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Visionen zur Neujustierung des Herkules in Stadt und Landschaft

Folckert Lüken-Isberner

In den 20er- bis 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts geriet das Städtebau- und Landschaftsensemble Wilhelmshöher Allee und Oktogon mit Herkules-Statue im Bergpark ins Visier mancher Utopisten innerhalb der Profession der Stadtplanung. Sie trachteten aus den verschiedensten Beweggründen nach Veränderung und Neubewertung der räumlichen Kontexte der landgräflichen Hinterlassenschaft.

I.

Nach dem Ersten Weltkrieg waren europaweit selbst ernannte Groß-Planer aufgetreten, die mit der Inangriffnahme großräumiger pazifistisch motivierter Projekte zu einer nachhaltigen Völkerverständigung und Friedenssicherung beitragen wollten. Zum Raum Kassel agierte der heute weitgehend vergessene Fritz Stück mit seinen Ideen zu einem „Groß-Kassel der Zukunft“.

Herkules im neuen Blick

Für den hiesigen Raum schlug Stück z. B. vor, eine groß angelegte „Waldrandstrasse“ anzulegen, die als breites Panoramaband das Fuldabecken umkreisen sollte. Diese Straße bringe „die Grünflächen des Tales (…) mit dem Kranz der Wälder in organische Verbindung“ und sie betone und sichere „auch die Kammlinien, Blickfelder und -achsen“.1 Kassels städtebauliche Barockachse war für ihn nur ein Torso, weshalb die von ihm „Talbeckenachse“ genannte Wilhelmshöher Allee nach Osten verlängert werden sollte bis zur Höhe oberhalb von Heiligenrode. Dieser neue Achsabschnitt namens „Landgraf-Karl-Schneise“ sei „mindestens blickfeldmäßig (…) zu sichern“.2 Mit dem auch „Lichtweg“ genannten Einschnitt in das Gelände erhielte das Fuldabecken eine imposante, auf den Herkules orientierte neue Landmarke.3

Auch jenseits des Herkules auf westlicher Seite sollte eine neue Achse, die gradlinig bis zum Hohen Gras-Turm durchlaufen sollte, angelegt werden.4 Als „Kaskadenschneise“ betitelt würde sie auf dem Essigberg an einem „Mal“ enden. In dieser rückwärtigen „Erweiterung“ des Bergparks sah Stück scheinbar überhaupt erst dessen Vollendung, mit der er den Entwürfen Giovanni Francesco Guernieros auf Augenhöhe zu begegnen trachtete.

Ein Zeitgenosse bewertete diese Planungsidee sehr hoch, brachte dabei aber einen anderen Blickwinkel ins Spiel: „Kassel erstrebt den Ruf einer Fremdenstadt großen Stils. Dafür würde der auf das Gebiet der Waldrandstraße beschränkte Stück’sche Plan schon vollständig ausreichen. Ihn sollte man daher zunächst und ernstlich auf seine Durchführbarkeit prüfen und in Verbindung damit auch seine (…) Erweiterung des Wilhelmshöher Parkes durch Verlängerung der großen Parkachse über den Herkules hinaus westlich bis zum Essigberge hin“.5

Herkules an der Autobahn

War es mit den Stück’schen Plänen bei rein planerischen Höhenflügen geblieben, so ging es bei den Großplanungen für die erste mitteleuropäische Fernstraße auf der Trasse von Lübeck–Hamburg über Frankfurt/M. bis Basel (der sog. HaFraBa) in den 20er-Jahren um die konkrete Realisierung im Raum Kassel. Nach Ablehnung einer östlichen Trassenführung über Bettenhausen „als technisch und wirtschaftlich unbrauchbar“6, wurde eine Westumfahrung priorisiert. Die hätte jedoch eines Viadukts über die Wilhelmshöher Allee bedurft, wogegen es starke ästhetische Einwände gab. Auch der Vorschlag, die Allee im Kreuzungsbereich mit der Fernstraße tiefer zu legen, fand keine Akzeptanz. Selbst das Argument, wonach somit doch „die Autofahrer möglichst nahe an das Wilhelmshöher Schloss herangeführt werden“ könnten, „um ihnen das Schloss vor Augen zu führen und so den Fremdenverkehr zu steigern“7, verfing letztlich nicht, obwohl diese Variante von der HaFraBa schon öffentlich gemacht worden war. So war eine künftige Autobahnabfahrt Kassel-West mit direktem drive-in-Anschluss in das heutige Weltkulturerbe doch noch verhindert worden.


