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Succubussmile

Nele Sickel

H

ier«, sagte Mutter und hielt mir einen Lippenstift vor die Nase. »Versteck damit dein Succubussmile, ehe du zur Beichte gehst.«

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das kühle Metall unserer Zimmertür, unterdrückte dabei ein Stöhnen. Am liebsten hätte ich gebockt wie früher als junges Mädchen. Nur hatten wir diese spezielle Diskussion mittlerweile zu oft geführt, als dass ich noch Spaß daran hätte haben können. Also nahm ich das blöde Ding einfach.

»Leihst du mir wenigstens deine Mirror-App zum Auftragen?«

Mutter verschränkte die Arme. »Wozu? Du willst doch nur noch mal sehen, wie voll und rot sie sind, ehe du sie verdeckst. Oder willst du kontrollieren, ob deine Wimpern immer noch so dicht sind? Ob das goldene Haar noch glänzt, hm?«

»Jetzt hör aber auf. Ich will es richtig machen, sonst nichts.«

»Du kriegst das schon hin. Kannst doch sonst immer alles allein.«

Wie ich sagte: Diskussionen waren völlig sinnlos. Also öffnete ich den Lippenstift, fand darin ein kränkliches Beige und schmierte mir das auf die Lippen. So entstellt lächelte ich Mutter an, bleckte die Zähne.

»Besser?«

»Kaum. Schlag diese verdammten Hexenaugen nieder, wenn du draußen bist, und lass die Haare unter der Kapuze.«

Wenn sie gewusst hätte … Ich seufzte bloß. »Schon klar. Wie immer.«

»Und bleib nicht so lange!«

»Nur so lange, wie der Herr Pfarrer mich dort haben will, Mutter.«

Ich wandte mich um, betätigte das Türterminal und schlüpfte hinaus, ehe ich mir einen weiteren Insult von ihr einfangen konnte.

Kaum war ich auf der Straße, sah ich die hohen Mauern der Cathedral vor mir aufragen. Grau wie die Häuser links und rechts, nur viel höher und mit einem großen, neongelb blinkenden Kreuz anstelle der unaufgeregten Werbetafeln in Pastelltönen, die auf diese Drogerie und jenes Restaurant hinwiesen. Eine Drohne summte leise über meinen Kopf hinweg. Zwei Männer und eine Frau in beigen Arbeitsoveralls warfen mir im Vorbeigehen neugierige Blicke zu. Ich schlug die Kapuze über das allzu blonde Haar und senkte den Blick auf den Asphalt zu meinen Füßen. So ungern ich tat, was Mutter mir auftrug, gerade heute war es keine gute Idee, aufzufallen.

Der Weg kam mir länger vor als sonst. Wieder und wieder spielte ich in Gedanken den Streit durch, den ich gerade vermieden hatte. Hörte mir an, wie verdorben ich doch wäre. Warf Mutter an den Kopf, dass – wäre ich wirklich ein Dämon, wie sie sagte – sie sich lieber fragen sollte, mit wem sie da herumgehurt hatte, um mich zu zeugen. Bekam darauf zu hören, dass ich die Hure sei, nicht sie.

Meine Handflächen wurden feucht. Ich ballte die Fäuste, versenkte sie so tief in den Manteltaschen, dass meine Knöchel über die groben Salzkörner kratzten, die sich da im Stoff verfangen hatten. Vielleicht hatte Mutter recht. Womöglich war ich verdorben, unrein. Aber dafür war ich wenigstens jemand. Mehr als ein betender, psalmenleiernder Schatten. Und ich wollte doch nichts Böses. Ich wollte nur endlich wissen, wie es war.

Noch gut fünfzig Meter von der Cathedral entfernt, trat ich bereits in ihren Schatten. Prompt heizte die Luft sich auf, wurde stickiger trotz des freien Himmels über meiner Kapuze. Der Asphalt füllte sich mit Füßen. Ich hielt den Blick gesenkt, die Hände in den Taschen. Mein Smartphone in der Mantelinnentasche drückte schwer gegen meine Brust. Den Lieferdienstflyer, den ich daneben geschoben hatte, spürte ich nicht. Hätte ich mich getraut, hätte ich danach getastet, hätte ihn herausgeholt und noch einmal die Wünsche nach Verbindung und Zärtlichkeit gelesen, die ich heimlich an den Rand gekritzelt hatte. Doch ich wagte es nicht. So kurz vor der Cathedral hatte die Stadt tausend Augen.

