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„Neue Arbeitswelten“
ОглавлениеWie es sich für die Einschwörung auf ein umfassendes Erneuerungsprogramm gehört, mahnen die zuständigen MinisterInnen, vor lauter Freude über die Möglichkeiten des digitalen Fortschritts die Wirkung auf die arbeitenden Menschen nicht zu vergessen – als wäre der Umgang mit diesem Kostenfaktor vergessen worden! –, und laden die sozial gesinnte Öffentlichkeit zum ergebnisoffenen, herrschaftsfreien Dialog über die rhetorische Frage ein: „Wie wollen wir arbeiten in der digitalen Welt?“ In diesem Diskurs werden die Verheißungen einer neuen Freiheit, die endlich „Zeitsouveränität“ für persönliche Lebensentwürfe wie Kinderaufzucht und Altenbetreuung und ähnliche „Potenziale für eine Humanisierung der Arbeitswelt“ verspreche – die klassische Festanstellung mit „Präsenzpflicht“ erscheint in diesem Vergleich einmal geradezu als Gängelung und Unfreiheit –, den damit einhergehenden Gefahren „ungesicherter Abhängigkeit durch digitale Selbständigkeit“, zunehmender örtlicher und zeitlicher „Entgrenzung von Arbeit und Privatleben“ usw. gegenübergestellt. Das gibt, beide „Seiten“ einmal so zusammengefügt wie sie zusammengehören, dann doch sehr deutlich Auskunft darüber, was nach bestem Wissen und Gewissen der politischen Macher „die Digitalisierung“ für die arbeitende Menschheit vorgesehen hat: Der Zugewinn an Selbstbestimmung für die Lohnabhängigen ist eben die Form einer effektivierten Ausbeutung. Das liegt nicht am Internet, sondern am kapitalistischen Zweck, der darin sein Mittel hat. Smarte Unternehmer haben ein Beschäftigungsmodell aus dem vorletzten Jahrhundert für sich wiederentdeckt, das vielen isolierten Dienstkräften die ihnen entbehrliche Zeit zum Verdienen eines Zubrots zu nutzen erlaubt, ohne dass ihnen ihr Arbeitgeber dafür eigens kostspielig Räumlichkeiten zur Verfügung stellen müsste. Die damalige Mühseligkeit, Arbeitsmaterialien von Dorf zu Dorf auszufahren und die Ergebnisse wieder einzusammeln, hat sich damit erledigt, dass das Internet die Welt zum ‚global village‘ gemacht hat, in dem jeder selbstverständlich permanent erreichbar ist, wo immer er sich befindet, und das mehr oder meist weniger komplizierte Arbeitsresultat, um das es geht, in Datenkabeln transportierbar ist. Das Smartphone erlaubt, nicht nur den eigenen Computer, sondern auch das eigene Auto oder den Wohnraum dazu zu nutzen, in den verfügbaren Poren der eigenen Lebenszeit die Dienstleistungen zu erledigen, mit denen Uber, Airbnb oder sonst ein Vermittler aus der „Plattform-Ökonomie“ sein Geschäft macht. Auch traditionelle Unternehmen haben die Möglichkeiten der digitalen Freiheit für sich entdeckt und nutzen die gesellschaftlichen Potenzen geteilter Arbeit, wo es geht, auch ohne dass die benutzte Mannschaft kollektiv am selben Ort präsent sein müsste. Mit der Erledigung von IT-Arbeiten im „Home Office“-Format sparen sich die Unternehmen nicht nur Bürogebäude, sondern erschließen sich das gesamte digitalisierte Weltproletariat als potenzielle freie „Mitarbeiter“, was ganz von selbst überkommene Lohnunter- und Leistungsobergrenzen relativiert. Als Arbeitszeitregelung begnügt man sich in der digitalen Welt zumeist mit einer eng gesetzten Deadline, mit der es in die Selbstverantwortung der Arbeitenden fällt, mit wie viel Arbeit zu welcher Tages- und Nachtzeit sie ihren Auftrag erledigen. Mancherorts geht die Freiheit der Auftragnehmer so weit, dass sie sogar den Preis für ihre Arbeit selbst festlegen dürfen, indem sie durch wechselseitiges Unterbieten ihren Tagelöhner-Arbeitsplatz auf einer Internetplattform ersteigern. Im Extremfall dürfen sich alle Bewerber in freier Konkurrenz an einem Arbeitsauftrag abarbeiten, und wer ihn zuerst zur vollständigen Zufriedenheit des Auftraggebers erledigt hat, gewinnt den Lohn dafür... So und anders halten sich moderne Geschäftemacher ihre Crowd von individualisierten Freelancern, die ihnen frei wie nie gegenüber-, nämlich immer zur Verfügung stehen, aber nur bezahlt werden, wenn sie für einen Auftrag aktiviert werden. Dann arbeiten sie am virtuellen Fließband ihr Element des Gesamtwerks ab, ohne voneinander auch nur zu wissen; eine kollektive Einheit bilden die vollkommen vereinzelten Teilarbeiter in keinerlei Hinsicht ‚an sich‘, sondern nur für ihren Arbeitgeber. Um die von allen Rücksichten befreite Verfügung über ihre weltweiten Human Resources auftragsspezifisch optimal ausnutzen zu können, nehmen moderne Unternehmen differenzierte Bewertungen der Arbeitsleistungen, Zuverlässigkeit, Schnelligkeit usw. ihrer digitalen Scheinselbständigen vor, machen ihre Buchführung für diese transparent als Mittel für deren Leistungssteigerung – als Lohn winkt die erneute Inanspruchnahme bei der nächsten Auftragsvergabe – und gegen Bezahlung auch für andere Unternehmer, die sich damit Umstände für die Auswahl einer preiswerten und geeigneten Mannschaft ersparen. Der Unternehmergeist versteht es eben, mit dem Zugewinn an Autonomie für die lohnabhängigen Anhängsel etwas Vorteilhaftes anzufangen: Für den Betrieb erweist sie sich als Produktivkraft.