1 Hans C. Reissinger, Die neue Irminsul im Oktogon, Bayreuth 1933 und 1942

II.

Neue Begehrlichkeiten zur Vereinnahmung der Bergparkanlage zeigten die Machthaber des nationalsozialistischen Staates, die sich in der neuen Hauptstadt ihres Gaues Kurhessen mit Zäsuren im Stadt- und Landschaftsraum zu verewigen trachteten.

Herkules im Bühnenbild

Die amtlichen NS-Planer gaben sich, im Unterschied zu Fritz Stück, mit der gegebenen Länge der Barock-Allee zwar zufrieden, wollten aber mit ihren Planungen aus den frühen 40er-Jahren die Blickbeziehung zum Herkules durch eine durchgängige Aufweitung der Achse neu gewichten. Im westlichen Teil sollte die Allee mit 80 m Breite so gewaltig werden, dass der Ortsteil Wahlershausen quasi verschwunden wäre. Die Allee wäre als „NS-Erlebnisachse“ für Fußvolk und Aufmärsche präpariert worden, für die Herkules und Co. lediglich als niedlicher Kulissen-Hintergrund fungiert hätten. Eine Zeichnung, die sich der Mittel der Bühnenbild-Architektur bedient (Weglassung, Hinzufügung, Belichtung), belegt dies eindrucksvoll.8


2 Hans C. Reissinger, Der neue Herkules am Wilhelmshöher Tor, Bayreuth 1944

Herkules versetzt

Schon gleich nach der Machtübernahme erhielt der Bayreuther Architekt Hans Reissinger vom Gauleiter den Auftrag für ein Reichsehrenmal im Habichtswald, das ursprünglich in Bad Berka in Thüringen entstehen sollte. Der Entwurf sah vor, den Herkules als Landmarke eines längst vergangenen Kleinstaates schlicht auszuwechseln durch ein Bauwerk, das mit ganz anderen Dimensionen einem neuen Großdeutschen Reich dienlich gemacht würde. Mit einer sog. „Neuen Irminsul im Oktogon“ wäre eine 100 m hohe Stele in das offene Sockelbauwerk hineingesetzt worden (Abb. 1). Wäre die Irminsul zeitnah tatsächlich so realisiert worden, wäre möglicherweise schon zum „Großdeutschen Reichskriegertag“ 1939 eine propagandistisch aufwendige Weihung erfolgt.

Zum Verbleib der abgetragenen Pyramide samt Herkules legte der Architekt in einer späteren Planung 1944 Rechenschaft ab, als er sich erneut mit Kassel befasste. Für seinen neuen Auftraggeber Rüstungsminister Speer, der angesichts der zerstörten Stadt „Wieder“-Aufbaukonzepte gefordert hatte, erfand Reissinger die Achse der Wilhelmshöher Allee neu, die in zwei Stränge aufgespalten durch eine neue Parklandschaft („Wilhelmshöher Alleenpark“) direkt auf ein vor den Torbauten am Grimm-Platz befindliches Rondell zuläuft. Auf dem Rondell steht ein unterfahrbares (Wilhelmhöher) Tor, auf dem der Herkules samt Pyramide seine neue Heimat findet. Unser Heroe blickt nunmehr vom Endpunkt des neu geschaffenen Parks nach rückwärts auf seinen alten Standort auf dem Karlsberg, von wo ihn die neue Stele mit dem Adler grüßt (Abb. 2). Ob der Herkules nunmehr vom Stadtplaner hier nur abgestellt oder aber von der NSDAP schon mit neuer Sinnunterlegung geparkt war, wissen wir nicht.

Herkules ignoriert und relativiert

Die zerstörte Stadt gab den Hintergrund ab nicht etwa für eine neue Bescheidenheit bei den Stadtplanern, sondern für Jetzt-erst-recht-Pläne, die sich nicht im Geringsten um die tradierten Vorgaben im Stadtraum kümmerten.