Weihrauch lag schwer in der Luft. Ich war immer wieder überrascht, dass man ihn nicht nebelhaft umherschweben sah, wenn man durch das gigantische Tor in den Vorraum trat. Ich stellte mich in die Schlange vor dem Spendenscanner, zückte mein Smartphone, berührte flüchtig eine raue Ecke des Flyers und versuchte, nichts als Erleichterung dabei zu fühlen, dass er noch da war.

Aus den offenen Löchern links und rechts im Boden klangen Klagelaute. Dort hungerten und dürsteten Sünder, weil sie ihre Spende nicht entrichtet hatten oder weil sie sich in der Kirche entblößt hatten oder – na ja, eben weil sie etwas getan hatten, was man in Gottes Haus nicht tat. Direkt unter mir kauerte eine Frau, die mich schmerzlich an meine Mutter erinnerte. Derselbe strenge Kurzhaarschnitt, die gleichen müden Schultern im mausgrauen Kleid. Sie klagte nicht, schaute nur voll stechender Reue herauf. Das Loch im Boden war so breit, die Zelle so niedrig, ich hätte mich mit dem Oberkörper hinunterhängen und sie heraufziehen können. Doch ich tat es nicht. Weil sie es wohl nicht gewollt hätte. Vor allem aber, weil ich nicht hergekommen war, um die Heldin zu spielen. Ich war hier, um etwas Verbotenes zu wagen – und hoffentlich mit heiler Haut davonzukommen.

Die Schlange rückte weiter. Ich kam an die Reihe, ließ mein Smartphone scannen und gab meine Einwilligung zur Spendenbuchung mit einem flüchtigen Daumendruck. Sonst machte ich mir immer Sorgen darum, wie hoch der gewünschte Betrag diesmal sein mochte, doch heute schaute ich gar nicht hin. Ich konzentrierte mich auf meinen Atem, auf meine Haltung. Ruhig jetzt, auch wenn mein Herz raste. Ich hatte das hier lange vorbereitet. Ich hatte den richtigen Mann gefunden, den richtigen Ort auch. Salz und Salbei waren gestreut, alle Zauber gewirkt, bis auf den letzten, den, den ich in meiner Mantelinnentasche trug. Wenn es einen richtigen Moment gab, dann war es dieser.

Ich atmete tief ein und aus. Der Weihrauch ließ mich husten.

So trat ich mit tränenden Augen in die Düsternis der Cathedral. Hohe Säulen erwarteten mich, kalter Beton, unruhiges Murmeln, Psalmen und hohles Echo. Vorn am Altar ragten die Windows auf – keine echten Fenster, sondern riesige, geschwungene Bildschirme, opulent und farbgewaltig zeigten sie Engel mit riesigen Flügeln und wenig Kleidung, manche in der Form vollbusiger Frauen, manche in der breitschultriger Männer. Die Windows strotzten von dem, was sonst in der Stadt keiner wagte: grelle Farben, sogar sündhaftes Rot, entblößte Körper, die rein waren, trotz allem, weil sie Seraphim und Cherubim gehörten und nicht uns sündigen Menschen. Mein Smartphone kannte nur eine Handvoll Pastelltöne und hätte mir kaum einen entblößten Knöchel gezeigt, geschweige denn einen Oberschenkel oder ein Schlüsselbein. Viele der ach so Gläubigen kamen wohl vor allem für den Anblick der Engel derart häufig zum Gebet. Gut. Solange sie die Windows anstarrten, ließen sie die Augen von mir und meinem Succubussmile, wie Mutter es nannte. Der Abdeckstift auf meinen Lippen juckte.

Ich hielt den Kopf gesenkt, klammerte mich an mein Smartphone und wanderte durch die Reihen der eng stehenden Stahlbänke bis zur dritten von hinten. Wir trafen uns immer auf der dritten von hinten. Dort setzte ich mich also. Das Metall war kalt, selbst durch meinen langen Mantel hindurch.

