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Einleitung

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Vorerst die Fakten: Am 26. Juli 2007 hat der französische Staatspräsident in Dakar, der Hauptstadt des Senegal, an der Université Cheikh Anta Diop, eine Rede gehalten. Sie richtete sich an die Jugend Afrikas und hatte als Hauptthema die Zukunftsperspektiven des südlichen Nachbarkontinents im Zusammenhang mit dessen Beziehungen zu Europa. Die Worte des Nicolas Sarkozy wurden in der internationalen Presse kommentiert, keineswegs unkritisch, aber nicht mit jener Heftigkeit, welche die Reaktionen von zahlreichen Intellektuellen aus verschiedenen afrikanischen Ländern kennzeichnete. Es ist nicht übertrieben, von einem Aufschrei der Empörung zu sprechen. Den Anfang machten Artikel in der Presse. Besonders gewichtig aber fiel ein vom Pariser Verlag Éditions ­Philippe Rey herausgebrachter Sammelband mit 23 Essays aus, die mit Sarkozy und seinem Sonderbeauftragten Henri Guaino, der die Rede von Dakar konzipiert hatte, hart ins Gericht gingen. Von diesem Buch ist Anfang 2009 eine Taschenbuchausgabe ­erschienen.1

Der vorliegende Band enthält Übersetzungen ausgewählter Beiträge aus der erwähnten Sammlung, die sich in der französischen Fassung als »Antwort Afrikas auf Sarkozy« präsentiert, sowie die deutschsprachige Version einer der ersten Stellungnahmen zu der Sarkozy-Rede in der afrikanischen Presse.2 Die Herausgeber und die ÜbersetzerInnen kommen aus der Sprach- und Literaturwissenschaft und sind mehr oder weniger eng mit der Forschung und Lehre am Institut für Romanistik der Universität Wien verbunden. Die Klarstellung ihrer Motivation, sich mit einem hochpolitischen Projekt an die Öffentlichkeit der deutschsprachigen Länder zu wenden, ist sicherlich ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit – nicht zuletzt im Hinblick auf das Weiterlaufen der einschlägigen Kontroversen. Sowohl in Afrika als auch in Frankreich sind von 2007 bis zur Gegenwart viele Kommentare abgegeben worden. Die meisten, aber nicht alle, richteten sich gegen Sarkozy und seine Rede. Einige afrikanische Regierungschefs haben sich vorsichtig, in Einzelfällen sogar zustimmend geäußert. Das französische Original des Sammelbandes der »Antworten auf Sarkozy« wurde auf höheres Betreiben von der Nominierungsliste für einen Preis gestrichen, nach Protesten der Jury wieder eingesetzt.3 Henri Guaino, Ministerialbeamter und Sarkozys Ghostwriter, hat seine Positionen verteidigt und seine afrikanischen Kritiker persönlich angegriffen. Die angesehene Zeitung Le Monde stand insofern im Zentrum der Auseinandersetzungen, als sie sich weigerte, eine (ziemlich polemische) Replik des Herausgebers Makhily Gassama auf einen Artikel abzudrucken, in dem sich Philippe Bernard abschätzig über das Niveau der Beiträge zu L’Afrique répond à Sarkozy geäußert hatte (»Sammlung von Absurditäten und Halbwahrheiten«). Die Diskussion zeigte insofern Wirkung, als weitere Sarkozy-Reden, gehalten in Tunis, Constantine und Kapstadt, viel umsichtigere Formulierungen aufwiesen als der Text von Dakar, so dass bei oberflächlicher Betrachtung der Eindruck entstehen könnte, die letztgenannte Rede sei eine Art Unfall gewesen, auf die einige Afrikaner vielleicht übertriebene Reaktionen an den Tag legten. Wer sich auf diese Affäre einlässt, läuft somit Gefahr, in ein tagespolitisches Kreuzfeuer zu geraten und seinerseits von da oder dort attackiert zu werden. Was soll es bringen, sich einzumischen und Nicolas Sarkozy über die zahllosen Klischees, die er seinen afrikanischen Zuhörern zumutete, aus der Sicht einer zentraleuropäischen Universität belehren zu wollen, wenn diese Arbeit bereits von informierten Afrikanern sehr weitgehend geleistet wurde?4

