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2.Welche Voraussetzungen sind gemeint und warum kann man sie als eurozentrisch betrachten?
ОглавлениеIm Wesentlichen meine ich zwei Voraussetzungen: Erstens geht es um die Zeit- und Geschichtsauffassung, die der Hinweis auf die „spätmodernen Zeiten“ voraussetzt. Hierzu zwei Anmerkungen:
1) Im Kontext einer mitteleuropäischen katholischen Ortskirche mag richtig und sinnvoll sein, wenn katholische Theologen die kulturphilosophische Kategorie „Spätmoderne“ zeitdiagnostisch gebrauchen, um den sozialen, kulturellen und geistigen Wandel, den die Entwicklung der Geschichte in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat, zusammenfassend zu charakterisieren. Nur: Dabei sollte klar sein, dass man mit dem Titel „Spätmoderne“ eigentlich nur die Entwicklung der hegemonialen kapitalistischen Gesellschaften des so genannten „globalen Nordens“2 benennen kann. Es ist doch eine Kategorie, die regionale Erfahrungen reflektiert, und dies zudem mit regionalen wissenschaftlichen Mitteln tut. Daher wäre es eine unzulässige Extrapolation, diese Kategorie als den Spiegel nehmen zu wollen, in dem sich die Situation der historischen Gegenwart der Menschheit insgesamt widerspiegelt. Ein explizites Bewusstsein von der phänomenologischen bzw. lebensweltlichen Grenze der Aussagekraft der Kategorie „Spätmoderne“ ist umso wichtiger für den Sinn des Fragens katholischer Theologie, als heute die historische Gegenwart der Mehrheit der Katholiken nicht unter den Bedingungen „spätmoderner Zeiten“ gelebt wird.
2) Im vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist aber, dass diese als mögliche Gefahr monierte Tendenz zum extrapolierenden Gebrauch der Kategorie „Spätmoderne“ im Grunde genommen erst dadurch möglich wird, dass man annimmt, dass „spätmoderne Zeiten“ für ein „weiter sein“, für die „neueste“ Entwicklungsstufe im Bewusstsein der Menschheit stehen; eine Annahme, die zugleich besagt: Auch wenn „Spätmoderne“ heute noch nicht die Gegenwart aller Menschen prägen würde, so wäre sie das Bild der Zukunft, auf die der Lauf der Geschichte der Menschheit hinsteuert. Das ist für mich der springende Punkt, weil er die angesprochene implizierte Zeit- und Geschichtsauffassung verdeutlicht. Und, wie gesagt, mein Verdacht ist, dass sie europäisch modern und eurozentrisch ist, weil dabei nur jene Zeitauffassung berücksichtigt wird, die sich mit der mitteleuropäischen, kapitalistisch organisierten Moderne durchsetzt und die Zeit nicht nur linear versteht, sondern auch und vor allem der Logik der beschleunigenden Chronologie des programmierten „Fortschrittes“ unterwirft. Die Erfahrung der „Memoria-Zeit“, die so grundlegend sowohl bei anderen Kulturen als auch bei der christlichen Tradition ist, findet hier keinen Platz. Mehr noch, sie muss im Lichte der Zeit des „Fortschrittes“ als ein Störfaktor erscheinen.
Im Zusammenhang dieser Anmerkung sei noch nebenbei ein Aspekt erwähnt. Zwei Mal wird im Einführungstext auf eine gewisse Opposition bzw. auf eine relativ deutliche Grenzlinie zwischen „Tradition“ und „Gegenwart“ angespielt, die aus meiner Sicht ebenfalls nur vor dem Hintergrund der Voraussetzung der europäisch modernen linearen Zeitauffassung verständlich ist. Setzt man dieses Verständnis nicht voraus, so ist nicht evident, dass man von Tradition und Gegenwart als von zwei verschiedenen Größen sprechen muss. Für Kulturen zum Beispiel, die ihre Mitte in der memoria haben, ist die Gegenwart Zeitigung von Tradition und umgekehrt. Aus der Sicht dieser Kulturen, die seit der mitteleuropäischen Moderne als „traditionelle“ Kulturen abschätzig apostrophiert werden, muss man daher eher von einer gegenseitigen Beziehung der Notwendigkeit zwischen Tradition und Gegenwart sprechen. Tradition drängt notwendig auf Gegenwart hin und Gegenwart bleibt geschichtlich notwendig auf Tradition verwiesen.3
Zweitens spreche ich vom Wissenschaftsverständnis, das für mein Dafürhalten die Voraussetzung für den Hinweis auf die Verwiesenheit „wissenschaftlicher“ Theologie auf Philosophie und für die damit implizit formulierte Forderung nach einem interdisziplinären Gespräch zwischen beiden Disziplinen bildet. Hierzu auch ein kurzes Wort.