Ich ignorierte das Tuscheln um mich herum, die Mischung aus Furcht, Missgunst und Übereifer, die diesem Ort eine so unangenehme Energie verlieh. Auf meinem Smartphone rief ich eine Passage des Hohelieds Salomons auf und tat, als würde ich darüber meditieren.

Tatsächlich kannte ich die Worte auswendig. Fast alle. Hatte ich sie doch benutzt, um meinem Erwählten zu zeigen, was ich von ihm begehrte.

Früh wollen wir dann zu den Weinbergen gehen

und sehen, ob der Weinstock schon treibt,

ob die Rebenblüte sich öffnet,

ob die Granatbäume blühen.

Dort schenke ich dir meine Liebe.

Ich biss mir auf die juckenden Lippen. Ich fürchtete, hoffte, schwitzte. Vielleicht kam er ja gar nicht. Vielleicht hatte er heute keinen Dienst und ich dürfte noch etwas warten. Nur noch eine Nacht oder zwei, eine kurze Schonfrist …

»Wofür betest du, Tochter?«

Meine Hand am Smartphone verkrampfte sich beim Klang seiner warmen Stimme. Ich war mir nicht sicher, ob vor Freude oder vor Furcht.

Am liebsten hätte ich ihn nicht angesehen. Jeder falsche Blick konnte uns verraten. Doch ein Gespräch ganz ohne Blick wäre noch verdächtiger gewesen, also sah ich auf. Langsam, scheu, so wie Mutter es mich gelehrt hatte.

Ich nannte ihn Father, doch er war so jung wie ich. Unter dem weißen Chorhemd waren seine Schultern schmal, der Bauch ein wenig nach außen gewölbt. Fern von dem Bild der physischen Stärke, das die Engel in den Windows abgaben, durchdrang ihn etwas Besseres: Zärtlichkeit. Ich sah sie in seinem sanften Gesicht, in seinen ruhigen Bewegungen, in der geschickten Handarbeit, mit der er hier in der Cathedral alles an seinem Platz hielt. Er lächelte mich an und ich hätte gern zurückgelächelt. Nur aus Vorsicht ersparte ich etwaigen Zuschauern mein ach so verruchtes Succubussmile.

»Was ist, Tochter?«, fragte mein Erwählter und ließ sich neben mir auf der Bank nieder. »Bedrückt dich etwas?«

Ich senkte den Blick zurück auf mein Smartphone. »Ganz im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, dass heute ein besonderer Tag sein könnte. Ein Tag, an dem etwas Gutes passiert.«

»Nun, oftmals haben wir mit solchen Gefühlen recht. Nennen wir es himmlische Eingebung … Ich sehe, du liest in der Bibel. Eine bestimmte Stelle?«

Ich reichte ihm mein Smartphone. »Schaut selbst, Father.«

»Du, den meine Seele liebt«, las er vor, »sag mir: Wo weidest du die Herde? Wo lagerst du am Mittag? – Eine interessante Passage. Voller Fragen, die gewiss jeder von uns schon einmal auf den Lippen hatte. Weißt du eine Antwort darauf, Tochter? Deine persönliche Antwort, meine ich.«

»Es geht noch weiter. Swiped zur nächsten Seite.«

»Wozu soll ich erst umherirren bei den Herden deiner Gefährten?«, rezitierte er unbeirrt weiter, obwohl er nichts davon auf meinem Smartphone lesen konnte. Ich hatte dort eine Map versteckt, die Adresse für unser geheimes Treffen. »Wenn du das nicht weißt, du schönste der Frauen, dann folge den Spuren der Schafe, dann weide deine Zicklein dort, wo die Hirten lagern.«

Er gab mir mein Smartphone zurück und ich widerstand der Versuchung nachzusehen, ob er klug genug gewesen war, die Map direkt zu löschen.

