weniger davon aus der Tasche zieht – sodass jetzt auch alle wissen, womit sie die jüngste Erhöhung der Krankenkassenbeiträge bezahlen können. Der größte Dienst der Regierung am Steuerzahler – jener vornehmsten Eigenschaft des Bürgers: als Finanzier des Staats – ist aber bekanntlich, dass sie sich beim Ausgeben des Abkassierten strengste haushalterische Disziplin auferlegt hat und keinen „Begehrlichkeiten“ nachgibt, bloß weil der Staat derzeit mehr Geld abschöpft, als er braucht. Indem die Hüter der schwarzen Null darauf achten, dass nicht zu viel Geld für soziale Wohltaten verplempert wird, vollbringen sie die wichtigste soziale Wohltat überhaupt!
In sozialer Hinsicht steht also alles zum Besten: Die Bürger werden mit ihren mannigfaltigen Sorgen und Nöten nicht allein gelassen, der Wirtschaft geht es den Umständen entsprechend bestens, und der Staat schafft es, sich zu seiner vollsten Zufriedenheit mit den Mitteln auszustatten, die er für seine Anliegen braucht. Was will man mehr?! In diesem schönen Land gibt es keine offenen ‚sozialen Fragen‘.
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