Die Motivation des Teams, das sich im Sinne der Herausgabe und Übersetzung engagierte, ist komplex. Zweifellos machte der polemische Elan, der die Stellungnahmen einer so großen Zahl von afrikanischen Universitätslehrern, Schriftstellern und Kulturschaffenden inspirierte, Eindruck. Angesichts des Sarkozy-Textes, dessen Schwächen auch aus europäischer Sicht leicht erkennbar sind, fiel es den RomanistInnen aus Österreich nicht schwer, die Empörung der Afrikaner zu teilen. Bei distanzierterer Betrachtung wurde aber bald klar, dass spontane Anteilnahme und Solidarisierung als Basis des Projektes nicht als alleinige Maßstäbe bei der Auswahl der Texte dienen durften. Es galt vor allem, die Wiederholungen von Themen und Argumenten, die bei einer Sammlung von Stellungnahmen zu ein und demselben Objekt unvermeidlich sind, so weit wie möglich in Grenzen zu halten. Eine solche Strategie setzte voraus, dass nur solche Beiträge für die Übersetzung ausgewählt wurden, deren Informationswert – speziell im Hinblick auf die Interessen einer zentraleuropäischen Leserschaft – besonders hoch war und die einander durch komplementäre Schwerpunktsetzungen wechselseitig beleuchteten. Tatsächlich stellte sich bei sorgfältiger Durchsicht der »Antworten auf Sarkozy« heraus, dass die Mehrzahl der AutorInnen bemüht war, zwischen emotionaler Betroffenheit und sachlicher Konfrontation einen Ausgleich zu finden. Nach Diskussionen entschieden sich die Herausgeber des vorliegenden Bandes für die Bevorzugung jener Texte, die auf den hochtrabenden Ethnozentrismus der Sarkozy-Rede mit besonders durchdachter und fundierter Kritik reagieren.

Angesichts der stilistischen Besonderheiten der Rede von Dakar muss schon das Bemühen um Sachlichkeit in den afrikanischen Beiträgen als Verdienst anerkannt werden. Denn es war zunächst der archaische Duktus, der bei den Rezipienten der Rede des Präsidenten Erstaunen und Betroffenheit weckte. Sarkozy kam mit bestimmten politischen Absichten nach Dakar, in einer bestimmten europolitischen Konstellation, in der dem Projekt einer Union méditerranéenne ein gewisser Aktualitätswert zukam. Darüber hinaus lag es im Interesse des französischen Präsidenten, bei seinen Zuhörern Verständnis für diverse Zuspitzungen der französischen Afrikapolitik im Zusammenhang mit den Krisen in Ruanda, im Kongo und im Tschad zu suchen. Der Redner hätte also jedes Interesse gehabt, auf seine ZuhörerInnen einzugehen und ihre nicht zuletzt auf der Kolonialgeschichte beruhenden Sensibilitäten zu berücksichtigen. Tatsächlich aber steht die ganze Rede im Zeichen eines Diskurses, der den Sprecher als Künder eines Zivilisa­tionsprojektes ohne glaubhafte Distanzierung vom kolonialen Erbe präsentiert – und zwar mit einem Einsatz von rhetorischen Orgeltönen, der direkt auf das 19. Jahrhundert und die französische Landnahme in Afrika verweist. 1879 hatte Victor Hugo anlässlich eines Banketts, das an die Abschaffung der Sklaverei erinnern sollte, in Anwesenheit von Victor Schœlcher5 die Kolonisierung Afrikas als Wohltat seitens der europäischen Großmächte gepriesen:

Lasst eure überschüssige Kraft in dieses Afrika strömen und löst so mit einem Schlag eure Sozialprobleme, indem ihr aus euren Proletariern Besitzende macht. Geht hin, seid aktiv! Baut Straßen, baut Häfen, baut Städte, lasst wachsen, bringt hervor, kolonisiert, vermehret euch, damit auf diesen Ländereien, die mehr und mehr von Priestern und Fürsten befreit werden, der Geist Gottes durch den Frieden herrsche und der Geist der Menschen durch die Freiheit.6

Genau dieses Pathos der zivilisatorischen Mission Europas und Frankreichs findet sich bei Nicolas Sarkozy wieder, wenn er die Jugend Afrikas allein für die Erlösung des Kontinents als zuständig erklärt und zugleich betont, dass es ohne französische Unterstützung nicht gehen werde:

Ihr jungen Afrikaner, die Renaissance, die Afrika braucht, könnt nur ihr verwirklichen, denn nur ihr werdet dazu die Kraft haben. Diese Renaissance bin ich gekommen euch vorzuschlagen. Ich bin gekommen, sie euch vorzuschlagen, damit wir sie gemeinsam verwirklichen, denn von Afrikas Renaissance hängen zu einem entscheidenden Teil die Renaissance Europas und die Renaissance der Welt ab.

Hugo ist ein markantes Beispiel für ein zivilisatorisches Sendungsbewusstsein, dessen Entwicklung bis auf das Jahrhundert der französischen Klassik zurückgeht, bei zahlreichen Schriftstellern vom 17. bis zum 20. Jahrhundert nachgewiesen werden kann7 und sich auch immer wieder im Diskurs der Politiker wiederfindet. Eine der Schnittstellen findet sich bei dem Geografen Onésime Reclus, der schon vor hundert Jahren den Terminus der Frankophonie ­kreierte, um damit die Idee der kulturellen und zugleich kolonisatorischen Expansion Frankreichs voranzutreiben. Lâchons l’Asie, prenons l’Afrique: Où renaître? et comment durer?8, so der Titel eines von Reclus’ Büchern, erschienen 1904. Genau dieser heroische Elan der Zivilisationsbringer beflügelt die Rede Sarkozys, die zugleich vorgibt, sich für den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft Afrikas und Europas einzusetzen. Die Partnerschaft aber bleibt Lippenbekenntnis, wenn ständig der »alte« Diskurs dazwischenfunkt und den Südkontinent als hinterwäldlerische Spielwiese für eine von Frankreich und Europa organisierte Modernisierung präsentiert. Die traditionelle Rhetorik des Monopols der Universalität, wie sie sich über weite Strecken in der Kulturgeschichte Frankreichs manifestiert, tritt in Sarkozys Rede mit einer Direktheit zutage, wie man sie in Zeiten zumindest verbaler Political Correctness sonst kaum noch findet. Alte Argumente mit alten Stilmitteln aufgeputzt – der Leser fühlt sich in Formationsperio­den des zentralistischen Herrschaftsdiskurses, die er meinte nur noch als historische betrachten zu dürfen, zurückversetzt. Dabei sind die Leerstellen, das Ungesagte (etwa die aktuelle Rolle Frankreichs und der Europäischen Union in Afrika betreffend) mindestens ebenso bedeutungsvoll wie das von Sarkozy Geäußerte. Dass eine solche Rede beansprucht, die Weichen für die Zukunft zweier Kontinente von heute zu stellen, kann schockierend wirken. Die Verzerrungen, Widersprüche und Zumutungen, an denen diese Rede so reich ist, mussten aufs Korn genommen und in präziser Analyse bloßgestellt werden, wäre doch schweigendes Übergehen in diesem Fall nur allzu leicht als Hinnahme und Akzeptanz deutbar gewesen.