»Salomons Hohelied spricht zu mir, Father. Mehr sogar noch, wenn Ihr es lest.«

»Du sehnst dich nach einer Vereinigung. Mit Gott. Das ist überdeutlich.«

»Ich … ja. Ich fühle mich bereit. Ich meine, so bereit man für so eine Vereinigung sein kann.«

»Gut.« Ich schaute nicht auf, aber ich hörte sein Smile. »Dann bin ich mir sicher, dass der Herr dich erhören und deinen Wunsch gewähren wird. Noch heute. Der Weg wird nicht leicht sein, aber wenn du ihn mit Mut gehst, wirst du dein Ziel gewiss erreichen. Wer weiß, vielleicht schon vor dem Nachmittagsgebet.«

»Das wäre fast zu schön, um wahr zu sein.«

»Sind das die Dinge, die Gott uns zuteilwerden lässt, nicht oft?« Er stand auf. »Ich überlasse dich damit wieder dem Gebet, Tochter. Mögest du finden, was du suchst.«

Sein Ministrantenrock raschelte, als er ging.

Ich schloss die Augen, faltete die Hände um das Smartphone, tat, als würde ich beten. Meine Gedanken aber hingen nicht bei Gott und schon gar nicht in der Cathedral. Sie ruhten auf den Decken, die ich in den letzten Wochen nach und nach an unseren geheimen Treffpunkt getragen hatte. Es war die Abstellkammer einer Schule, die mittlerweile seit fast zwei Jahren für Umbauarbeiten geschlossen war. Die Baustelle lag still, die wertvollen Arbeitsgeräte waren zu anderen Einsatzorten geschafft worden. Deshalb hingen auch keine Wachdrohnen in der Luft darüber.

Wir würden in wunderbarer Stille liegen. Nur mein Erwählter und ich, die Decken und unser Atem. Er würde durch den Eingang für die Jungen eintreten. Ich durch den für die Mädchen. Niemand würde uns zusammen sehen. Niemand würde zu uns hereinkommen. Sollte jemand anderes zur falschen Zeit neugierig werden, würden Salz und Salbei ihn von der Schwelle vertreiben.

Ich vertraute auf meinen Zauber. Auf die Kraft meiner Wünsche und meiner positiven Gedanken.

Am Eingang unseres Verstecks gab es eine Stelle, an der der Asphalt aufgeplatzt war und weiche Erde frei lag. Dort würde ich den Flyer mit meinen Worten von Zärtlichkeit und Vereinigung vergraben, würde ihn mein Sehnen tief in das Innere der Welt tragen lassen. Dann würde ich gehen, mich auf die Decken legen und endlich herausfinden, wie es sich anfühlte, begehrt und berührt zu werden. Ich würde meinen Körper erkunden, genauso wie seinen. Und wer weiß, vielleicht würde ich sogar seinen Namen erfahren. Ich würde …

Das Smartphone glitt mir aus den Händen. Ich schrak auf, versuchte es zu fangen, doch eine Hand an meiner Schulter presste mich zurück.

»Tochter«, sprach eine scharfe Stimme. »Sag, was hast du getan?«

Ich schaute auf, schrumpfte unter dem strengen Blick des Pfarrers. »Verzeiht«, krächzte ich. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«

»Tu nicht so. Ich habe schon länger ein Auge auf dich. Du versuchst, meine Ministranten zu verführen.«

»Was?« Das Blut toste mir in den Ohren. Der Schweiß machte meine Handflächen glitschig. »Aber ich …«

»Überleg dir gut, was du als Nächstes sagst.« Der Pfarrer streckte die offene Hand aus und der Ministrant zu seiner Linken reichte ihm mein Smartphone. »Lügen werden dir nicht helfen.«

»Ich weiß nicht, was Ihr hören wollt«, log ich verzweifelt.

Da waren nur Psalmen und Bibelverse auf meinem Smartphone. Dazu eine Handvoll Nachrichten von Mutter. Nichts, was mich in Verruf bringen konnte, wenn mein Erwählter nur die Map gelöscht hatte. Er musste einfach.

Der Pfarrer swipete und swipete. Ich warf einen nervösen Blick durch die Cathedral, suchte nach einem Ausweg, einem freundlichen Gesicht. Doch da war nichts.

»Ah, da haben wir es ja. Willst du mir das erklären?«

Er drehte mir das Smartphone zu, ließ mich den Beweis meiner Schuld sehen. Es war tatsächlich meine Map. Das war der Bildausschnitt, den ich gewählt hatte, die gleichen pastellvioletten Häuser … Nur das Zielkreuz war gewandert, befand sich jetzt etliche Straßenzüge südlicher als zuvor. Mein Erwählter musste es neu platziert haben. Fool!