So lieferte ein von Speer beauftragter Planer noch 1946 (!) einen Entwurf, der die Kasseler Innenstadt völlig neu erfand mit der Ausrichtung des Stadtkörpers nach einer Magistrale, die vom Friedrichsplatz bis zum Fuße des Rothenbergs verlief. Dieser Einschnitt war so gewaltig dimensioniert, dass die Wilhelmshöher Allee nur mehr als eine Straße unter vielen rangierte.9 Einem Herkules, auf den sich der Stadtplan über lange Jahrzehnte ausgerichtet hatte, war so keine Bedeutung im Stadtbild mehr zugebilligt.

Schließlich waren es die Städtebauer im Rathaus, die in ihrem Plan „Stadtkern neuer Gattung“ 1944 der Wilhelmshöher Allee durchgehend 80 m Breite verpassten,10 was das Doppelte der seit über 100 Jahren gewollten, in den Fluchtlinienplänen seitdem festgelegten Breite von ca. 40 m entsprochen hätte. Am westlichen Ende dieser Schneise hätte ein Herkules aber wohl nicht mehr die Figur abgegeben, die sie einmal als dramaturgischer Endpunkt eines perspektivischen Blicks im wohl proportionierten Straßenraum bedeutet hatte. Die sich dem heutigen Blick in den Bergpark bietende, wohl angemessene räumliche Ausprägung der Allee mit dem 40 m-Profil ist bekanntermaßen nur den Kriegszerstörungen und ergänzenden Abrissen aus den 1950er- bis 1970er-Jahren geschuldet.

• • •

1 Fritz STÜCK, Kassels städtebauliche Zukunft, in: Städtebau 25 (1930), S. 480, zit. in: Folckert LÜKEN-ISBERNER, Fritz Stück und die Stadtplanungsdiskussion in der Weimarer Republik, Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte Bd. 40, Marburg 1990, S. 226.

2 Ebd, S. 228.

3 Plan: Fritz STÜCK, Das Groß-Kassel der Zukunft, Die Waldrandstraße – Die Grünflächen, 1.7.1927, Hessisches Staatsarchiv Marburg, M 49 P II, 62–6.

4 Kasseler Post vom 22.5.1927. – Plan: Fritz STÜCK, Das Groß-Kassel der Zukunft 9, Der Habichtswald, 1.6.1927, Hessisches Staatsarchiv Marburg, M 49 P II, 62-9.

5 Regierungsrat HEMPEL, Ein Großstadtprojekt Kassel-Wilhelmshöhe, in: Die Gartenkunst, 12 (1927), S. 189–195, hier 189ff.

6 Kassel als Station der Autofernstrasse, aus der Denkschrift eines Vorstandsmitgliedes der Gesellschaft HaFraBa, Kasseler Post vom 1.9.1927, zit. in: Folckert LÜKEN-ISBERNER, Fritz Stück, S. 239.

7 Kasseler Tageblatt vom 31.8.1927, in: Hafraba in Kassel, Regiowiki (1.4.2014).

8 Plan: Emil POHLE (Stadtplanungsamt Kassel), ohne Titel (Perspektive Wilhelmshöher Allee), 1942, Stadtarchiv Kassel, A.61.2,19.

9 Plan: Friedrich HETZELT, ohne Titel (Generalbebauungsplan Wiederaufbau Kassel), Januar 1946, Stadtarchiv Kassel, A.6.16.2,16.

10 Plan: Erich HEINICKE, Emil POHLE (Stadtplanungsamt Kassel), ohne Titel (aus der Serie: Stadtkern neuer Gattung), Ende 1944, Stadtarchiv Kassel, A.6.61.2,60

Alle in den Anmerkungen zitierten Pläne sind abgebildet und textlich ausführlich in ihrem historischen Kontext gewürdigt in: Folckert LÜKEN-ISBERNER, Große Pläne für Kassel 1919–1949, Projekte zu Stadtentwicklung und Städtebau, Marburg/L. 2016.

Der Herkules: 300 Jahre in Kassel

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