Daher ist es nicht weiter erstaunlich, wenn alle in diesem Band vereinten Beiträge zunächst in mehr oder weniger ausführlichen Analysen auf die Rede von Dakar eingehen. Bemerkenswert und motivierend erschien dem Wiener Team hingegen der Umstand, dass die Texte durchwegs weit über die kritische Beleuchtung von Sarkozys Darbietung hinausgehen und Perspektiven eröffnen, welche die Gesamtheit der einstigen und aktuellen Probleme zwischen Afrika und Europa bzw. dem »Westen« erfassen. Im Vorwort zu den »Antworten« stellt der Herausgeber Makhily Gassama9 – auf den Vorwurf des »ewigen Nachbetens« der Vergangenheit eingehend – fest:

Es ist wichtig, die Vergangenheit »nachzubeten«, da wir den Anspruch erheben, unser Schicksal zu meistern, die Gegenwart zu lenken und die Zukunft zu bauen, sind doch die Vorboten einer Rekolonisierung Afrikas in unseren heutigen Beziehungen zu Europa manifest. Das immer schnellere Voranschreiten der Welt macht diesen Einsatz erforderlich. Unsere Lage zwingt uns dazu, sind wir doch rückständige Gesellschaften, traumatisiert durch das Verhalten unserer Regierenden und das Scheitern der von ihnen während bald fünf Jahrzehnten praktizierten Politik. Auch die Hellsicht und Ungeduld der jungen Generation lassen uns keine Wahl, ebenso wie die Gefahren, welche die Globalisierung für unsere brüchigen Volkswirtschaften bereithält.10

Mit einem solchen Auftakt ist das Signal des Übergangs vom Besonderen zum Allgemeinen, das sich in allen Beiträgen wiederfindet, bereits in aller Deutlichkeit gegeben. Ein erster Rundumschlag gegen europäische Vorurteile erfolgt in dem Aufsatz von Achille Mbembe, wo sogar ein Michel Leiris oder ein Pablo Picasso zu Objekten der Kritik werden. Bei Zohra Bouchentouf-Siagh öffnet sich die Diskursanalyse der Sarkozy-Rede zum Nachweis ­einer Geschichtsfälschung, die durch Ignoranz und Konformismus allein nicht zu erklären ist, sondern aus demagogischen, in der Geschichte mit tragischen Folgen erprobten Ideologien hervorzugehen scheint. Klarstellungen, wie sie z. B. Herbert Marcuse in diesem Zusammenhang vorgenommen hat, haben offenbar bei manchen Politikern der Gegenwart wenig gefruchtet. Festgestellt wird auch ein fahrlässiger Umgang des Redners mit Quellen, etwa den Werken von Albert Memmi und Léopold Sédar Senghor.

Mwatha Musanji Ngalasso konzentriert sich ebenfalls zunächst auf die Rede, die er besonders gründlich aus der Sicht des Linguisten untersucht, um alsbald das Problem der langue de bois aufzuwerfen und der »hölzernen« Sprache der Diktaturen in den exkommunistischen Ländern11 die »Kautschuksprache« Sarkozys gegenüberzustellen. Von hier aus kann der Autor ein europäisches Afrikabild als rein ideologische Konstruktion im Dienste neokolonialistischer Tendenzen in der Gegenwart offenlegen.

Im Zusammenhang mit dem genannten Afrikabild schlägt Odile Tobner eine argumentative Brücke von Sarkozys Rede zu diversen Äußerungen der anderen Präsidenten der Fünften Republik: de Gaulle, Pompidou, Giscard d’Estaing, Mitterrand und Chirac. Demba Moussa Dembélé eröffnet geradezu planetarische Per­spektiven, wenn er die politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Beziehungen zwischen den Ländern südlich der Sahara, der Europäischen Union und dem Gesamtbereich der industrialisierten Länder beleuchtet. Aus der Sicht des Politikwissenschaftlers zieht Mahamadou Siribié eine Bilanz hinsichtlich der Position Afrikas im Rahmen der Globalisierung und des Afrika gegenüber nicht immer fairen Spiels der internationalen Organisationen.