»Hier.« Der Pfarrer reichte mein Smartphone an den Ministranten weiter. »Weit kann er noch nicht sein. Nimm dir Hilfe mit. Sucht ihn und bringt ihn zurück!«

Der Ministrant nickte und verschwand.

Noch ein Blick durch die Cathedral. Die meisten Betenden hatten ihre Köpfe extra tief gesenkt, doch das Murmeln war leiser geworden. Sie lauschten. Kaum würden sie die Cathedral verlassen, würden sie sich die Mäuler über mich zerreißen. Und dann würde irgendwer meine Mutter ins Bild setzen …

»Du bist still geworden«, sagte der Pfarrer. »Siehst du nun also ein, Mädchen, dass du vom Weg abgekommen bist? Dass du gesündigt hast?«

»Ich verspreche Euch, ich wollte niemandem etwas Böses.«

»Darüber wirst du im Loch nachdenken können.«

Ich starrte ihn an, wollte protestieren, doch die Worte blieben mir auf den Lippen hängen. Was hatte ich erwartet? Drei Ave-Maria und alles wäre wieder gut? Es waren schon Leute für weniger ins Loch gewandert.

Ich stand auf, folgte, sträubte mich nicht. Es hätte keinen Sinn gehabt.

Der Keller der Cathedral war niedrig. Deutlich weniger beeindruckend als die große Halle darüber und entschieden weniger bunt. Der Pfarrer brachte mich in eine Zelle so eng, dass ich mit drei Schritten von einer Ecke zur gegenüberliegenden kam. Licht fiel nur aus dem Loch in der Decke, von dem aus die Gläubigen aus dem Vorraum der Cathedral anklagend und sensationsgeil zu mir herunterschauten. Eine Räucherschale stand an der unverputzten Betonwand. Ihr Weihrauch hing so schwer in der Luft, dass ich meinte, ihn im Schummerlicht tatsächlich nebelig wabern zu sehen.

»Meditiere über deine Sünden«, sagte der Pfarrer. »Und dann bitte Gott um Vergebung, Succubus!«

Jetzt war es auch schon egal. Ich antwortete ihm mit einem Lächeln voller Zähne.

Er schnaubte, verließ die Zelle und schlug die Tür ins Schloss. Mein Smartphone behielt er.

Einen Augenblick lang starrte ich wie gelähmt auf die geschlossene Tür. Dann drückte ich dagegen. Sie gab nicht nach. Eine Klinke existierte nicht und auch kein Terminal für einen Code. Dort kam ich also nicht raus, bis mich nicht jemand holte.

Allerdings gab es da noch das Loch in der Decke. Ich trat darunter, ignorierte die ungnädigen Blicke der Menschen über mir, streckte mich, so hoch ich konnte. Vergeblich. Auch wenn ich sprang, fuhren meine Finger nur durch die dicke, weihrauchschwangere Luft. Noch mal. Noch mal. So hoch ich konnte. Keine Chance.

Eine Frau in schmutzigen High Heels stand oben und lachte mich aus.

Das war es also. Ohne Hilfe kam ich nicht heraus und wenn ich den herablassenden Blick der verdammten Frau zum Maßstab nahm, dann konnte ich auf Hilfe lange warten.

Seufzend lehnte ich mich gegen den kalten Beton und zwang mich, nachzudenken. Es musste einen Weg geben. Es musste einfach. Ich hatte schon zu viel verloren, um aufzugeben. Mutter würde mich umbringen. Da sollte ich mich vorher wenigstens amüsieren.

Ich stieß mich von der Wand ab, ging mit drei Schritten durch die Zelle.

Mein Erwählter wartete am geheimen Treffpunkt auf mich. Da war ich mir sicher. Wieso sonst hätte er fliehen sollen? Wieso sonst hätte er das Zielkreuz auf der Map verschoben? Er hatte ihnen einen Beweis dagelassen. Etwas, dem sie nachjagen konnten. Deshalb ließen sie mich hier schmoren, ohne Verhör, ohne Guards. Eine bessere Chance zur Flucht würde ich nicht bekommen.

Drei Schritte zurück.