Auf dieser Basis entwickeln große Unternehmen der „digitalen Wirtschaft“ für gewisse Bereiche das Interesse an der Haltung einer festen Kernbelegschaft. Die Funktionen der Koordination und Kontrolle, d.h. der Definition, Vergabe, Bewertung und des Zusammenführens der isolierten Unteraufträge, erfordern zum Teil gewisse Fertigkeiten, sind aber vor allem selbst die „Qualifikation“ für einen unbefristeten und überdurchschnittlich bezahlten Arbeitsplatz – und die Aussicht auf einen derart privilegierten Platz ist die wichtigste Lohnform für all die, die mit eng befristeten Zeitverträgen in dauerhafter Bewährungsprobe gehalten werden. Besonders in den Bereichen, wo die Innovationen projektiert werden (gerade in den Vorreiterkonzernen Google, Amazon, Intel usw.) und die Kenntnis um die Betriebsabläufe das Unternehmen nicht verlassen soll, bewährt sich die Beschäftigungsform der klassischen Belegschaft, um das Know-How in den besten Köpfen gleich mit einer Festanstellung „ans Unternehmen zu binden“, d.h. der Konkurrenz vorzuenthalten. Wo die Autonomie der digitalen Arbeiter nicht Mittel, sondern Hindernis ist, wird sie den Letzteren mit einem etwas zuverlässigeren, ggf. besser dotierten Einkommen so weit wie möglich abgekauft.
In einer Hinsicht, und zwar in der einzig wesentlichen, ist der pragmatische Unternehmergeist dem Zeitgeist also ein ganzes Stück voraus. Während die Öffentlichkeit mit ihrem sachfremden Schema ‚Pro und Contra alte und neue Arbeitswelten‘ den ganzen Witz an der Sache verpasst und statt deren ökonomischen Zweck mit Vorliebe thematisiert, inwiefern es modernen Dienstkräften gelingt, im Unterschied zum langsam aussterbenden Mainstream der Angepassten ein selbstbestimmtes Leben zu führen – für dieses falsche Selbstbild ist ja wirklich nicht mehr erfordert, als dass sie für selbstverständlich halten, woran sie sich anpassen und abarbeiten, ihr Selbst so definieren, dass ihre Weise des Gelderwerbs zum integralen Bestandteil ihrer Identität wird, und gnadenlos davon abstrahieren, was sie davon haben, wenn sie die „verwirklichen“ –, kombinieren die Unternehmer vorurteilslos das Beste der beiden angeblich so verschiedenen Welten. Längst fordern die Arbeitgeberverbände unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot auch für die analogen Arbeitsplätze die Befreiung von formell noch bestehenden Pflichten der Rücksichtnahme auf ihre Arbeitnehmerschaft, die in der digitalen Arbeitswelt längst „unrealistisch“ geworden sind: Arbeitszeitregulierung, gesetzliche und sittliche Vorschriften bei der Lohngestaltung usw. gehören ins vergangene Jahrtausend; sogar die konstruktive Mitbestimmung von Betriebsräten wird als „Verzögerungspotenzial“ bemerkt. So stellen sie abschließend klar, dass alle Freiheiten der „modernen“ Arbeitswelten voll und ganz der klassischen Logik der Rentabilitätssteigerung folgen und das Schlagwort „Digitalisierung“ nur dafür steht, dass die gesteigerten Anforderungen an die Arbeiter und ihre schlechtere Bezahlung als unwidersprechlicher subjektloser Sachzwang verstanden werden sollen.
Die Logik wird ja auch längst ganz ohne digitale Technik verwirklicht.