Umfassenden Zusammenhängen kulturpolitischer Art gilt der Beitrag von Lye Yoka über die Frankophonie, in der Sicht des offiziellen Frankreich ein interkontinentales Projekt, das auf geschwisterliche Zusammenarbeit im Geiste des französischen Zivilisationsideals wie auch auf die Abwehr anglo-amerikanischer Kulturimperialismen abzielt, für nicht wenige Afrikaner aber ein Hemmnis für autonome Entfaltung und geradezu ein Fluch.12

Mit den Beiträgen von Sall und Obenga treten kulturanthropologische Themen in den Vordergrund. Sall skizziert die Pro­blematik des französischen Konzepts der Universalität, wobei auch ein Blick auf die unitaristische Überlagerung innerfranzösischer Vielfalt durch die Zentralisierung geworfen wird. Obenga liefert eine sehr breit angelegte (von den Herausgebern dieses Bandes leicht gekürzte) Darstellung der Diskussion rund um die Thesen von Cheikh Anta Diop, legt aber das Hauptgewicht auf die ethnozentrischen Voraussetzungen, welche tief in der Kulturgeschichte Europas wurzeln und heute für eine entspannte Auseinandersetzung mit dem Gedankengut des bedeutenden Gelehrten, dessen Namen die Universität Dakar trägt und der in Sarkozys Rede nicht vorkommt, ein Hindernis darstellen.

Die letzten beiden Beiträge thematisieren die psychologische Konditionierung der AfrikanerInnen in Vergangenheit und Gegenwart durch explizite wie auch implizite Schuldzuweisungen, die »der Westen« einst und jetzt (in der Rede Sarkozys) an die Kolonisierten richtet. Djibril Tamsir Niane erklärt, warum sich Afrika aus europäischer Sicht an seinem eigenen Unglück schuldig fühlen soll, und Kettly Mars bestätigt diese Diagnose durch die Darstellung der traumatisierenden Wirkung von Sklavenwirtschaft und Kolonialismus. Letzten Endes lässt sich sogar ein Verdienst Sarkozys ausmachen: jenes, das in der emanzipatorischen Mobilisierung der von dem französischen Präsidenten belehrten und beleidigten Jugend Afrikas besteht.

Über den »Kontinent der Kolonisatoren« und seine »Geburt aus dem Geist der Gewalt« haben Europäer immer wieder nachgedacht.13 Aber mehrere Beiträge zu den »Antworten auf Sarkozy« scheinen die von solcher Selbstkritik gesteckten Grenzen zu überschreiten, indem sie den großen Hegel oder den großen Voltaire nicht als Menschheitsphilosophen sehen, sondern ihre Gebundenheit an Eurozentrik und sogar Rassismus betonen, und dies noch dazu auf Distanz, mitunter ohne Bemühung um respektvoll-­exaktes Zitieren und sorgfältiges Eingehen auf alle »wirklich wichtigen« Gedanken der Genies. Derlei kann wie eine kalte Dusche auf das Gemüt von romanistischen KulturwissenschaftlerInnen wirken, auch wenn sie sich selbst als weltoffen empfinden. Unser­einer ist es gewohnt, historische Relativierungen vorzunehmen und das Positive zu sehen, etwa wenn ein Leo Frobenius die Afrikaner vom Makel der Primitivität befreien will oder ein ­Senghor die gefühlsstarke Poesie afrikanischer Kultur als Komplement ­europäischer Rationalität feiert. Aber die Bereitschaft zu Verständnis und Nachsicht gerät an ihre Grenzen, wenn sich die virulentesten Kolonialmythen als so lebenskräftig erweisen, dass die Rede eines französischen Staatspräsidenten Anfang des 21. Jahrhunderts bis zum Rand von ihnen erfüllt ist. Das Buch ist wichtig, weil aus ihm Undankbarkeit spricht, die jegliche Zöglingsrolle ablehnt.