Meine Mittel waren begrenzt. Ich hatte meinen Mantel, doch es gab keine Stelle oben am Loch, wo ich ihn hätte befestigen können, keine Möglichkeit, daran hinaufzuklettern. Damit blieben mir das bisschen Salz in den Taschen und der Flyer mit meinen Wünschen für eine erfüllte Begegnung. Zaubermittel, klar, aber ich hätte nicht gewusst, wie ich damit eine Leiter hätte erschaffen können.

Noch mal drei Schritte durch die Zelle, wieder und wieder. Im Laufen rieb ich mir die Farbe von den Lippen, lächelte mein trotziges Succubussmile ins Dämmerlicht hinein.

Als Mutter angefangen hatte, mich Hexe zu nennen, hatte ich beschlossen, eine zu werden. Und entgegen allen Aberglaubens hatte das nichts mit satanischen Riten zu tun. Nur mit ein paar simplen Zutaten und guten Wünschen.

Jetzt nannten sie mich Succubus. Da wurde es wohl Zeit, mich unter die Dämonen zu begeben.

Ich hielt inne, schloss die Augen, atmete flach, um dem Weihrauch zu entgehen, konzentrierte mich.

Noch nie vorher hatte ich etwas beschworen. Trotzdem war ich mir sicher: Wenn es einen Ort dafür gab, dann war es dieser hier. All die Menschen mit ihrem Glauben, ihren unterdrückten Gelüsten, ihren unausgesprochenen Wünschen und den unerfüllten Hoffnungen. All die brodelnde Energie. Wäre ich ein Dämon, wäre ich nie weit von der Cathedral.

Zuerst brauchte ich ein Opfer.

Die meisten Leute denken an Blut und geschlachtete Tiere, wenn sie von Zauberopfern hören. Manche sogar an Mord. Doch das ist Unsinn. Eine echte Hexe schadet niemandem. Sie gibt etwas von sich selbst auf, um ihren Zauber zu wirken – um zu zeigen, dass es ihr ernst ist.

Ich hatte nicht viel. Nur meinen Flyer. Der Gedanke, ihn wegzugeben, behagte mir gar nicht. Er war für einen letzten Zauber vor der großen Vereinigung bestimmt. Er sollte machen, dass alles klappte, und mehr noch: dass es schön wurde. Er sollte verhindern, dass ich verletzt wurde. Er war meine Safety. Ich brauchte ihn.

Bedauerlicherweise machte ihn das zum idealen Opfer.

Es half nichts. Was nützte mir Safety für ein Treffen, zu dem ich nicht erscheinen konnte?

Wehmütig zog ich den Flyer aus der Mantelinnentasche und kniete mich damit neben die Räucherschale. Dort schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf das, was ich mit meinem Zauber erreichen wollte. Während ich den Flyer in die Glut drückte, malte ich mir einen Dämon der Sinnlichkeit aus. Ich versuchte mir vorzustellen, was meine Mutter und alle anderen in mir sahen. Die Verführerin mit den roten Lippen, den dichten Wimpern und den blonden Locken. Doch die Idee blieb abstrakt, sprach nicht zu mir.

Also ließ ich meine Gedanken treiben, fühlte nach Begehren, wie ich es kannte. Das Bild eines Mannes drängte sich in mein Bewusstsein. Mit nackter Brust und breiten Schultern, so wie sich sonst nur die Engel zu zeigen wagten. Stumm rief ich ihn herbei. Ich öffnete mich, ließ meine eigene Lust, mein unerfülltes Verlangen durch meinen Körper wallen. Meine Brüste spannten. Meine Lippen kribbelten voller Ungeduld. Das sehnsuchtsvolle Ziehen in meinem Unterleib tat beinahe weh.

»Komm zu mir!«, wisperte ich. »Ich brauche dich!«

Die Flammen leckten am Flyer hinauf und verbrannten mir die Finger. Ich zog sie nicht weg.

»Komm!«

»Es wäre einfacher, wenn du mir hilfst«, sagte eine samtige Stimme.

Ich schlug die Augen auf, zog die Hand aus dem Feuer und starrte auf den Mann vor mir. Er sah tatsächlich aus wie ein Engel. Ein Engel ohne Flügel. Groß und stark. Nackt. Sein Haar war golden wie meins und in seinen warmen Augen loderte freudige Begierde.