Zweifellos drücken dieser Hinweis und die damit verbundene Forderung ein berechtigtes Anliegen aus. Das ist nicht meine Frage. Worauf ich kritisch aufmerksam machen möchte, ist ein anderer Aspekt, der sich, wie gesagt, aus dem hier implizit wirkenden Wissenschaftsbegriff ergibt. Auch wenn uns heute das vorgebrachte Anliegen des interdisziplinären Gesprächs nicht nur logisch, sondern zudem gar wünschenswert erscheinen mag, so muss doch andererseits bedacht werden, dass es nur unter den Bedingungen eines bestimmten Wissenschaftsbegriffes und seiner Kultur wissenschaftlichen Arbeitens als sinnvoll und notwendig erscheint.
Auch an dieser Stelle hätte man methodische und inhaltliche Relativierungen und/oder Einschränkungen zumindest andeuten sollen. Es sei denn, wie mein Verdacht eben unterstellt, man lässt sich dabei doch von einer Auffassung von Wissenschaft leiten, zu deren Selbstverständnis gerade die Vorstellung gehört, dass menschliche Erkenntnis, will sie „exaktes“ Wissen hervorbringen, sich in methodisch autonomen und so auch mit in ihrem Erkenntnisinteresse reduzierten Rationalitätsformen arbeitenden „Fachdisziplinen“ spezialisieren muss. Nach dieser Auffassung, die ich für eine moderne europäische halte, ist Wissenschaft, worauf bereits Martin Heidegger4 hingewiesen hat, Forschen, und zwar spezialisiertes, disziplinmäßiges Forschen. Und das besagt weiter, dass wissenschaftliche Forschung ihr Wissen durch Isolieren und Abstrahieren gewinnt, was wiederum bedeutet, dass ihr Wissen einseitig ist, wie Max Weber zugegeben hat.5
Im Horizont der Vorherrschaft dieses Wissenschaftsbegriffes muss daher der Gedanke der Interdisziplinarität entstehen. Und er entsteht gerade als der Gedanke einer Perspektive für die Reparatur der Fragmentierung menschlicher Erkenntnis. Dort aber, wo Wissenschaft diese neuzeitliche mitteleuropäische „forschende“ Wendung nicht mitvollzieht, ist dieser Gedanke alles andere als selbstverständlich.6 Der Rekurs darauf sollte also erklärt und sein Anliegen im Spiegel anderer ganzheitlicher Wissenschaftskulturen überprüft werden.7
Aber im Rahmen dieser Bemerkung ist es nicht nötig, weiter auf das nach meiner Leseart hier vorausgesetzte Wissenschaftsverständnis einzugehen, zumal mit meiner diesbezüglichen kritischen Anfrage keine grundsätzliche Debatte über den heute vorherrschenden Wissenschaftsbegriff intendiert wird, sondern lediglich diese punktuelle These zur Diskussion gestellt werden soll: Die Erörterung der Frage, die im Mittelpunkt des Symposiums steht, verlangt die Überwindung des Verstehenshorizonts, der die Forderung nach einem interdisziplinären Gespräch zwischen Philosophie und Theologie nötig macht, weil die Frage „was fehlt?“, wenn wir sie richtig stellen, weder nach Wissenssegmenten noch nach Realitätssegmenten noch nach der Möglichkeit der Akkumulation fragt. Aber wissen wir, was wir fragen, wenn wir fragen, „was fehlt?“? Das ist mein zweiter Punkt.