Vielleicht erwarten europäische LeserInnen immer noch, dass AfrikanerInnen entweder brav sind oder impulsiv-unüberlegt protestieren. Die LiteraturwissenschaftlerInnen haben immerhin den Vorteil, die Entfaltung der argumentativen Kraft der afrikanischen Literaturen und die geistige Autonomisierung des Kontinents aus der Nähe beobachten zu dürfen. Bei allen strittigen Detailfragen, die sich aus den Forschungen des Cheikh Anta Diop über das alte Ägypten und seine transsaharische Dimension ergeben mögen – das Bild des afrikanischen Beitrags zur Menschheitskultur hat sich durch diesen Ansatz zweifellos verändert. Es gibt afrikanische Philosophie, Soziologie, Kulturwissenschaft und Umweltforschung, und sie sind nicht einfach Ableger der europäischen Modelle. Das ist eine der wichtigsten Botschaften des vorliegenden Buches. Ist es übertrieben, epochenbedingte Irrwege des europäischen Denkens so massiv herauszustellen? Mittlerweile gibt es auch in Frankreich viele WissenschaftlerInnen, die postkoloniale Studien ohne Eurozentrik betreiben. Allerdings ist auch festzuhalten, dass noch im 20. Jahrhundert französische Intellektuelle Europa mit äußerst emotional vorgetragenen Argumenten gegen seine postkolonia­len Kritiker in Schutz nehmen, wobei der polemische Impetus gegen die einheimischen »Linken« gerichtet ist, aber zugleich alle »undankbaren« Ex-Kolonisierten mit trifft. In einem in den 1980er Jahren publizierten Essay sah der französische Philosoph Pascal Bruckner die Sünden Europas, machte aber gerade diese Sünden zur Grundlage eines zivilisatorischen Höhenfluges, demzufolge der Kontinent der Kolonisatoren das Universalmodell schlechthin darstellt, dem alle Drittweltländer nacheifern, sofern sie nicht in purer Barbarei versinken.

Die Stärke Europas liegt in einem Paradox von extremer Ausprägung: Europa hat alles erfunden, die Unterdrückung ebenso wie die Demokratie, die Barbarei ebenso wie die Heiligkeit. Der Zusammenbruch des Feudalstaates hat den Staat auf rationaler Grundlage hervorgebracht, die monarchische Willkür hat die Demokratie gezeugt, aus dem mittelalterlichen Absolutismus erwuchs der Relativismus der Welt der Renaissance, aus der Zwangsherrschaft der Kirche die Gewissensfreiheit, aus den nationalen Gegensätzen der Gedanke einer internationalen Gemeinschaft. Gleich einem Kerkermeister, der einen ins Gefängnis wirft und einem gleichzeitig den Zellenschlüssel zusteckt, brachte der Westen zugleich den Despotismus und die Freiheit in die Welt.14

Nicht anders argumentieren Sarkozy und Guaino. Und zwar nicht mit den Mitteln einer diffusen Eurozentrik, wie sie dem gelernten Europäer immer wieder in seinem Medienalltag begegnet, sondern als geballte Ladung. Die extreme Konzentration und direkte Zurschaustellung alter Stereotypen rund um das »Wesen« Afrikas sind es, welche dieser Rede den Charakter eines Schlages ins Gesicht verleihen, und dies in einer Zeit, in der diplomatische Vorsicht, Verhandlungsbereitschaft und das Bemühen um Respektierung des Gegenübers zu jenen Tugenden gehören, durch die sich die Länder des Westens – zumindest ihrem Selbstverständnis nach – in internationalen Kontakten und Konflikten auszeichnen. Aus diesem Rahmen fällt Sarkozy mit seiner groben, archaischen Ideologien nachhängenden Rede und löst damit Reaktionen aus, in denen viel Aufgestautes in Bewegung kommt, nicht in Form ­eines Wildbaches, der über alle Grenzen hinwegschießt, sondern als strukturierte Entfaltung von Argumenten, allerdings ohne Rücksicht und Vorsicht bei der Auswahl derselben. Im Unterschied zu den Staatschefs Afrikas, die beim Umgang mit Sarkozys Rede jedes Wort auf die Goldwaage legten, gibt es für die Intellektuellen nicht staatspolitische, wohl aber spezielle Risiken, die je nach der Situa­tion und Position des Betroffenen hoch sein können. Trotzdem hatten in den vorliegenden Texten die Gebote der Selbstachtung offensichtlich Vorrang.