Ich stemmte die Hand gegen die Wand, ließ den Beton meine Wunde kühlen und zog mich gleichzeitig auf die Füße.

»Du hast mich gerufen, Hexe. Hier bin ich.« Er beugte sich über mich, schlug meine Kapuze zurück, strich mir durchs Haar, betrachtete mich forschend, grinste. »Was sollen wir nun miteinander anstellen?«

In der Enge der Zelle standen wir Brust an Brust. Ich hatte Schwierigkeiten zu denken, Schwierigkeiten zu atmen.

»Ich … ich brauche deine Hilfe.«

»Das spüre ich.« Er legte seine Hand ungeniert an meinen Bauch. »Ich helfe gern.«

»Erst –«, begann ich und verlor den Faden. Seine Hand war so warm. Sein Smile so verheißungsvoll. Ich schloss die Augen, versuchte es erneut. »Erst einmal solltest du dafür sorgen, dass die dort oben dich nicht bemerken. Sonst bleiben wir nicht lange ungestört.«

»Wenn es weiter nichts ist. Ich versichere dir, kein Mensch schaut zu uns herunter.« Er rückte noch näher. »Wie können wir einander helfen, Hexlein? Was denkst du?«

Ich spürte seinen Atem auf meinen Lippen, seine Hand an meinem Bauch. Sie wanderte tiefer.

»Du … bist ein Incubus«, sagte ich dämlich.

»Was du nicht sagst.« Ein leises Lachen.

Wie warm seine Hand wohl erst wäre, wenn kein Stoff mehr zwischen seiner Haut und meiner lag?

Jetzt bloß nicht schwach werden!

Mühsam rief ich mir das Bild meines Erwählten vor Augen. Konzentrierte mich auf seinen freundlichen Blick, die weichen Linien seines Körpers, die Hände, von denen ich mir so viel geschickte Zärtlichkeit versprach. Sie waren vielleicht weniger verführerisch, doch sie waren echt.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und sah den Incubus an. »Du stehst doch für die Begierde. Für Lust und Leidenschaft.«

»So sagt man.«

»Dann hilf mir, zu meinem Geliebten zu gelangen!«

»Wozu brauchst du den noch, jetzt, da du mich hast?«

Sein Kuss auf meiner Wange war überraschend zart. Ein Hauch, der den schweren Weihrauch vertrieb und mir kribbelnde Gänsehaut vom Kinn bis zum Ohr jagte.

»Ich brauche ihn nicht, ich will ihn«, sagte ich mit aller Entschlossenheit, die ich noch aufbringen konnte. »Ich habe ihn gewählt.«

»Du ahnst ja gar nicht, was du verpasst.« Seine Hand drängte tiefer, und ich war dem dicken Mantelstoff zugleich dankbar und böse, hielt er den Incubus doch davon ab, mich weiter zu erkunden.

Ich kniff die Augen zusammen, sammelte mich, atmete ein und aus. Dann schaute ich wieder auf. »Das wird mein erstes Mal sein und ich möchte es mit einem Menschen verbringen.«

»Mit einem Menschen? Wie langweilig.« Der Dämon schob mich rücklings gegen die Wand. Mit der freien Hand streichelte er meine Wange.

»Ich … ich will es so«, hauchte ich wenig überzeugend.

»Und ich will dich.« Mit sanfter Gewalt bog er meinen Kopf zur Seite, küsste meinen Hals.

Eines war klar: Wenn ich ihn so weitermachen ließ, würde ich verlieren. Erst diese Diskussion und dann mich in seiner Berührung.

Ich hatte nichts mehr. Kein Smartphone, keinen Wünsche-Flyer und wenn das so weiterging, auch bald keinen Mantel mehr. Nur noch mein Succubussmile.

Was blieb mir also sonst? Nur die Flucht nach vorn.

Ich hob meine Hände an seine Wangen und zog seinen Kopf zurück, sanft, vorsichtig. Dann lächelte ich ihn an.

»Hab ich dich überzeugt?«, fragte er mit wölfischem Grinsen.

