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2.2 Das Bundesverfassungsgericht in der Tradition des religionsoffenen und kirchenfreundlichen Grundgesetzes

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Wie bereits erwähnt, stellt sich die Ausgangslage für das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich anders dar. Es operiert in einem gewachsenen und gefestigten verfassungsrechtlichen Rahmen, der im Falle des Religionsrechts bis in das Jahr 1919 zurückreicht. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften ist in Art. 137 Abs. 3 WRV garantiert und steht dementsprechend im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, die bis heute maßgeblich durch eine Entscheidung aus dem Jahr 198516 geprägt wird.

Es gibt gute Gründe dafür, diese religionsoffene Tradition für die Bewältigung der gegenwärtigen Integrationsaufgaben in Deutschland fortzuschreiben.17 Es ist aber auch offensichtlich, dass dies nicht überall und ganz einhellig so gesehen wird, sondern dass vielmehr durchaus unterschiedliche Positionen über den richtigen Umgang mit dem Thema „Religion“ in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten in Deutschland bestehen. Man muss insoweit nur an die Diskussionen um muslimischen Religionsunterricht oder islamische Theologie an staatlichen Universitäten erinnern, von Kopftüchern in Schule oder Gerichtssaal ganz zu schweigen. Es war nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht selbst, das – durch seinen Zweiten Senat – in seiner ersten Kopftuchentscheidung aus dem Jahr 2004 eine auf stärkere Trennung und auf Distanz ausgerichtete Neutralitätskonzeption ins Spiel gebracht hatte,18 inzwischen aber mit der – vom Ersten Senat beschlossenen – zweiten Kopftuchentscheidung wieder den offenen und religionsfreundlichen Grundcharakter des Grundgesetzes betont.19

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen religionsverfassungsrechtlichen Entwicklungen wirkt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum kirchlichen Arbeitsrecht aus dem Jahr 2014 merkwürdig aus der Zeit gefallen. Die spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts intensiv geführte Debatte um den richtigen Umgang mit Religion, insbesondere mit dem Islam, spiegelt sich in der Entscheidung auch nicht ansatzweise wider. Das Gericht zitiert mit großer Selbstverständlichkeit die staatskirchenrechtlichen Klassiker aus der Literatur und aus seiner Rechtsprechung aus den 1970er und 1980er Jahren. So heißt es etwa unter Berufung auf die berühmte Lumpensammler-Entscheidung aus dem 24. Band20:

„Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als korporative Ausübung von Religion und Weltanschauung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG anzusehen ist, muss der zentralen Bedeutung des Begriffs der "Religionsausübung" durch eine extensive Auslegung Rechnung getragen werden.“21

Wenig vorher heißt es:

„Der Staat erkennt die Kirchen in diesem Sinne als Institutionen mit dem originären Recht der Selbstbestimmung an, die ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten.“22

Auffällig ist auch, dass die Entscheidung – wie auch an der zitierten Stelle – fast ausschließlich von den „Kirchen“ spricht. Der Begriff der Religionsgemeinschaften wird nur sehr sparsam verwendet.23 Macht man aber mit der Gleichheit aller Religionen (und Weltanschauungen, Art. 137 Abs. 7 WRV) ernst (und diese Gleichbehandlung ist ausdrücklicher Bestandteil der Weimarer Bestimmungen, die von der „Kirche“ nur im Kontext des Verbots einer Staats “kirche“ sprechen, im Übrigen aber die Begriffe Religionsgesellschaft und Weltanschauungsgesellschaft verwenden), dann müssen sich die Aussagen für alle Religionen und Weltanschauungen verallgemeinern lassen. Aber kann man das so ohne Weiteres annehmen? Hätte das Gericht wirklich die Wendungen vom „originären Recht der Selbstbestimmung“ und von der „ihrem Wesen nach vom Staat unabhängigen Gewalt“ mit der gleichen Selbstverständlichkeit auch für Moscheegemeinden formuliert? Hätte es vor dem Hintergrund der Debatten um Kopftuch und Burka auch mit Blick auf den Islam eine „extensive Auslegung der Religionsfreiheit“ gefordert?

Mit dieser kritischen Betrachtung der Entscheidung aus dem Jahr 2014 soll in keiner Weise die Grundprämisse von der großen Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften in Frage gestellt werden und es soll auch nicht bezweifelt werden, dass dem Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft eine zentrale Bedeutung zukommen muss.24 Gerade wenn der Staat seinen Charakter als „säkularer Staat“ bewahren will (und dies zu tun ist in einer religiös pluralen Gesellschaft unerlässlich)25, dann darf er sich nicht zum Interpreten von Glaubenslehren machen und darüber entscheiden, „was die wahre Religion fordert oder die Religion in Wahrheit fordert.“26 Auch insoweit liefert die Chefarzt-Entscheidung aus dem Jahr 2014 zweifelhafte Passagen. Das Gericht erweckt zumindest in den Formulierungen den Eindruck als mache es sich die Konzepte der „tätigen Nächstenliebe“27 und der christlichen Dienstgemeinschaft selbst zu eigen.28

Umgekehrt führt aber eben auch kein Weg daran vorbei, dass bei kollidierenden Grundrechtspositionen am Ende eine staatliche Stelle eine Entscheidung treffen muss. Dieser Rechtsschutzaspekt wird in der zitierten Entscheidung des EGMR deutlicher akzentuiert als es das Bundesverfassungsgericht in seiner Darstellung der Rechtsprechung des EGMR wahrhaben will,29 wenn es betont, das staatliche Gericht muss „bei der Gewichtung religiös geprägter Abwägungselemente (z.B. spezifische Nähe der Tätigkeit des Arbeitnehmers zum Verkündigungsauftrag) den Standpunkt der verfassten Kirche und Religionsgemeinschaft seiner Entscheidung zugrunde legen, sofern es hierdurch nicht in Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung gelangt“.30

Insgesamt hat das Bundesverfassungsgericht 2014 eine Gelegenheit verpasst, der grundsätzlich begrüßenswerten offenen Haltung gegenüber dem religiösen Selbstverständnis eine moderne und verallgemeinerungsfähige Begründung zu verleihen. Gerade weil fast ausschließlich von den Kirchen (statt allgemeiner von Religionsgemeinschaften spricht) die Rede ist, liest sich die Entscheidung wie ein Sonderrecht für die christlichen Kirchen. Der Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass sich das Gericht zwar mit der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzt, aber das Antidiskriminierungsrecht der Europäischen Union mit keinem einzigen Wort erwähnt, obwohl das AGG und die Richtlinie 2000/78/EG erkennbar einschlägig waren und im fachgerichtlichen Verfahren eine erhebliche Rolle gespielt hatten.31 Dass man mit solch einem „Retrotrip mit Variationen“32 vor dem EuGH kein Gehör gefunden hat, darf eigentlich niemanden überraschen.33

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