Eine weitere Konstante in diesen Texten stellt der Aufruf zu panafrikanischer Solidarität dar. Im Lichte dieser vielfältigen und fundierten Diskussionsbeiträge namhafter afrikanischer WissenschaftlerInnen und Kulturschaffender kann die Rede von Dakar nicht im Sinne Sarkozys als heilsame Provokation an die Adresse eines Afrika im Dornröschenschlaf, das durch hartes Argumentieren geweckt werden soll, rezipiert werden, wohl aber als Anstoß zu intensiverer Bewusstseinsbildung und Solidarisierung der Afrikaner angesichts einer französisch-westlichen Herausforderung. Dabei wird deutlich, dass diese Solidarisierung keineswegs dazu führen soll, dass die Vergangenheit unter den Teppich gekehrt wird. Sie soll, ganz im Gegenteil, dazu animieren, die Vergewärtigung aller Aspekte der europäisch-afrikanischen Geschichte als Prophylaxe oder sogar als Heilmittel einzusetzen. Es ist sicher wichtig, die heute vorherrschende Praxis der Entwicklungshilfe in Frage zu stellen, wie dies in neueren Publikationen aus europäischer Sicht geschieht.15 Aber ebenso bedeutsam ist wohl eine Aufarbeitung der Geschichte, welche die afrikanischen Zugänge und Betrachtungsweisen konsequent und ohne Herablassung respektiert. Welchen Beitrag westliche Spitzenpolitiker mit ihren Interventionen zu einer Entwicklung zum Besseren leisten könnten, lässt sich angesichts der von Barack Obama am 11. Juli 2009 in der ghanesischen Hauptstadt Accra gehaltenen Rede ermessen. Der rhetorische Kontrast zwischen den beiden Präsidenten könnte größer kaum sein. Doch das Wohlwollen, das dem US-amerikanischen entgegengebracht wurde, und die Kritik, die dem französischen entgegenschlug, versinnbildlichen wohl auch den machtpolitischen und kulturellen Bedeutungsverlust, den Frankreich in der jüngsten Vergangenheit auf dem afrikanischen Kontinent hinnehmen musste – auch (aber nicht nur) zugunsten der USA.

Für nicht wenige EuropäerInnen mag sich aus den im vorliegenden Band versammelten Texten ein ungewohntes Bild der eigenen Kultur, der eigenen Geschichte und, wenn man so will, der eigenen Identität ergeben. Natürlich sind die alten Ausflüchte jederzeit zur Beschwichtigung des gewissen Unbehagens einsetzbar – Hegel oder Voltaire können mitsamt den rassistischen Passagen in ihren Werken durch Verortung im historischen Kontext auf Distanz gehalten werden. Aber wenn eine Infrages­tellung der scheinbaren Normalität und Selbstgewissheit Europas so intensiv und radikal ausfällt wie in diesen Antworten auf Sarkozy und auf so vieles, das er repräsentieren will, ist Nachdenklichkeit und ein Blick mit anderen Augen auf das Eigene ein Gebot der Stunde. Als eine Antwort auf diesen Anspruch ist dieses Buch entstanden.

Herzlich gedankt für materielle Unterstützung beim Zustandekommen des vorliegendes Buches sei dem Dekanat der Philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, dem Institut für Romanistik und der Magistratsabteilung Kultur der Stadt Wien sowie für redaktionelle Unterstützung Herrn Dr. Gerald Hödl vom Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien.

Fritz Peter Kirsch

Der undankbare Kontinent?

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