»Davon, dass du interessante Gesellschaft sein kannst? Durchaus. Ich aber auch.« Ich streckte mich hoch und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. »Wenn ich es will.«

»Du willst. Ich kann dein Verlangen spüren.«

Ich ließ meine Hände seinen Nacken entlang gleiten, strich über seine Schultern, knetete sie ohne übertriebene Vorsicht und konnte nur hoffen, mich dabei nicht allzu clumsy anzustellen. »Du spürst mein Verlangen, aber es ist das Verlangen nach einem anderen Mann.«

Er bleckte die Zähne, tarnte es hinter einem neuerlichen Grinsen. »Das kann ich ändern.«

»Vielleicht.« Ich tastete mich weiter. Die festen Brustmuskeln hinab zu seinem nackten Bauch. »Doch du weißt gewiss besser als jeder andere, wie mächtig eine unerfüllte Sehnsucht ist. Hieltest du mich hier, ich wäre dir ausgeliefert. Aber sobald ich aus diesem Loch herauskäme, würde ich all meine Zauberkraft einsetzen, um meinen Erwählten zu bekommen. Keine Zeit, um mit Dämonen zu spielen.« Jetzt war ich es, die ihre Hand tiefer gleiten ließ.

Das Feuer in seinen Augen loderte gefährlich. »Du nimmst dir einiges heraus, Hexe.«

»Ich bin verliebt.«

»Du begehrst. Das ist etwas völlig anderes.«

»Davon weiß ich noch nichts. Lass es mich herausfinden! Heb mich nach oben! Dafür rufe ich dich, wenn es mich nach dir verlangt, nicht nach einem anderen.«

Er lehnte sich näher, presste seinen Körper gegen meine Hand, atmete meinen Atem ein. »Ist das ein Versprechen?« Ich spürte seine Worte auf meinen Lippen.

Und auch wenn ich Angst hatte, darin zu verbrennen, hielt ich seinen Blick. »Das ist es. Hilf mir jetzt und wir werden uns wiedersehen, Incubus. Wenn ich meine Erfahrungen gemacht habe. Wenn ich bereit bin.«

»Daran werde ich dich gern erinnern.«

»Tu das. Aber hilf mir! Jetzt!«

Endlich rückte er von mir ab. Ich stieß mich von der Wand ab, straffte die Schultern und gab mir alle Mühe, nicht zu zeigen, wie sehr ich die plötzliche Distanz bedauerte. Es war zu kühl. Die Weihrauchluft schwer und zeratmet.

»Komm!« Er hielt mir die gefalteten Hände hin.

Ich trat darauf, fasste ihn bei den starken Schultern, hielt mich fest, während er mich in die Höhe stemmte. Dann griff ich nach dem Rand des Lochs und zog mich herauf.

Die drei Männer, die dort gerade an der Spendenschlange warteten, sahen mich entsetzt an. Sie redeten aufgeregt durcheinander. Einer lief sogar in die Cathedral, ohne zuvor gespendet zu haben. Gewiss rief er den Pfarrer.

Zeit zu verschwinden.

Vorher griff ich allerdings noch einmal in meine Manteltasche, kratzte nach den letzten Salzkörnern darin.

»Danke!«, flüsterte ich und war mir doch sicher, dass der Incubus jedes Wort verstand. »Wir sehen uns wieder.« Mit einer flinken Bewegung und zielgerichteten Gedanken streute ich das Salz um die Öffnung, verhinderte so, dass er mir folgen konnte. »Wir sehen uns wieder, sobald ich es wünsche.«

Der Dämon bleckte die Zähne zu einem Grinsen.

Ich wandte mich um, schlug die Kapuze über das Haar und verschwand in der Menge. Zu meinem Erwählten. Um herauszufinden, was ich bisher versäumt hatte. Vielleicht würde mehr daraus werden als ein paar geborgte Stunden. Eine Beziehung im Verborgenen womöglich. Liebe. Vielleicht auch nicht. Wer wusste das schon?

Nur eins war sicher: Irgendwann würde ich den Incubus zu mir rufen. Würde mich ihm hingeben und empfangen, was ich heute ausgeschlagen hatte. Nicht weil ich ihn jetzt schon vermisste, Unsinn. Aber was soll ich sagen? Eine Hexe hält nun einmal ihr Wort.


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